Kapitel 28 - Unter verräterischen Augen

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Oscar

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Weil Kaycie ein klärendes Gespräch unter vier Augen mit ihrer Mutter führen wollte, verbrachte ich den restlichen Nachmittag am Hafen und am Strand. Es dauerte lange, bis das Gewitter abklang. Erst gegen Abend hin verzogen sich die schweren, dunklen Wolken und ließen die letzten Sonnenstrahlen des Tages hindurchscheinen. Dementsprechend waren nicht viele Leute am Strand. Nur wenige Hartgesottene, die bei jedem Wind und Wetter ihre Strecke liefen, hielten sich auch heute dort unten am Wasser, im feuchten Sand auf.

Nachdenklich warf ich Steine ins Meer. Schnell verschwanden sie in den hohen, aufgewühlten Wellen. Der Wind peitschte mir kühl ins Gesicht, zerzauste meine Haare und zerrte an meiner Kleidung. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Kaycie oder Zoey sich fühlen mussten. Zoey, die Einzelgängerin, die meiner Meinung nach einen relativ guten Musikgeschmack hatte und eine Person war, die man einfach gerne nervte, stand eindeutig neben sich. Letzte Nacht hatte ich sie überhaupt nicht wiedererkannt. Sie schien durch einen anderen Menschen ersetzt worden zu sein.

Früher hatte sie mich aus Spaß bedroht, hatte es aber nie ernst gemeint. Das konnte ich ihr jedes Mal an den Augen ablesen. Doch letzte Nacht ... Ich war mir sicher, dass mein letztes Stündlein geschlagen hatte. Da war etwas Gefühlloses, Kaltes und Furchteinflößendes in ihrem Blick. Es bescherte mir jetzt noch eine Gänsehaut. Irgendetwas brachte sie dazu, Menschen, die sie mochte – oder wie mich akzeptierte –, plötzlich aus tiefstem Herzen zu hassen.

Zwar verstand ich noch nicht alles, was mit Kaycie und ihr passiert war, aber ich ging davon aus, dass ihre Fähigkeiten als Hexe etwas damit zu tun haben mussten. Lange grübelte ich vor mich hin, gelangte jedoch wieder und wieder zum selben Schluss: Alles hing mit der Insel und dem Vollmond sowie dem unterirdischen See zusammen ...

Später, als es zunehmend dunkler wurde, machte ich mich auf den Rückweg und legte eine kleine Pause im Café ein. Mit einem heißen Kaffee in den Händen ließ es sich viel besser nachdenken. Allerdings erklärte die Theorie, dass der Vollmond, die Insel und der unterirdische See zusammenhingen, nicht, wie Zoey zu einer Hexe geworden war – kam ich auf meine Überlegungen von vorhin zurück.

Kaycie war sich sicher, dass Zoey den Mondsee niemals zu Gesicht bekommen hatte. Wobei ich dafür mittlerweile nicht mehr die Hand ins Feuer legen würde, immerhin befand sie sich schon einen ganzen Tag auf der Insel. Sie musste also früher oder später darauf stoßen. Kaycie hatte den Ort nur durch Zufall entdeckt. Zoey könnte das ebenfalls passieren.

Irgendwann kam mir in den Sinn, dass sich Zoey vielleicht nur anders benahm, weil Kaycie sich verändert hatte. Sie waren Zwillingsschwestern, und wenn es stimmte, was man sich so oft über Zwillinge erzählte ... dann gab es eine Verbindung, die sie aneinanderschweißte. Und so hatte sich die Verwandlung bei beiden freigesetzt. Nur äußerte sie sich unterschiedlich ...

»Einen Penny für deine Gedanken«, sagte eine mir sehr bekannte Stimme. Sie riss mich aus dem Chaos, das in meinem Hirn herrschte.

Ich fuhr zusammen, strich mir scheinbar beiläufig durch die Haare und erübrigte ein müdes Lächeln in Kaycies Richtung, obwohl ich lieber einen Schrei ausgestoßen hätte. Ich wollte nicht, dass sie sich auch noch um mich Sorgen machte. Sie nahm gegenüber von mir Platz. Ihre Kleiderwahl ließ mich verwundert blinzeln. Was trug sie denn da? Ein helles luftiges Kleid, das ihr bis zu den Knien reichte und Riemchensandalen. So feminin, geradezu schick, kleidete sie sich höchst selten. Und warum kam mir der Stil so bekannt vor? Dann schüttelte ich den Kopf, tadelte mich selbst. Warum dachte ich darüber nach, was sie dazu bewogen hatte, sich in Schale zu werfen? Wie war ich überhaupt darauf gekommen?

Mondsüchtig | VerwandlungWhere stories live. Discover now