Kapitel 26 - Gewitterwolken

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Kaycie

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Schreiend wachte ich auf.

»Kaycie? Ist alles okay?«, fragte eine tiefe Stimme, die mir sehr bekannt vorkam. Doch irgendwie war mir das Gesicht und der Name dazu entfallen. Ich runzelte die Stirn, öffnete mühsam die Augen und sah mich um. Mir schlug das Herz bis zum Hals, mein Atem ging keuchend. Aber es beruhigte mich ungemein, eine vertraute Umgebung ausmachen zu können – mein Zimmer.

»Was ist passiert?«, krächzte ich. Meine Kehle fühlte sich wundgeschrien an, so trocken und rau, dass das Schlucken schmerzte.

Die tiefe, bekannte Stimme stammte von niemand anderem als Oscar, der mich sanft in seine Arme zog. Zärtlich strich er mir über den Rücken. »Ich habe dich in der Nacht nach Hause gefahren. Du hast völlig neben dir gestanden, als Zoey uns angegriffen hat«, erzählte er. »Hast du schlecht geträumt?« Kurz ließ er von mir ab, um mir besorgt ins Gesicht blicken zu können.

Unterdessen versuchte ich meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Ich habe von Zoey geträumt. Sie hat mich mit Feuer angegriffen ... es kam aus ihren Fingern! Ich stand in Flammen ... An mehr erinnere ich mich nicht ... Nur, dass es mir unglaublich starke Schmerzen bereitet hat.«

»Erinnerst du dich an letzte Nacht?«

Ich schüttelte den Kopf. »Es war Vollmond, stimmt's?« Darauf hatte ich mir bereits einen Reim gemacht. Genau wie letzten Vollmond fehlte ein entscheidender Teil meiner Erinnerung. Diesmal war ich mir allerdings nicht sicher, ob ich mich an das Erlebte überhaupt wieder erinnern wollte.

»Ja. Das war es«, bestätigte Oscar.

»Was ist mit Zoey?« Ich machte Anstalten aufzustehen und in ihrem Zimmer nachzusehen, Oscar hielt mich jedoch zurück.

»Sie ist auf der Insel geblieben ... Wir sollten sie suchen gehen«, meinte er.

Verblüfft starrte ich ihn an. »Sie ist einfach dort geblieben?«

»Ja, sie wollte nicht mit zurück. Vielleicht hat sie jetzt ihre Meinung geändert.« Offenbar konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Aha«, stieß ich humorlos aus.

»Was denn? Sie hat es verdient«, gab er zurück.

»Wenn du das sagst. Ich gehe jetzt zur Insel, und du kommst mit einem Boot nach«, bestimmte ich.

»Du magst sie trotz allem, hab ich recht?«

»Natürlich. Sie ist meine Schwester! Auch wenn sie sich manchmal echt danebenbenimmt, würde ich ihr immer helfen.« Mir entfuhr ein tiefes Seufzen. Ich konnte Zoey einfach nicht hassen. Seit ich denken konnte, war sie an meiner Seite. Und ich durfte sie jetzt nicht im Stich lassen, nur weil sie zurzeit einen Aussetzer hatte. Es musste einen Grund für ihr Verhalten geben, und ich wollte diesen unbedingt herausfinden. Das war ich Zoey schuldig. Wir steckten beide tief in diesem Schlamassel, aber es fühlte sich an, als wäre es allein meine Schuld, dass es überhaupt so weit gekommen war.

»Gut, ich helfe dir«, lenkte Oscar ein und brachte mich damit in die Wirklichkeit zurück.

Ich nickte. »Danke. Ich gehe dann wohl besser gleich los.« In Windeseile machte ich mich auf zur Insel. »Zoey!«, rief ich, als ich durch den dichten Wald stakste. »Zoey! Ich bin's, Kaycie! Wo steckst du?« Mein Echo hallte noch lange nach.

Hatte sie die Grotte inzwischen gefunden? Oder hatte sie sich, ganz allein, im Stockdunkel der Nacht verletzt? Meine Gedanken, die zunehmend beunruhigender wurden, nagten an mir. Schließlich kam ich an einer Lichtung heraus. Es war genau der Platz, an dem Zoey und ich unser Lager aufschlagen hatten – damals in der ersten Nacht auf der Insel. Heute war allerdings kein klarer Himmel zu sehen. Tiefhängende, dunkle Wolken zogen über mir vorbei. Die Luft war stickig und glich einer unsichtbaren Wand, die mich einengte. Man hörte kein Rauschen der Blätter. Nur ein paar vereinzelte Rufe von Vögeln. Ansonsten herrschte drückende, fast schon aufgeladene Stille.

»Du bist zurückgekommen«, sagte meiner Schwester unvermittelt. Ihre Stimme löste ein Prickeln in meinem Nacken aus. Ich war mir nicht sicher, ob von der guten oder schlechten Sorte. Sie klang weder wütend noch fröhlich. Irgendwie schien dieser Satz keine Emotionen zu besitzen. Ich drehte mich zu ihr um. »Warum?«, fragte sie.

»Warum ich zurückgekommen bin? Na, weil du meine Schwester bist, und ich mir Sorgen um dich gemacht habe. Ganz zu schweigen von Mom.« Ich biss mir auf die Unterlippe. Mom machte sich bestimmt um uns beide Sorgen. Wir waren gestern nicht zusammen aufgetaucht, und jetzt war ich schon wieder weg.

»Ich brauche dich nicht.« Es war nur ein Wispern, doch ich konnte es trotzdem verstehen. Jedes Wort.

»Warum sagst du so etwas?« Ich trat einen Schritt auf sie zu.

Wie angewurzelt blieb sie stehen, ein unheilvoller Ausdruck huschte über ihre Züge. »Weil es uns nun einmal vorherbestimmt ist.«

»Was?« Ungläubig hob ich eine Augenbraue. »Wie ...?«

»Verschwinde!«, rief Zoey plötzlich. Sie war so laut geworden, dass es in meinen Ohren schrillte. Ich zuckte heftig zusammen.

Als ich mich nicht rührte, kam sie mit schnellen Schritten auf mich zu und packte mich am Kragen. »Ich brauche dich nicht«, wiederholte sie. »Geh mir aus den Augen!«

»Zoey, was ist mit dir passiert?«, flüsterte ich, obwohl ich wusste, dass ich darauf keine Antwort bekommen würde.

Sie erklärte nicht einmal das, was sie soeben angedeutet hatte. Ihre blauen Augen verdunkelten sich, bis sie beinahe schwarz funkelten. Der Himmel über uns verfinsterte sich ebenfalls. Ein Donnergrollen war von Weitem zu hören. Dann heulte ein kühler, starker Wind über die Lichtung, ließ die Blätter rauschen und Zoeys Haare wehten ihr wie eine zusätzliche Drohung um das Gesicht. Unwillkürlich lockerte sie ihren Griff, und ich wich zurück. »Ein Gewitter zieht auf«, sagte sie wieder so tonlos, wie am Anfang unserer Unterhaltung.

Obwohl ich ihr helfen wollte, sie mit mir nach Hause nehmen wollte, sie einfach nur umarmen wollte, trugen mich meine Füße immer weiter weg von ihr und der Lichtung. Ich kam gerade am Strand an, als die Wolken aufbrachen und es in Strömen anfing zu regnen. In der Ferne zuckten grelle Blitze über den Ozean. Es donnerte laut. Mit absoluter Gewissheit war dieses Gewitter nicht natürlichen Ursprungs. Zoey hatte etwas damit zu tun.

Unsanft klatschte ich in meiner Meerjungfrauengestalt auf den sandigen Boden. In einiger Entfernung konnte ich ein kleines Boot ausmachen. Vermutlich war das Oscar, der uns alle wieder nach Hause bringen sollte. Nur wurde daraus nichts. Und was zum Teufel sollte ich Mom erzählen? Es tut mir leid, aber Zoey möchte nichts mehr mit mir zu tun haben, und versteckt sich deshalb viel lieber auf einer einsamen Insel? Nein, es wurde langsam Zeit für die Wahrheit. Ich musste mit ihr reden. Ich musste ihr alles erzählen.

»Kaycie?«, rief Oscar. Er hatte den Strand fast erreicht. Seine Klamotten klebten ihm triefnass am Körper, und ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil er sich nun umsonst die Mühe gemacht hatte, hierher zu kommen.

Die Regentropfen waren groß und kalt und langsam fühlte es sich unangenehm auf der Haut an, die Haare fielen mir pitschnass ins Gesicht. Das Wetter spiegelte die Gefühle wider, zu denen ich nicht fähig war: In mir herrschte eine Leere, wie ich sie noch nie zuvor verspürt hatte.

Oscar blickte sich suchend um. »Wo ist Zoey?«

»Sie wird nicht mitkommen. Dreh um!«, rief ich zurück. Ich robbte ins Wasser und schwamm auf das Motorboot zu.

»Was ist denn passiert?«

»Ich glaube, sie möchte nichts mehr mit mir zu tun haben«, erklärte ich möglichst gleichgültig.

Doch in Wahrheit versetzte es mir einen schmerzhaften Stich. Sie hatte mich verlassen. Meine Schwester. Meine Seelenverwandte. Ich dachte immer, ein gebrochenes Herz würde nur von der Liebe kommen, doch anscheinend konnte die Liebe zu einem Familienmitglied genauso schmerzhaft gebrochen werden. Ich hörte das Band, das uns über all die Jahre hinweg verbunden hatte, nahezu reißen.

Mondsüchtig | VerwandlungWhere stories live. Discover now