Kapitel 33 - Teestunde

73 16 3
                                    

»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte ich die ältere Dame, während ich neben ihr herlief. Sie hatte einen erstaunlich schnellen Schritt.

»Mein Name ist Judith Parker, aber du kannst mich Judy nennen.« Sie lächelte mich freundlich an.

Im Gegenzug wollte ich ihr meinen Namen verraten, doch bevor ich einen Laut von mir geben konnte, hob sie eine Hand. »Deinen Namen kenne ich bereits, Kaycie Miles.«

Ich schloss den Mund wieder. Erstaunt fuhren meine Augenbrauen in die Höhe. »Woher kennen Sie meinen Namen?«

Erneut lächelte Judy, diesmal geheimnisvoll. »Ich bin alt, aber nicht dumm.«

Wir schlugen die entgegengesetzte Richtung zu meinem Zuhause ein. Der Hafen lag bereits weit hinter uns. Bald endete die Promenade und führte uns in ein ganz anderes Viertel: Die Straßen waren breiter, die Laternen um einiges moderner als in meiner Umgebung und die Häuser teilweise so groß wie Hotels. Einige konnte man kaum hinter den hohen Mauern und Zäunen erkennen – was wohl auch Absicht war. Vor der einen oder anderen Einfahrt parkten teure Wagen, deren Lack perfekt wie einer Werbung entsprungen in der Sonne glänzte. Wir befanden uns eindeutig in der wohlhabenden Gegend.

Von hier aus hatte man sogar eine wunderbare Aussicht auf den Strand und das Meer, das sich dahinter erstreckte. Staunend betrachtete ich die imposanten Gebäude, die zu allen Seiten über mir aufragten, und ich musste zugeben, dass ich bei diesem Anblick ein wenig neidisch wurde. Da kam mir unser Haus klein und nichtssagend vor, obwohl wir einen ausreichenden Garten mit Pool besaßen, was ich keinesfalls als Selbstverständlichkeit betrachtete. Schwimmen konnte ich seit Kurzem darin sowieso nicht mehr. Mom und Zoey kannten nun mein Geheimnis, dennoch fühlte ich mich dem Meer weitaus enger verbunden. Der Pool hingegen gab mir das Gefühl eingesperrt zu sein.

Ob Mrs. Parker hier ein Haus besaß? Arm schien sie, ihrer Kleidung nach zu urteilen, jedenfalls nicht zu sein. »Wohnen Sie etwa hier?«, fragte ich nach einer Weile, vor Neugier ganz hibbelig.

Judy verzog die Lippen schon wieder zu einem geheimnisvollen Lächeln, feine Fältchen bildeten sich um ihre Mundwinkel. »Nicht ganz«, antwortete sie, »aber wir sind fast da«, fügte sie über ihre Schulter hinweg zu.

Schließlich erreichten wir eine Straße, die näher an den Strand hinführte. Dort hielt Mrs. Parker vor einem niedlichen Haus an. Es erinnerte mich an ein englisches Cottage, was den Stil der umliegenden Häuser dezent verfehlte. Aber zu Mrs. Parker passte es allemal besser als eine dieser protzigen Villen. »Viele der umliegenden Gebäude, die du hier siehst, gab es noch nicht als ich dieses Haus zusammen mit meinem Mann errichtet habe«, erklärte sie auf meine unausgesprochene Frage hin.

Die Fassade ihres Heims bestand aus dunkelgrauem Ziegelstein, der schon seit Jahrzehnten Wind und Wetter trotzte. Das Dach war mit Stroh ausgelegt und um das Haus erblühte ein kleiner Garten, der wie ein winziges Paradies wirkte. Allerlei Kräuter und Sträucher sowie Bäume, die Obst und Zitrusfrüchte trugen, waren liebevoll eingepflanzt worden. Ich entdeckte sogar einen kleinen Teich, indem Fische gemächlich ihre Runden zogen. Vögel zwitscherten und angenehme Düfte wehten mir um die Nase: nach frischem Gras, würzigen Kräutern und erdigem Boden. Genau wie ein Garten riechen sollte. Die hohen Bäume boten ausreichend Schatten, sodass man es sich auch an heißen Tagen unter den Blätterdächern gemütlich machen konnte. Wie eine eigene Welt kam mir dieses Haus und der umliegende Garten vor, und ich fühlte mich sofort willkommen.

Mrs. Parker lachte über meinen staunenden Gesichtsausdruck. »Es ist schön, nicht wahr?« Sie und steuerte auf die überdachte Haustür zu.

Wortlos nickte ich, denn ein passendes Wort für dieses Paradies gab es wohl nicht. Im Vergleich zu den monotonen, geradlinigen Kolossen spürte man hier Leben und ganz viel Liebe, was bei den Gebäuden die Straße hinauf nur kalte und abweisende Gefühle in mir erzeugte.

Ein ebenfalls herrlicher Duft nach anregenden Kräutern umfing mich, als Judy mich in das Innere des kleinen Cottages führte. Das Haus war gemütlich eingerichtet. Es herrschten hauptsächlich dunkle Farben, jedoch wirkte es dadurch nicht weniger einladend. Im Wohnzimmer dominierte ein aus Stein geschlichteter, offener Kamin den Raum, dessen Glut um diese Tageszeit längst abgekühlt war. In den Abendstunden musste ein knisterndes Feuer darin eine angenehme Wärme verbreiten. So gut wie jede Wand wurde von Bücherregalen eingenommen, die bis zur Decke reichten. Zahlreiche Bücher stapelten sich in jedem kleinen Spalt. Zusätzlich lagen Kristalle und Steine in allen Farben und Formen aus. Ich sah sie in den Regalen, auf den breiten Fensterbänken und auf den Kommoden.

»Setz dich doch«, forderte Mrs. Parker mich auf und deutete auf einen runden Tisch aus dunkel glänzendem Holz.

Während ich durch das Wohnzimmer schlich und die vielen Bücher in den Regalen, die Bilder an den Wänden und die Steine bestaunt hatte, war sie in die Küche nebenan verschwunden, setzte Tee auf und legte Kekse auf einen großen Teller aus.

Ich riss meinen Blick von einem Bild los, welches Judy mit einem Mann an ihrer Seite zeigte – beide wirkten glücklich und zufrieden und lächelten freudestrahlend in die Kamera –, dann nahm ich auf dem Stuhl Platz, den sie mir angeboten hatte. Von meiner Tasse, in der ein süßlich duftender Tee dampfte, nahm ich einen kleinen Schluck und verbrannte mir sogleich die Zunge. Mrs. Parker nippte an ihrer. Sie betrachtete mich aus unergründlich grauen Augen. Unsicher biss ich mir auf die Unterlippe.

»Du wolltest Antworten. Nun werde ich dir ein paar geben.«

Vor Aufregung schlug mein Herz schneller. Gespannt lehnte ich mich nach vorn, während sie aufstand, um ein dickes, ledernes Album aus einem der Regale hervorzuholen. Sie platzierte es in unserer Mitte, blätterte zu einer Seite vor und deutete auf ein Schwarz-Weiß-Foto, das drei Personen abbildete. Es handelte sich um Mädchen, etwa in meinem Alter. Eng umschlungen posierten sie für die Kamera. Im Hintergrund konnte ich den Strand und sogar, wenn ich ganz genau hinsah, die Insel erkennen. Die zwei Mädchen an der Seite glichen sich bis aufs Haar: Zwillinge. Das in der Mitte wies allerdings keine Ähnlichkeit mit ihnen auf. Sie hatte hellere Haare und andere Gesichtszüge. Dafür meinte ich eine jüngere Version von Mrs. Parker in ihr zu sehen.

Ich deutete auf das Mädchen. »Das sind Sie, nicht?«

Judy nickte verträumt. »Ja, das waren noch Zeiten ...« Sie schien etwas in Gedanken versunken zu sein. Ich konnte es ihr nicht verdenken, schließlich sahen die drei so glücklich auf dem Foto aus ...

»Die Zwillinge kommen mir bekannt vor ...«, murmelte ich nachdenklich.

Mrs. Parker grinste verschmitzt. »Elaine und Katy waren meine besten Freundinnen. Wir gingen damals durch dick und dünn.«

Bei dem Namen Elaine horchte ich auf. Meine Augen wurden groß. »Moment ... Elaine?« Fragend sah ich sie an.

Judy legte ihre Fingerspitze auf die Rechte, neben ihrem deutlich jüngeren Abbild. »Das ist Elaine. Sie war die ... Aufgeweckte von beiden.«

Ich runzelte die Stirn. Mir kamen ihre Andeutungen von letzter Nacht wieder in den Sinn. »Sie sagten, Elaine wäre wie sie ... Wen meinten Sie mit sie

»Zoey.«

Verwirrt blinzelte ich Mrs. Parker an. Sie wusste etwas über Zoey? Erneut blieb mein Blick an dem Foto hängen. Und dann fiel mir endlich die Ähnlichkeit zwischen den Zwillingsschwestern auf dem Bild und Zoey – beziehungsweise mir – auf. »Sie waren mit mir verwandt?«, rief ich überrascht aus.

»Ja, Katy war deine Großmutter.«

An meine Grandma konnte ich mich lediglich verschwommen erinnern. Sie starb als ich etwa sieben Jahre alt war. Aber eine Schwester hatte sie zu meiner Zeit nicht ... »Was ist mit Elaine passiert?«

Kurz trat ein schmerzlicher Ausdruck in Mrs. Parkers graue Augen, aber so schnell er aufgetaucht war, verschwand er auch wieder. »Das ist eine etwas längere Geschichte ...« Sie sah vom kleinen Fenster in der Küche aus in die Ferne. Gedankenverloren spielten ihre Finger an dem Anhänger um ihren Hals. Als sie meine Neugier in Bezug auf das Schmuckstück bemerkte, nahm sie die Kette ab und legte mir den Anhänger in die Handflächen. Das Material fühlte sich kühl und hart auf meiner Haut an.

»Was ist das?« Vorsichtig fuhr ich über die glasähnliche Oberfläche.

»Das ist ein Wasserzeichen. Und es wurde Elaine zum Verhängnis.«

Mondsüchtig | VerwandlungWhere stories live. Discover now