Kapitel 37 - Unzerstörbares Band

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»Oh, hallo Liebling«, begrüßte Mom mich, als ich Zuhause ankam. Sie hatte im Wohnzimmer auf der Couch Platz genommen. Neben ihr saß noch jemand. Ein Mann. Zwei Weingläser standen auf dem Tischchen vor ihnen. Offenbar war ich mitten in ein Date geplatzt.

Der Mann, etwa Mitte vierzig, hatte kurze dunkelbraune Haare und kantige Gesichtszüge. Seine Statur war groß und für sein Alter noch recht ansehnlich. Er trug jedoch Klamotten, die einem alten Mann besser gestanden hätten: Eine lange, graue Stoffhose und ein pinkes Polohemd. Das Einzige, was mir wirklich positiv an ihm auffiel, waren seine erstaunlich grünen Augen.

Etwas schwerfällig erhob er sich – wahrscheinlich hatte er schon eine Menge von dem Wein intus –, und kam leicht schwankend auf mich zu. Lediglich ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, als müsste er sich zwingen freundlich zu sein. »Ich bin Mr. Gale«, stellte er sich vor und griff nach meiner Hand.

»Okay ... und ich bin Kaycie«, sagte ich etwas gedehnt. Ich rang mir ebenfalls ein Lächeln ab, was sich äußerst falsch anfühlte. Kein normaler Mensch stellte sich mit Mr. oder Mrs. vor. Er war von sich selbst überzeugt und passte damit nicht zu Mom, die neben ihm wie eine Sonne erstrahlte, und dabei ganz natürlich wirkte ... wenn auch ein bisschen aufgeregt.

»Das ist Ethan ... Ich habe ja neulich von ihm erzählt«, fügte sie mäßig hilfreich hinzu. Darauf war ich bereits von allein gekommen.

»Mom, kann ich kurz mit dir unter vier Augen sprechen?«, fragte ich und deutete auf die Küche.

Sie nickte und sprang sogleich vom Sofa auf. Im Vorbeigehen drückte sie Mr. Gale einen flüchtigen Kuss hinter das Ohr. Mir lief es unterdessen kalt den Rücken hinunter. »Sei so nett und warte hier auf mich, ja?«, bat sie, bevor sie mir folgte. »Wir sind gleich wieder da.«

Das ließ sich der Mister nicht zweimal sagen. Er schwenkte das Glas mit der dunkelroten Flüssigkeit in seinen Händen und setzte es anschließend an seine Lippen, um den ganzen Rest hinunterzukippen. Das Sofa war seine nächste Anlaufstelle. Dort blieb er reglos sitzen, während ich mich umdrehte und Mom anfunkelte.

»Mom, das kann doch nicht dein Ernst sein?«, zischte ich, die Hände in die Hüften gestützt.

»Schätzchen, Ethan ist wirklich ganz nett. Du wirst schon noch sehen«, sprach Mom beruhigend auf mich ein. Im nächsten Moment klang sie äußerst vorwurfsvoll, als sie fragte: »Ich dachte, du wolltest den ganzen Tag am Strand bleiben?«

Ergeben schnaufte ich auf. »Eigentlich ja, aber ich habe Zoey gesucht. Wo ist sie?«

Da vernahm ich eine Unruhe, die vom Mister ausging. »Ähm, Kaitlynn, warum ist deine Tochter hier, wenn du doch gerade mit ihr in die Küche gegangen bist?«

Erleichtert seufzte ich auf. Immerhin wusste ich jetzt wo Zoey steckte. »Das ist meine Schwester«, sagte ich. Mit einem gezwungenen Lächeln trat ich zurück ins Wohnzimmer.

Zoey hatte sich vor dem Mister aufgebaut und warf ihm abschätzige Blicke zu. »Mom, wer ist das?«, fragte sie. Ich hörte ihre Wut und das Misstrauen heraus, die sie eindeutig gegenüber dem fremden Mann empfand. Und der wirkte, als sei er aus allen Wolken gefallen.

Mom stellte sich zwischen uns. »Ja, Ethan. Das sind meine Töchter: Zoey und Kaycie.« Sie lachte, doch keiner ging darauf ein, weil wir das nicht als Witz verstanden. So war sie die Einzige, die sich darüber amüsieren konnte, während Zoey und ich genervt die Augen verdrehten.

Der Mister starrte etwas dämlich zwischen uns hin und her. »Es gibt zwei von der Sorte? Wie soll ich die denn auseinanderhalten? Die sehen ja vollkommen gleich aus!« Verzweifelt warf er die Arme in die Luft.

»Am besten gar nicht. Denn es wäre mir lieber, wenn Sie wieder verschwinden würden!«, keifte Zoey, und ich nickte bekräftigend. Ausnahmsweise war ich mal ihrer Meinung. Schon wieder, wie mir auffiel.

Mom, sichtlich nervös, lachte erneut auf. »Tja, das ist ja mal nicht wie geplant gelaufen, was?«, fragte sie in die Runde.

Der Mister stand auf, plötzlich wieder Herr seiner fünf Sinne. »Sorry, Kaitlynn, aber das wird mir gerade zu viel«, meinte er dennoch nuschelnd und strauchelte an uns vorbei, auf die Haustür zu. Er musste wahrlich eine Menge Wein geschluckt haben. Erstaunlich, dass er sich noch einigermaßen artikulieren konnte ...

»Warte!«, rief Mom ihm nach. »Ethan, jetzt warte doch!«

Zoey fing meinen Blick auf. Zu meiner Überraschung lächelte sie und wirkte fast, wie die Zoey, die ich noch in meiner Erinnerung hatte, die auch stets ein hervorragendes Team mit mir bildete. »Was für ein Idiot.« Sie lächelte mich tatsächlich an.

Ich hinderte mich daran, mich selbst zu kneifen, weil ich diesen Traum genießen wollte. Ein breites Grinsen zierte meine Mundwinkel. »Das kannst du wohl laut sagen«, gab ich ihr recht. »Zoey, wir sollten reden«, sagte ich dann unvermittelt.

Zoey nickte ernst. Während Mom dem Mister hinterhereilte und inständig auf ihn einredete, nahmen Zoey und ich in der Küche am Esstisch Platz. Zoey schenkte sich Orangensaft ein.

»Es gibt da etwas, über das ich mit dir sprechen muss.« Nervös biss ich mir auf die Unterlippe.

Zoey nahm einen Schluck aus ihrem Glas, das sie mit einem dumpfen Geräusch wieder auf die Tischplatte abstellte und seufzte vernehmlich. »Es geht doch nicht schon wieder um Oscar, oder?« Sie verdrehte die Augen.

Ich verkniff mir jeglichen Kommentar dazu. »Nein, wegen dieser Sache ... du bist ja eine Hexe ...«, stammelte ich.

Sie hob eine Augenbraue. »Ja, das weiß ich.«

Ich holte tief Luft. »Hör zu, es gibt eine Möglichkeit, wieder normal zu werden.«

Zoey tat zwar so, als sei sie nicht sonderlich interessiert, doch ich sah etwas in ihren Augen aufblitzen. War es Hoffnung? »Und was soll das für eine Möglichkeit sein?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

»Wir müssen unsere magischen Kräfte vereinen. Wenn wir zusammen den Stein zerstören, mit dem alles begonnen hat, dann sind wir frei«, erklärte ich.

»Was für ein Stein?« Zoey hatte sich gespannt nach vorn gelehnt, sie schien mir nun voll und ganz zuzuhören.

»Den müssen wir noch suchen. Oscar meinte, dass er den genauen Zeitpunkt herausfindet, an dem der Fluch gebrochen werden kann. Denn es müssen viele Faktoren zusammenspielen, damit es wirklich klappt«, erzählte ich weiter.

»Du meinst, das ist ein Fluch? Ich bin das gar nicht selbst?«, fragte Zoey nach einer Weile, in der sie mich nachdenklich angestarrt hatte.

Ich nickte. »Was glaubst du denn? Einfach so kann kein normaler Mensch mit Feuer aus seinen Händen um sich werfen und sich als einen anderen Menschen ausgeben, selbst wenn es die Zwillingsschwester ist«, gab ich zu bedenken.

Zoey vergrub das Gesicht in den Händen. Ich rührte mich nicht von der Stelle und hielt den Atem an, unsicher, was ich nun tun sollte. Weinte sie etwa? Noch nie hatte ich das bei ihr gesehen, höchstens wenn sie wütend war oder vor Lachen Tränen vergoss. Diese Situation war mir allerdings neu.

Meine Hand zuckte in ihre Richtung, als sie zwischen ihre Finger nuschelte: »Ich wollte das nicht, ehrlich! Irgendwelche Stimmen haben mir das befohlen! Sie haben mir Dinge versprochen, mir etwas vorgespielt. Auch jetzt flüstern sie mir zu. Lange kann ich sie nicht mehr zurückdrängen!« Ihr Blick traf mich unvorbereitet, die Augen waren tränenverschleiert.

Ergriffen von ihrem verzweifelten Gesichtsausdruck, stand ich auf und drückte sie fest an mich. An meine Schulter gelehnt, fing sie haltlos zu schluchzen an. »Alles wird gut. Ich verspreche es dir! Wir müssen nur noch etwas durchhalten und das gemeinsam durchstehen.« Sanft strich ich über ihren Rücken. Wir mussten es einfach schaffen. Ihr Körper fühlte sich erschreckend zerbrechlich in meinen Armen an.

Sie zuckte unkontrolliert. »Ich wollte das alles nicht!«, schluchzte sie immer wieder. »Ich wollte dir nie wehtun!«

Es tat gut, das von ihr zu hören. Eine wohlige Wärme breitete sich in meiner Brustgegend aus. Obwohl es noch lange nicht vorbei war, wusste ich die kurze Zeit, in der ich meine Schwester zurückhatte, sehr zu schätzen. Aus meinen Augenwinkeln lösten sich ebenfalls Tränen.

Mondsüchtig | VerwandlungWhere stories live. Discover now