Kapitel 38 - Das Kleingedruckte

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»Du hast wirklich Stimmen gehört? Was sagen sie? Weißt du, wer zu dir spricht? Und wann hat das angefangen?«, fragte ich, nachdem sowohl Zoey als auch ich mich wieder im Griff hatten.

Sie schniefte und wischte sich die Tränen von den Wangen. Auf meine Fragerei hin, lächelte sie zaghaft. »Du willst es aber ganz genau wissen, was?«

Ich nickte. »Bitte, ich will alles darüber wissen.«

»Na schön, wenn es dich wirklich so interessiert ...«, lenkte sie schließlich ein. »Also, angefangen hat es in der Nacht, als wir auf der Insel übernachtet haben. Es waren viele Stimmen auf einmal, ganz leise, fast nicht wahrnehmbar. So ähnlich wie ein Tinnitus. Ich hab gedacht, dass es wieder weggeht. Und das ist es auch. Zumindest für kurze Zeit. Dann wurden die Stimmen immer lauter. Nur ich schien sie zu hören. Anfangs versuchte ich sie noch zu ignorieren, doch es wurde immer schwerer. Sie machten mich aggressiv. Ich verlor den Geduldsfaden ...«

An dieser Stelle musste ich an ihren Ausbruch denken, bei dem sie mich angegriffen hatte, nur weil ich an ihre Zimmertür geklopft hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sich das angefühlt haben musste. Sanft strich ich über ihren Handrücken.

»Irgendwann wurden aus dem monotonen Murmeln, Nuscheln und Zischeln richtige Stimmen. Sie versprachen mir Vergeltung – ich hab keine Ahnung wofür, aber sie lockten mich damit. Und mein Körper reagierte darauf. Ich fühlte mich stärker. Ich konnte Feuer aus meinen Händen entstehen lassen, Illusionen erzeugen, Dinge wieder heilen ... Ich weiß nicht, wozu ich noch fähig bin, aber diese Kraft berauscht mich. Und das macht mir Angst.« Der letzte Satz war nur noch geflüstert.

Eine Gänsehaut breitete sich über meine Arme aus. »Mein Gott ... das klingt ja, als wärst du besessen davon«, hauchte ich fassungslos.

»Ich fürchte, so ist es«, stimmte sie mir zu. »Die Stimmen wollen, dass ich etwas vernichte. Ein helles Licht, oder so etwas in der Art. Ich habe das Gefühl, dass sie dich damit meinen.«

Erschrocken hielt ich mir eine Hand vor den Mund. »Wieso glaubst du das?«

»Sie sprechen von dem Guten, dem Licht, der zweiten Hälfte ... Es klingt ziemlich kryptisch, aber das alles passt zu dir. Du bist meine zweite Hälfte. Du verkörperst das Gute, und in dir steckt das Licht. Ich kann es sehen.« Sie deutete auf meine Brust. Verwirrt folgte ich ihrem Finger. Doch ich sah nichts, nur das Shirt, das ich gerade trug.

Ich hob eine Augenbraue. »Wie soll ich das jetzt verstehen?«

»Halte mich bitte nicht für verrückt. Ich weiß, wie das klingt ... Aber ich kann Gut von Böse unterscheiden. Jeder Mensch trägt ein Licht in sich, das eine ganz bestimmte Farbe verkörpert. Deines ist hell, fast weiß, mit einem leicht bläulichen Schimmer. Es ist fast rein. Was bedeutet, dass du ein guter Mensch bist.«

Lange saß ich einfach nur da und versuchte das soeben Gehörte zu verstehen. »Hast du auch Oscars Licht gesehen?«, fragte ich nach einer Weile.

Zoeys Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. »Keine Sorge, er ist im grünen Bereich – im wahrsten Sinne des Wortes.« Sie zwinkerte mir zu. »Kritisch wird es erst, wenn das Licht rötlich oder schwarz schimmert, das heißt, der Mensch ist sehr anfällig für Gewalt und Tod.«

»Gut zu wissen ... Kannst du denn dein eigenes Licht auch sehen?«

Ihr Lächeln verrutschte ein wenig. »Ja, aber meins ist nicht ganz eindeutig. Es hat viele Farben. Ich gehöre also irgendwie dazwischen ...«

»Zurück zu den Stimmen, haben sie dir noch irgendetwas anderes verraten? Zum Beispiel, wer sie sind?« Langsam kam ich mir wie in einem Verhör vor. Immerhin sah Zoey weiterhin relativ entspannt aus. Es schien ihr gut zu tun, darüber reden zu können.

»Nicht wirklich. In diesem Punkt sind sie sehr geheimnisvoll. Es tut mir leid«, antwortete sie.

»Schon gut.« Ich winkte ab. »Das kriegen wir schon noch raus.«

Plötzlich vibrierte das Handy in meiner Tasche. Ich zuckte zusammen. Dann angelte ich es hervor. Oscars Name prangte auf dem Display.

»Geh schon ran«, forderte Zoey mich auf.

Ich drückte auf den grünen Hörer. »Was gibt's?«

Zuerst hörte ich nur ein Rauschen am anderen Ende der Leitung. »Kaycie! Ich hoffe, du bist mit Zoey wieder im Reinen?«, fragte Oscar, er klang etwas außer Atem.

»Ja, kann man so sagen«, gab ich zurück. »Warum?«

»Ich habe es herausgefunden! Ich bin gerade auf dem Weg zu euch, und gleich da ...« Im selben Moment brach die Verbindung ab.

»Was hat er gesagt?«, fragte Zoey.

»Er klang ziemlich aufgeregt. Er hat den Zeitpunkt ermitteln können.«

Zoeys Züge verhärteten sich. »Ich nehme mal an, das heißt, wir haben nicht mehr viel Zeit«, stellte sie trocken fest.

Bevor ich etwas erwidern konnte, waren Stimmen von der Haustür zu vernehmen. »Oh, hallo Oscar!«, rief Mom überrascht. Stand sie etwa immer noch in Gesellschaft des Misters da draußen? Just in diesem Augenblick erklang ein genuscheltes Brummen. Er wollte wissen, wer der Neuankömmling war.

Zoey seufzte genervt auf. »Dieser Typ ist nichts für Mom, wenn du mich fragst«, murmelte sie.

»Guten Tag, Mrs. Miles ... Sir«, grüßte Oscar höflich. »Ich wollte zu Kaycie. Darf ich reinkommen?«

Mom lachte. »Natürlich, du bist ein solcher Gentleman ... Wie kann man da ›Nein‹ sagen?« Sie klang ziemlich geschmeichelt.

Kurz darauf trat Oscar zu uns in die Küche. »Können wir irgendwo ungestört reden?«, fragte er.

Ich sprang auf. »Klar, in meinem Zimmer, kommt!«

Oscar klappte seinen Laptop auf, als wir in einem Kreis zueinander saßen. »Es bleibt nicht mehr viel Zeit«, verkündete er, seine Miene war todernst. Er bedachte uns beide mit einem durchdringenden Blick.

Zoey verschränkte die Arme vor der Brust. »Das war mir bereits klar«, zischte sie.

»Also du bist jetzt auf unserer Seite?« Oscar schien Zoey gegenüber äußerst misstrauisch zu sein. Wer konnte ihm das nach ihrer hinterhältigen Aktion schon verdenken?

Zoey schnaubte gereizt auf. »Im Moment, ja. Noch habe ich keinen weiteren Anfall. Das kann sich aber ganz plötzlich ändern, und es ist nicht beeinflussbar. Deshalb sollten wir das so schnell wie möglich hinter uns bringen«, meinte sie.

»Gut. Ihr werdet gleich sehen, dass uns auch gar nichts anderes übrigbleibt.« Oscar drehte den Laptop so, dass wir ebenfalls etwas von der Seite erhaschen konnten, die er aufgerufen hatte. Er deutete auf ein Bild, das viele Zirkel zeigte, aufgefächert wie die Jahresringe eines Baums, auf denen sich kleinere Kreise in unterschiedlichen Bereichen aufhielten. Jedoch näherten sie sich gefährlich einer Linie, die sie alle zusammen bilden würden. »Das ist eine Grafik, die anzeigt, wo sich die Planeten aktuell in ihrer Laufbahn befinden«, sagte er dazu. »Und hier ...«, Oscar scrollte weiter runter, wo lauter Zahlen aufgelistet waren, die für mich keinen Sinn ergaben, »... stehen ihre momentanen Platzierungen.« Er gelangte noch ein Stück hinunter, bis kurz vor dem Ende der Seite. »Und hier sind die Daten zu bestimmten Ereignissen verzeichnet.«

Spätestens jetzt sah ich genauer hin.

»Der nächste Vollmond ist in genau drei Tagen. In dieser Nacht laufen alle Planeten unseres Sonnensystems in einer Linie zueinander«, kam er zum Schluss.

»Verdammt«, fluchte ich. »Das ist in der Tat nicht viel Zeit.«

Oscar pflichtete mir mit einem knappen Nicken bei. »Wir sollten die Suche nach dem Stein am besten sofort in Angriff nehmen.«

Mondsüchtig | VerwandlungWhere stories live. Discover now