7. Kapitel

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Nicolas POV

Nachdem ich die Frage, die mir so brennend auf der Seele liegt, ausgesprochen habe, wird es schlagartig still. Lance starrt mich an und mustert mein Gesicht nach Anzeichen, ob ich spaße oder es ernst meine. An meinem entschlossenen Gesichtsausdruck scheint er Letzteres festzustellen, weswegen er mit einer Gegenfrage antwortet: ,,Wieso fragst du auf einmal danach?"

Ich kann mir gut vorstellen, was gerade in ihm vorgeht. Er überlegt ob er es mir erzählen soll oder nicht. Wahrscheinlich hat auch ihn der Verrat meines Vaters schwer getroffen. Immerhin waren sie beste Freunde. Aber ich werde jetzt nicht nachgeben. Nicht wo ich so kurz vor der Wahrheit stehe.

,,Es könnte für die Mission relevant sein.", überlege ich mir rasch eine Ausrede. ,,Und außerdem habe ich das Recht es zu wissen.", füge ich noch leise hinzu.

Nie hat mir jemand etwas darüber erzählt. Egal wen ich gefragt habe, nie erhielt ich die Antwort, die ich brauchte. Nach der ich mich so sehr sehnte. Das einzige was ich bekam, waren lächerliche Ausflüchte mit denen sie glaubten mich abwimmeln zu können. Manchmal glaube ich, dass einige einfach nur zu stolz dazu waren sich einzugestehen, dass sie jahrelang ihrem größten Feind vertraut haben. Dabei vergaßen sie wohl, dass es für mich hier nicht um Stolz, sondern um meinen Vater geht.

Und langsam mache ich mir auch etwas Sorgen. Was hat er denn so Schlimmes getan, dass alle so tun als wäre er der Teufel höchstpersönlich? Es ist nicht so, dass ich Angst vor der Wahrheit habe, sondern ich frage mich eher, ob ich das verkraften kann. Mum hatte einen Grund, weshalb sie es mir nie erzählt hat und mir ist klar, dass die Wahrheit meine Sicht auf ihn vollkommen verändern wird.

,,Bitte.", setze ich flehend hinterher, als ich merke, wie seine Gesichtszüge weicher werden. ,,Fein.", gibt er seufzend nach und sieht mich traurig an, ,,Ehrlich gesagt weiß ich nicht genau, was ich dir sagen soll. Ich war zwar dabei ja, aber ich war noch lange nicht in alles eingeweiht. Einige Dinge wissen nur deine Mutter und dein Großvater."

Er sammelt sich kurz und scheint zu überlegen, wie er es mir erzählt. Schließlich beginnt er: ,,Du erinnerst dich doch sicherlich noch an Enzo, oder? Du warst zwar damals noch relativ klein, aber ihr habt euch immer recht gut verstanden."

,,Ja klar. Er war Mum's bester Freund." Lance nickt bedrückt.

,,Ich weiß zwar nicht genau wie, aber Enzo hat damals herausgefunden, dass Kaden der Verräter ist. Aber anstatt irgendwem davon zu erzählen, hat er ihm eine Falle gestellt und ihn in einen verlassenen Kommunikationsraum gelockt. Dort hat er eine Kamera installiert, die das gesamte Geschehen live auf einen Stick übertragen hat. Diesen hat er deiner Mutter gegeben, damit sie aufpasst und das Videomaterial zu ihrem Vater bringt, falls ihm etwas passieren könnte."

Lance bricht ab und starrt ins Nichts. Eigentlich muss er nicht weiter reden. Ich kann mir schon denken was passiert ist. Kurze Zeit später fährt er fort: ,,Sicherlich hast du schon eine Ahnung von dem was dann geschah. Es lief nicht so wie es sollte und Kaden hat Enzo getötet. Erst später hat Lauren mir erzählt, dass Jane sogar vor Ort war um Enzo zu beschützen, aber letztendlich nichts tun konnte. Stattdessen hat Lauren die Kamera überwacht."

Ich schnappe laut hörbar nach Luft und Lance stoppt erneut seine Erzählung. Nur diesmal nicht, weil es ihm zu viel wird, sondern weil ich das erst mal verarbeiten muss.

Ich kann mir gar nicht vorstellen wie das sein muss, wenn die Person, die man liebt, seinen besten Freund vor den eigenen Augen tötet. Das erklärt so einiges.

Jetzt verstehe ich endlich, warum Mum nie über Dad geredet hat. Sie hat sich schuldig deswegen gefühlt. Nicht nur dass er sie verraten hat, nein, er hat auch unzählige Menschen getötet. Soweit ich weiß, kannte sie viele der Opfer sogar persönlich. Insbesondere Enzo, dessen Tod sie ja anscheinend miterlebt hat.

Aber vor allem wollte sie mich schützen.

Damit ich nicht den gleiche Schmerz wie sie spüre.

,,Was ist dann passiert?", frage ich leise, nachdem ich mich wieder beruhigt habe. Ich sehe wie Lance tief durchatmet, bevor er fortfährt: ,,Am nächsten Tag, bei einer Sondersitzung hat man dann das Videomaterial gezeigt und wollte ihn fassen. Allerdings konnte er damals entkommen. Seitdem haben wir nichts mehr von Kaden gehört. Im Nachhinein wurden ihm aber noch mehrere Dutzend ungeklärte Morde der letzten Jahre zugeschrieben."

Er seufzt traurig. ,,Es hat Enzo das Leben gekostet, aber er hat auch die Wahrheit ans Licht gebracht. Wieso er uns damals nicht direkt etwas gesagt hat, ist mir bis heute schleierhaft. Vielleicht wäre er dann noch am Leben. Aber wenn er damals nicht gewesen wäre, würden wir es vielleicht sogar bis heute nicht wissen.", endet Lance schließlich.

Es fühlt sich wie ein Schlag ins Gesicht an. Es ist eine Sache, dass Dad ein feindlicher Agent ist und damit könnte ich sogar noch leben. Ich weiß ja nicht, was er so durchgemacht hat. Aber jetzt wo ich weiß, dass er ein Mörder ist, ändert das alles. Er hat Menschen getötet. Unschuldige Menschen mit Familien. Auch wenn es zu seiner Mission gehörte, ist das einfach unverzeihlich.

Gedankenverloren starre ich in die Ferne. Was ist, wenn er all die Male, die er spät nach Hause gekommen ist, jemandem das Leben genommen hat?

Mir wird plötzlich klar, dass Dad aus einer ganz anderen Welt stammt und ich ihn eigentlich gar nicht kenne. Er ist mit Gewalt aufgewachsen und vielleicht ist es für ihn sogar so etwas wie normal. Dabei läuft mir ein eiskalter Schauder über die Wirbelsäule. Das ist so falsch. So etwas sollte niemals als normal angesehen werden.

Ich habe nie verstanden, wie man jemanden töten kann. Natürlich gibt es Unfälle und auch wenn es zur Notwehr ist, könnte ich es noch verstehen. Aber es gibt auch Menschen, die ohne einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden, töten würden. Menschen, die ihr Tun mit Rache rechtfertigen oder es sogar beruflich tun. Wie kann man ein Menschenleben nehmen, wohlwissend, dass es danach endgültig und unwiderruflich weg ist? Mit welchem Recht?

Ich könnte das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.

Eigentlich habe ich kein Recht dazu irgendwen zu verurteilen. Ich bin behütet und beschützt groß geworden und musste noch nie den Ernst der Welt spüren. Natürlich ist da die Sache mit meinem Vater, aber das ist wohl nichts im Vergleich zu den Schicksalen anderer Menschen. Wahrscheinlich bin ich deswegen auch so idealistisch. Ich hätte es zwar gerne, dass es keine Ungerechtigkeiten auf der Welt mehr gibt und dass jeder jeden gut behandelt, doch so ist die Welt nun mal nicht. Es gibt viel zu viel Armut und Menschen, die viel Leid in ihrer Vergangenheit gespürt haben und weiterhin spüren werden.

Aber rechtfertigt eine schwierige Vergangenheit es einen Menschen zu töten?

Genauso gut weiß ich, wie einfach das dahin gesagt ist. In der Theorie mag das Alles vielleicht logisch erscheinen, aber wie sieht das in der Realität aus? Gefühle kann man nun mal nicht kontrollieren und viele Handlungen passieren einfach aus dem Affekt heraus, obwohl man sie im Nachhinein vielleicht bereut bzw. sie im Normalfall niemals getan hätte. Ich bin das beste Beispiel dafür. Mein Entschluss zu den Averanti zu gehen ist keineswegs rational und beruht hauptsächlich auf der Emotionalität des Moments. Hätte Adam auf dem Ausflug nicht geplappert und mich so ins Grübeln versetzt, hätte ich wahrscheinlich nie etwas davon gewusst und würde jetzt wahrscheinlich nicht hier sitzen.

Aber egal wie ich zu diesem Thema stehe, bei den Averanti herrschen andere Regeln. Gewalt steht auf der Tagesordnung und um nicht aufzufliegen, muss ich mich an sie anpassen, denn auch auf Lehrlinge nehmen sie keine Rücksicht. Was unter anderem bedeutet, dass ich anderen Menschen Schmerzen zufügen muss oder selbst leiden muss.

Es ist sozusagen Survival of the fittest.

Passe dich an und du lebst. Falle auf und du stirbst.

Als Lance merkt wie sehr mich das Ganze mitnimmt, legt er mir seine Hand auf die Schulter und blickt mir fest in die Augen. ,,Was ich damit sagen will: Egal was du raus finden solltest, vergiss eines nicht: Er hat euch geliebt. Davon bin ich überzeugt." Dabei sieht er mich aufrichtig an. Ich lächle traurig. ,,Das habe ich schon so oft gehört."

Und trotzdem konnte ich mich noch nicht vollständig überzeugen.

Undercover SonWhere stories live. Discover now