6. Kapitel

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Nicolas POV

Sachte baumeln meine Beine über den Rand des kleinen Balkons, der sich auf der Rückseite der Forschungseinrichtung befindet. Der kühle Wind weht durch meine frisch gefärbten Haare und ich blicke in die Ferne, dorthin, wo das Königreich der Averanti liegt. In der sternenklaren Nacht meine ich sogar dort einige Lichter am Horizont erkennen zu können.

Nur noch wenige Stunden und ich werde selbst dort sein. Ehrlich gesagt bin ich mir noch nicht ganz sicher, wie ich mich dabei fühlen soll. Ob man's glaubt oder nicht, aber ich bin momentan keineswegs aufgeregt, was wahrscheinlich daran liegt, dass es sich noch immer etwas surreal anfühlt, dass ich das hier wirklich durchziehen werde und auf Mission gehe. Aber spätestens wenn ich im Hubschrauber sitze, wird mich die Aufregung überkommen.

Trotzdem merke ich, wie sich langsam Bedenken in mir breit machen. Es steht wirklich unglaublich viel auf dem Spiel und die gesamte Aktion hier ist ja nun doch etwas überstürzt. Was wenn ich einen Fehler mache und auffliege? Das Leben der Agenten hängt von meinem Erfolg ab.

Reicht eine andere Haarfarbe wirklich aus, um meine wahre Identität zu verschleiern? Insbesondere bei meinem Vater frage ich mich, ob er mich erkennen wird. Immerhin kannte er mich besser als jeder andere.

Und vor allem: Was würde er tun, wenn er mich erkennen würde? Würde er mir helfen oder mich verraten?

Bestimmt schüttele ich den Kopf. Auch wenn ich mir Sorgen mache, kann ich jetzt keinen Rückzieher machen. Einerseits weil ich Lance jetzt schon so viel Arbeit bereitet habe und andererseits weil ich das auch gar nicht will. Denn zugegebener Maßen vermisse ich Dad schon und freue mich trotz seiner Taten darauf ihn wiederzusehen.

Mittlerweile merke ich nun doch, wie ich langsam nervös werde, weswegen ich versuche mich etwas abzulenken indem ich mir eine Kopie der gestohlenen Liste unserer Agenten ansehe. Damit ich weiß wen ich warnen muss, meinte Lance, als er sie mir vorhin in die Hand gedrückt hat.

Zusätzlich sehe ich mir Ben's Akte nochmal an. Obwohl ich mich bereits seit mindestens zwei Stunden damit beschäftige, bin ich immer noch nicht viel schlauer was das angeht. Außer einem einfachen Steckbrief und ein paar Hintergrundinformationen, bin ich nicht wirklich fündig geworden. Es steht einfach nichts wirklich Sinnvolles darin, dass mir helfen könnte, in seine Rolle zu schlüpfen.

Die Averanti mögen zwar noch nicht großartig mit ihm Kontakt gehabt haben, aber schon der kleinste Fehler meinerseits könnte meine Tarnung verraten. Und das ist ein großes Risiko. Eines, dass ich zwar vermeiden möchte, aber leider nicht umgehen kann.

Seufzend werfe ich die Akte weg. Naja, immerhin weiß ich jetzt, dass dieser Ben sich als Kind mal das Steißbein geprellt hat, als er von einer Schaukel gesprungen ist.

Klingt zwar absurd, aber solche Dinger hab ich auch schon hingekriegt. Ich habe mir mal eine Rippe gebrochen, als ich vom Klettergerüst auf einen Besen gefallen bin. Glaubt mir, die Kanten sind hart. Ich weiß wovon ich rede.

Tatsächlich passiert mir sowas relativ häufig. Erst letzte Woche habe ich mir beim Zweifelderball den kleinen Finger an einem Softball geprellt, weil ich den so ungünstig gefangen habe. Der Arzt meinte später, dass ich Glück hatte, dass der nur geprellt und nicht gebrochen war. Ich weiß auch nicht was das ist. Das Unglück sucht mich einfach heim.

Leon sagt immer, dass ist ein Zeichen des Himmels. Da frage ich mich dann: Aber wofür denn? Was habe ich dem Himmel denn getan um so viel schlechtes Karma zu verdienen?

Apropos Leon. Wie sehr wünsche ich mir gerade, dass er jetzt hier wäre und mir seelische Unterstützung leisten würde. Er ist nämlich von Lance losgeschickt worden, um seiner Mutter zusagen, dass es heute etwas länger im Labor dauern könnte. Und so wie ich Lauren kenne, wird sie ihn bestimmt noch voll quatschen, weswegen er vermutlich erst in einer Stunde wieder da sein wird. In der Zwischenzeit arbeitet Lance noch ein bisschen in seinem Labor, während ich hier sitze und warte, dass die Farbe trocknet.

Ich bin also ganz allein hier und hänge in Ruhe meinen Gedanken nach. Nach einer Weile merke ich jedoch, dass jemand den Balkon betreten hat.

Da nur noch eine weitere Person ist, sage ich ohne mich umzudrehen das, was mich schon die ganze Zeit beschäftigt: ,,Ich hätte nicht gedacht, dass du mich einfach so gehen lassen würdest." Ich muss gestehen, dass ich mit vielem gerechnet hatte, aber nicht damit, dass er mich tatsächlich gehen lassen würde. Eigentlich wollte ich ihn vorhin auch schon deswegen fragen, aber ich wollte mit ihm unter vier Augen darüber reden.

Ich höre wie sich seine Schritte nähern. ,,Ich weiß, dass ich dich nicht hätte aufhalten können.", sagt Lance lachend, ,,Du bist deinen Eltern sehr ähnlich." Ich schnaube verächtlich. ,,Deshalb tue ich wahrscheinlich auch das was ich tun werde."

Ich höre ihn leise lachen und merke dann, wie er sich neben mich an den Rand das Balkons setzt. Ein angenehmes Schweigen breitet sich zwischen uns aus. Plötzlich wird mir bewusst, dass ich Lance fragen könnte. Vielleicht weiß er ja eine Antwort auf all die Dinge, die Mum mir nie beantwortet hat. Immerhin kennt er Dad ja auch schon aus ihrer Schulzeit. Zwar wird er nicht über alles Bescheid wissen, was so vorgefallen ist, aber zumindest könnte er mir eine neue Perspektive auf die Dinge geben.

,,Wie war mein Vater damals eigentlich so?", durchbreche ich die Stille schließlich und sehe Lance erwartungsvoll an. Ich meine, ich weiß wie er sich mir gegenüber verhalten hat. Aber er ist ja auch mein Vater. Wie war er bei anderen? Ein Mensch wird nicht von heute auf morgen böse. Gab es vielleicht damals schon irgendwelche Anzeichen, die nur niemand mitbekommen hat?

Lance scheint kurz überrascht zu sein, bevor er mir antwortet: ,,Er war schon immer krasser als alle anderen und sehr mysteriös. Und ich muss gestehen, wenn ich nicht wüsste, dass er ein Spion ist, hätte ich gedacht er wäre gar kein Mensch. Eigentlich hätte ich mit seiner wahren Identität rechnen müssen. Immerhin war er immer kalt und hat sich nie um jemanden gekümmert."

Er überlegt kurz und fügt dann noch hinzu: ,,Obwohl es bei deiner Mutter immer anders war. Du hättest mal sehen sollen wie er ihr wie ein liebeskranker Welpe hinterhergelaufen ist. Gegen sie konnte er sich einfach nicht durchsetzen. Schon nach ihrer ersten Begegnung war er absolut verzaubert von ihr. Und das obwohl sie ihm sein T-Shirt geklaut hat."

Bei der Erinnerung lächelt er melancholisch. Auch ich muss unwillkürlich lächeln. Ehrlich gesagt habe ich die Liebe meiner Eltern immer bewundert. Sie war aufrichtig und voller Gefühl für den Anderen. Sie waren ein perfektes Paar. Dachte ich zumindest immer. Aber bekanntlich gibt es in jeder Beziehung dunkle Geheimnisse und das haben wir auch bald gemerkt.

,,Oder als Jane während ihrer Schwangerschaft mit dir von einem Auto angefahren wurde.", erzählt er weiter, ,,Du kannst dir nicht vorstellen wie verrückt er nach dem Fahrer gesucht hat." Ich reiße erschrocken die Augen auf. ,,Mum hatte einen Unfall? Davon habe ich nie etwas gewusst. Ist ihr etwas passiert?"

Lance winkt ab. ,,Keine Sorge. Abgesehen von einem gebrochenem Bein ist ihr nichts Schlimmes geschehen. Aber der Fahrer, ein Mann namens Erik, hat Fahrerflucht begangen und wurde nie gefasst. Es wurde letztendlich als Unfall verbucht. Obwohl Kaden davon überzeugt war, dass es kein Unfall, sondern Absicht war."

,,Wirklich?", frage ich ungläubig. Lance nickt. ,,Später hat man allerdings die Leiche des Fahrers zusammen mit denen von feindlichen Agenten gefunden. Man hat den Vorfall geheim gehalten um keine Panik in der Gesellschaft zu schüren. Ich weiß auch nur davon, weil Enzo dass erzä-."

Ertappt bricht er seinen Satz ab und sieht besorgt zu mir. So als hätte er mehr gesagt, als er sollte und gehofft, dass ich es nicht gehört habe. Aber ich habe sehr wohl gehört, was er gesagt hat.

Er hat einen Namen erwähnt. Enzo. Ich erinnere mich zwar nur vage an ihn, aber ich weiß, dass er ein guter Mensch war. Und Mum's bester Freund noch dazu. Er ist eines Tages einfach verschwunden und Mum weigert sich darüber zu reden. Aber das braucht sie auch nicht. Ich habe seinen Namen auf einer Gedenktafel im Hauptquartier gesehen, weshalb ich mir eigentlich schon denken kann, was mit ihm passiert ist.

Die Frage ist nur, wie er gestorben ist. Aber auch das kann ich mir eigentlich selbst beantworten. Allein, dass er an dem Tag verschwunden ist, an dem Dad aufflog und dass Mum nicht drüber reden möchte, sagt mir, dass mein Vater etwas mit seinem Tod zu tun hatte. Womit ich wieder auf seine mir unbekannte Vergangenheit und den eigentlichen Grund meiner Mission zurückkomme.

Ich nehme einen tiefen Atemzug und drehe mich zu Lance, um ihm fest in die Augen zu sehen. Dann nehme ich all meinen Mut zusammen und frage:

,,Was ist damals eigentlich genau passiert?"

Undercover SonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt