Kapitel 31 - Seltsame Begegnung

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Als der Mond hoch am Himmel stand, verließ ich die Insel und schwamm zurück zum Festland. Lange lag ich dort am Strand und wartete darauf, dass ich trocknete. Währenddessen sah ich hinauf in das atemberaubende Sternenzelt, welches sich schier endlos über dem Horizont erstreckte.

Wie unzählige Glühwürmchen flackerten die Lichter der längst erloschenen Himmelskörper. Doch der Mond stellte sie mit seinem hellen Strahlen in den Schatten. Er übte eine ungeheuer magische Anziehungskraft auf mich aus, obwohl er in seiner Vollständigkeit kontinuierlich einbüßen musste. Knapp die Hälfte seiner eindrucksvollen Gestalt zeigte sich noch. Es musste einfach der Mond sein, der diese Kräfte in mir heraufbeschworen hatte. Da war ich mir sicher. Warum sonst starrte ich so oft seit meiner ersten Verwandlung zu ihm hinauf? Warum sonst wirkte er so faszinierend auf mich?

Ich zog mich an und watete durch den feinen, mittlerweile kühlen Sand zur Promenade. Ein sanfter Wind spielte mit meinen Haaren und zupfte an meiner Kleidung. Die Luft roch salzig und frisch und im Hintergrund vernahm ich das stetige Rauschen der Wellen, die gegen das Ufer brandeten. Ich konnte mir kein Leben ohne diese Geräusche und Düfte vorstellen. Was machten die Menschen nur, wenn sie nicht am Meer wohnten? Wie hielten sie es aus, ohne die Frische des Ozeans? Ich würde geradezu eingehen und verrückt werden, denn das Wasser war für mich lebensnotwendig. Es war meine Konstante, wenn ich nicht mehr weiterwusste. Und seit meiner Verwandlung bedeutete es für mich noch weit mehr als das: Es war ein Teil von mir.

In der Ferne kündigten die Neonlichter des Cafés und die der anderen Geschäfte den Hafen an. Die Lichter leuchteten, auch wenn die Läden längst geschlossen hatten. Sie führten mich zurück in die Zivilisation. Offenbar war ich die Einzige, die sich zu solch später Stunde hier herumtrieb. Zumindest glaubte ich das. Als ich zurück auf das mondbeschienene Wasser spähte, das verheißungsvoll glitzerte und mich regelrecht zu sich rief, und meinen Blick wieder zur Promenade schwenkte, stellte ich fest, dass ich nicht länger allein war. Eine Gestalt stand reglos da, wo eben niemand gewesen war. Ihre bloße Anwesenheit jagte mir einen Schauer über den Rücken.

Ich konnte lediglich ihre Umrisse erfassen, die Gesichtszüge waren in tiefe Schatten gehüllt. Eine Gänsehaut breitete sich von meinen Armen zu den anderen Gliedmaßen aus und kribbelte in meinem Nacken. Wer war das? Es kam mir vor, als starrte die Person mich direkt an. Auch wenn ich die Augen nicht sehen konnte, spürte ich den Blick umso deutlicher auf mir ruhen.

Vorsichtig kam ich näher. Die Ungewissheit, was mich wohl erwartete, ließ mich erzittern. Bei genauerer Betrachtung und je schärfer ihre Konturen wurden, desto mehr stellte ich fest, dass ich mich täuschte. Erleichtert atmete ich die Luft aus, die ich unbewusst angehalten hatte. Dort an der Promenade stand eine alte Frau, die völlig harmlos auf mich wirkte. Die weißblonden, gelockten Haare reichten ihr bis zum Kinn, der Wind wehte sie ihr immer wieder ins Gesicht, doch davon ließ sie sich nicht stören.

Auf dem Kopf trug sie einen weißen Sonnenhut, obwohl sie diesen bei Nacht nicht benötigte. Ein langes, hellblaues Kleid flatterte um ihren schlanken Körper und ihre Füße steckten in feinen, weißen Sandalen. Um die Schultern hatte sie ein spitzenbesetztes Tuch drapiert. Eine Kette hing ihr um den Hals, es war das einzige Schmuckstück, das sie offen zur Schau stellte. Die Kette zierte einen Anhänger, der aus Eis gemacht zu sein schien. Das Material war durchsichtig und schimmerte leicht bläulich. Es bildete eine Spirale, die wie ein Wasserzeichen aussah. Es erinnerte mich an die zahlreichen Abbildungen, die es zu diesem Element gab.

Meine Anspannung legte sich. Augenscheinlich genoss die Frau die Aussicht auf das Meer. Was war nur in mich gefahren, dass ich derart paranoide Gedanken hegte, sie würde etwas von mir wollen? Eine alte Frau, die mich beobachtete? So ein Schwachsinn. Sie konnte wahrscheinlich nicht schlafen und hatte deshalb einen kleinen Spaziergang zum Strand unternommen.

Ich passierte sie und überlegte gerade, ob ich etwas sagen sollte, doch da sich die Frau nicht rührte, hielt ich lieber den Mund. Weder wollte ich sie erschrecken noch stören. Allerding erschreckte sie mich: Plötzlich schnellte ihre Hand in meine Richtung und griff nach meinem Arm, den sie erstaunlich stark festhielt. Ich stieß einen überraschten Schrei aus – damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Die freie Hand an die Brust gepresst, versuchte ich mich wieder zu sammeln.

»Die Nacht ist die beste Zeit, um hinaus auf den Ozean zu blicken«, sagte die Frau vollkommen entspannt. Ihre Stimme klang robust und alles andere als alt. Sie schloss die Augen und lächelte, dabei merkte sie nicht, dass sie meinen Arm weiter umklammert hielt.

»Mein Gott, haben Sie mich erschreckt!«, entwich es mir, während ich versuchte mein Handgelenk zu befreien.

Da wandte sie mir ihr Gesicht zu. Erstaunlich klare und unergründlich graue Augen begegneten meinen. Ihr intensiver Blick drang scheinbar mühelos bis in mein Innerstes vor. Kein Geheimnis war vor ihr sicher. Mir stockte erneut der Atem. Jetzt bekam ich es doch mit der Angst zu tun.

»Die wenigsten Menschen erkennen die wahre Schönheit der Nacht«, fuhr sie fort, ruhig, als würden wir bei einer Tasse Tee gemütlich zusammensitzen und einen netten Plausch abhalten.

Ich runzelte die Stirn. Wollte sie mir mit diesen kryptischen Andeutungen vielleicht irgendetwas sagen? Ich räusperte mich. »Ähm, könnten Sie mich vielleicht loslassen?«

Erst jetzt bemerkte sie, dass sie mich an Ort und Stelle festgenagelt hatte. »Ach, entschuldige, Kindchen! Das tut mir schrecklich leid. Ich habe dir doch nicht wehgetan?« Schuldbewusst löste sie ihre rauen Finger von meinem Handgelenk.

Ich schüttelte den Kopf, rieb mir aber die Haut, die nun einen roten Abdruck verzeichnete. »Nein, nein. Was machen Sie hier draußen um diese Uhrzeit?«

Ihr Fokus richtete sich erneut auf den Ozean, trübte sich. Sie wirkte wie weggetreten. Was sah sie nur im Wasser? Auf einmal fröstelnd, schlang ich mir die Arme um den Oberkörper.

»Ich betrachte das Meer. Es ist so geheimnisvoll in der Nacht – findest du nicht auch?«

»Irgendwie ... ja«, gab ich zurück, auch wenn ich nicht ganz wusste, worauf diese Unterhaltung hinausführen sollte.

Die Frau musterte mich wieder. Lange ruhte ihr Augenmerk auf mir, dann klärte sich der seltsame Ausdruck. »Sie ist wie Elaine.«

»Was?« Verwirrt blinzelte ich. »Wer? Und wer ist Elaine?«

Die Frau lächelte mich aus einem alten, faltigen Gesicht an. Weisheit und ein klein wenig Schalk blitzten mir entgegen, fast als amüsierte sie sich über meine Unwissenheit. »Sie ist ihr sehr ähnlich.« Damit drehte sie mir den Rücken zu.

»Hey!«, rief ich ihr nach. »Wer ist Elaine?«

Doch so schnell konnte ich gar nicht schauen, hatte sie sich aus meiner Sichtweite gestohlen. Sie ließ mich samt ihren mysteriösen Andeutungen zurück. Was wollte sie damit bezwecken? Und wohin war sie so schnell verschwunden? Ich hatte keine Chance sie einzuholen. Egal, in welche Richtung ich spähte, sie blieb unauffindbar.

Hatte ich gerade einen Geist gesehen? Das erklärte trotzdem nicht, warum ich ihre Berührung so deutlich verspürt hatte. Die Haut an meinem Handgelenk war noch immer gerötet.

Nachdenklich starrte ich auf das dunkle Wasser. Wenn ich herausfinden wollte, wer sie und wer Elaine war, dann musste ich diese alte Dame abermals aufsuchen. Nur wie zum Teufel sollte ich sie finden? Ich kannte weder ihren Namen noch ihren Wohnort, und offensichtlich machte sie ein großes Geheimnis aus ihrer Identität.

Mondsüchtig | VerwandlungWhere stories live. Discover now