Kapitel 23 - Stimmungsschwankungen

98 19 2
                                    

Kaycie

__________ . . . __________

Mein Morgen war nicht gerade prickelnd gewesen, aber dass es noch schlimmer werden konnte, das dachte ich nun wirklich nicht. Erst zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn fiel mir nämlich auf, dass ich eigentlich lernen wollte. Oder es zumindest hätte tun sollen. Ich verfluchte mich dafür, nicht auf Oscar gehört zu haben.

Jetzt holte ich auf die Schnelle meine Unterlagen hervor, und las mir alles Wichtige noch einmal durch. Vermutlich konnte ich damit jedoch nur einen Bruchteil der Fragen beantworten. Wenn überhaupt.

»Wie ich sehe, bist du nach letzter Nacht nicht mehr zum Lernen gekommen«, vernahm ich plötzlich Oscars Stimme dicht an meinem Ohr.

Vor Schreck hätte ich beinahe meine Spindtür laut zugeknallt. Ich wirbelte herum und schlug ihm gegen die Brust. »Spinnst du? Du kannst mich doch nicht so erschrecken!«, fuhr ich ihn an.

Er grinste und leider steckte mich dieses Grinsen an. Die Wut verrauchte so plötzlich wie er neben mir aufgetaucht war, und mein Herz pochte wegen etwas ganz anderem kräftiger. Da klingelte es zum Unterrichtsbeginn.

»Viel Glück!« Oscar drückte mir einen Kuss auf die Wange.

Von einem schlechten Gewissen geplagt biss ich mir auf die Unterlippe. »Danke, das kann ich gut gebrauchen«, sagte ich, als er schon den Gang entlangschlenderte und in der Menge an Schülern verschwand.

Der Test verlief wie erwartet nicht besonders gut. Nur etwa die Hälfte der Fragen konnte ich überhaupt beantworten – wie ich bereits vermutet hatte –, der Rest stellte für mich ein großes Fragezeichen dar. So war ich auch viel früher mit Schreiben fertig und saß die verbliebene Zeit untätig herum, starrte die Decke an und versuchte noch irgendetwas vom Unterricht in meinem Gedächtnis zusammenzukratzen.

Und dann fiel mein Augenmerk auf Zoey, die in meine Richtung schaute. Ihren intensiven Blick spürte ich fast wie eine körperliche Berührung. Sie lächelte selig vor sich hin und schien zufriedener denn je. Soweit ich das von meinem Platz aus erkennen konnte, hatte sie alles ausgefüllt. Aber das war sicher nicht der Grund für ihre Heiterkeit, die sie an den Tag legte. Wenn es um Noten ging, setzte Zoey stets ein Pokerface auf. Es hatte also einen ganz anderen Grund. Sie wusste etwas. Oder sie glaubte etwas mit Sicherheit zu wissen – und es betraf mich.

Ich hob eine Augenbraue, aber Zoey wandte möglichst unauffällig den Kopf ab. Nun würde ich allzu gern wissen, was es mit dem brennenden Busch auf sich hatte, von dem mir Oscar gestern erzählt hatte. Deshalb passte ich Zoey nach dem Unterricht bei den Spinden ab, um sie dahingehend ein wenig auszuquetschen. Wenn sie mich beobachten konnte, warum ich dann nicht auch sie?

Sie schloss gerade ihre Spindtür, hinter der ich auf sie wartete. Als Zoey mich sah, schrak sie nicht zusammen. Was ziemlich erstaunlich war, denn jeder hätte einen Satz gemacht, würde jemand hinter einer Tür lauern, den man nicht erwartet hatte. Vielleicht hatte sie mich ja doch erwartet, wer wusste schon, was sie dachte? Na gut, sie regte sich fast nicht. Lediglich ihr rechtes Augenlid zuckte verräterisch. Gekonnt überspielte sie das mit einem genervten Gesichtsausdruck. »Was willst du, Kaycie?«, stöhnte sie und rieb sich die Schläfen, als würde meine Gegenwart Kopfschmerzen bei ihr auslösen.

Ich lehnte mich gegen den Spind und verschränkte lässig die Arme vor der Brust. »Ich dachte, dass wir uns vielleicht mal unterhalten könnten«, fing ich an. »Wir sind schließlich Schwestern ... oder hast du das etwa schon vergessen?« Damit drückte ich ihr das auf, was sie mir heute Morgen vorgegaukelt hatte. Zoey seufzte allerdings nur, und wollte schon an mir vorbeigehen, da trat ich ihr in den Weg. »Wo willst du denn so schnell hin?«

Wütend funkelte sie mich an. »Geh mir aus dem Weg.« Sie stemmte die Hände in die Hüften.

Ich trotzte ihrem giftigen Blick, hob mein Kinn provozierend an. »Erst wenn du mit mir redest«, forderte ich. »Wie ich hörte, hast du gestern etwas in Brand gesteckt.«

Sie hob eine Augenbraue. »Ach ja?«, brummte sie. Das Pokerface blieb, sie ließ sich nichts anmerken.

»Können wir nicht wie normale Geschwister über unsere Probleme reden? Du hast ganz sicher welche, sonst würdest du dich mir gegenüber nicht so seltsam benehmen«, meinte ich.

Plötzlich schoss ihr Arm nach vorn. Zoey drängte mich mit einem heftigen Stoß gegen die Wand. Die Spinde hinter mir schepperten laut. Das kalte Metall drückte unangenehm gegen meinen Rücken. Erschrocken riss ich die Augen auf und starrte in Zoeys verbissene Miene. Sie presste ihren Unterarm gnadenlos gegen meine Kehle, sodass ich schwer Luft bekam. Mit dem Gesicht rückte sie ganz nah an mich heran. Unsere Nasen berührten sich beinahe. Ihre Augen funkelten gefährlich, das Ozeanblau schien zu glühen, in Flammen zu stehen.

»Jetzt pass mal auf, Kaycie!«, zischte sie. Meinen Namen sprach sie aus, als würde er einen bitteren Geschmack in ihrem Mund hinterlassen. »Es geht dich gar nichts an, was für Probleme ich deiner Meinung nach habe. Halte dich einfach aus anderen Angelegenheiten raus, sonst wirst du es noch bereuen!« Sie drückte mich noch einmal fest gegen die Wand, dann ließ sie von mir ab, als hätte sie sich an mir verbrannt, und stürmte davon.

Die vor Anspannung angehaltene Luft entwich mir durch ein erleichtertes Keuchen.

Am Ende des Gangs stand eine Lehrerin, die unsere Auseinandersetzung wohl mitbekommen hatte. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie Zoey, die an ihr vorbeieilte.

»Alles bestens, Mrs. Lane«, säuselte Zoey und stolzierte auf den Ausgang zu.

Ich schüttelte den Kopf. In was für ein Biest verwandelte sich da meine Schwester?

Nachdenklich lief ich nach Hause. Ich kickte ein paar Steine vor mir her, die auf dem Gehweg herumlagen. Die Sonne schien warm auf meine Haut. Ein leichter Wind wehte mir die Haare ins Gesicht. Die Stimmung war etwas bedrückend. Ich hatte das Gefühl ganz allein zu sein. Niemand kam mir entgegen, die Straßen waren gähnend leer. Man hörte keine Gespräche, Musik oder auch nur ein Lachen in der Ferne. Einfach nichts. Als hätte jemand den Ton abgestellt. Begleitet von einer mulmigen Vorahnung, sah ich mich um. Fast war ich Zuhause, nur noch ein paar Einfahrten weiter. Bildete ich mir das alles nur ein?

Langsam wagte ich mich zu unserem Haus vor. Ich öffnete die Tür. Und ein herrlicher Duft nach Essen empfing mich. Wie auf Knopfdruck war der Ton wieder an, auf voller Lautstärke.

Mom lachte. Sie redete in der Küche – mit Zoey. Die lachte zu meiner Überraschung ebenfalls. Moment. Was passierte hier? Träumte ich? Es fühlte sich jedenfalls ganz danach an. Zoey hatte schon lange nicht mehr so ausgelassen gelacht. Misstrauisch betrat ich den Raum.

»Ach, Kaycie. Da bist du ja! Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht«, rief Mom strahlend. Sie tischte soeben das Essen auf, und Zoey saß wie ein kleines, hibbeliges Kind auf ihrem Platz und grinste mich an. Sie grinste mich wirklich an.

Die hatte ja Nerven – so zu tun, als wäre nichts gewesen. Als hätte sie mich nicht vor ein paar Minuten angegriffen und bedroht. Ich holte tief Luft. »Hallooo, ist irgendwas?«

Zoey schüttelte den Kopf. »Nein, was soll denn sein?« Sie mimte die Unschuld in Person, ihre Wimpern klimperten treuherzig.

Meinen Rucksack warf ich neben das Regel mit den Schuhen im Flur. Anschließend ließ ich mich auf meinen Platz fallen. Perplex starrte ich auf das Essen, während Mom und Zoey vergnügt weiterredeten.

»Kaycie?«, fragte Zoey irgendwann.

Erschrocken zuckte ich zusammen. »Hä?«, rutschte es mir heraus.

»Du bist so still. Ich habe dich etwas gefragt.« Ihr Tonfall klang sanft, aber in meinem Hirn schrie eine Stimme: Falsch! Ich kam mit ihrem plötzlichen Stimmungswandel nicht klar. Warum war sie so nett?

Ich schüttelte den Kopf. »Was hast du denn gefragt?«, gab ich möglichst freundlich zurück.

»Bist du wirklich mit Oscar zusammen?«, mischte sich Mom an Zoeys Stelle ein.

»Was?« Ich riss die Augen auf und starrte beide abwechselnd an, die mich ihrerseits erwartungsvoll ansahen. »Äh, mh ... kann sein?«, meinte ich schließlich. »Warum?«

Zoey blickte mich direkt an, dann zwinkerte sie mir zu. »Wir freuen uns für dich – das ist alles.«

Mondsüchtig | VerwandlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt