Kapitel 27 - Er war ein Arsch

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"Also hab ich dir hiermit nicht den Abend versaut?", fragt Harry und fasst sich gespielt ernst ans Herz. 

"Nein, hast du nicht" Mein Blick noch immer auf den rosa Himmel über uns gerichtet. "Ganz und gar nicht."

Ich spüre wie das Leder von den Sitzen neben mir ein wenig runter geht, weil Harry sich neben mich setzt und den Kopf in den Nacken legt, seine Augen schließt und seine Sonnenbrille in sein T-Shirt klemmt. "Als ich hier vor Jahren das erste Mal war, hab ich mich sofort in diesen See verliebt. Die alten Besitzer der Gaststätte wollten erst alles abreißen, aber dann hat mein Dad beschlossen einfach alles zu kaufen, auf meinen Wunsch. Es hat zwar jede menge Geld gekostet, aber es hat sich gelohnt."

"Ich bin froh, dass dein Vater auf dich gehört hat." Gemütlich lasse ich mich in die Bank hinter dem Steuer sinken.

Ich muss wieder an das Gespräch mit Susan denken. Was hatte sie bloß damit gemeint, als sie sagte, dass es mit ihm immer schlimmer wird und er nicht weiß, wie er 'damit' umgehen soll? Ich würde Harry unglaublich gerne danach fragen, aber ich denke, dass es zu viel wäre. Immerhin sind wir nicht schon jahrelang befreundet. 

Die Sonne verschwindet immer mehr hinter dem Horizont und ich wünschte sie könnte noch länger da bleiben, wo sie gerade steht. Ich schätze, dass sie in fünfzehn Minuten komplett verschwunden ist. 

"Erzähl mir ein Geheimnis", meint Harry. 

Ich sehe ihn stirnrunzelnd an. "Ein Geheimnis?" 

"Ja, irgendetwas was niemand weiß."

"Dann ist es doch aber kein Geheimnis mehr."

Harry zuckt mit den Schultern und hat die Augen immer noch geschlossen. "Ich werde es niemandem erzählen."

Ich überlege. "Ich habe mal ein Füller aus einem Drogeriegeschäft geklaut."

Harry lacht laut auf und richtet sich auf. "Raven, ich wusste gar nicht, dass du so kriminell bist."

"Ich war damals sieben", erzähle ich und verdrehe die Augen.

"Du hattest mit sieben schon das Bedürfnis Schulutensilien aus Läden zu stehlen? Was warst du denn für ein fanatischer Streberling?" 

"Hey! Einen Laptop hatte ich damals noch nicht und ich wollte nicht mit Bleistiften schreiben. Ich mochte schon damals, als ich das erste Mal mit einem Füller meines Vaters geschrieben habe, das Kratzen der Spitze auf dem Papier."

"Klingt nach einer aufregenden Kindheit."

Ich seufze und lehne meinen Kopf an den Rand des Bootes und schließe die Augen. "Ich wusste halt schon von klein auf, was ich wollte."

Die Sonne wird immer kleiner und die Temperatur fängt an zu sinken. 

Harry lehnt sich jetzt auch wieder zurück. "Was haben denn deine Freunde dazu gesagt?" 

Ich zucke mit den Schultern. "Ich hatte nie wirklich Freunde."

"Du meinst", Harry richtet sich wieder auf und sieht mich ernst an, "du hast schon von klein auf jegliche Freundschaften abgeblockt?"

Ich öffne meine Augen und sage: "Ich musste nichts abblocken, was mir nicht angeboten wurde."

"Du willst mir doch nicht erzählen, dass du absolut keine Freunde hattest, bevor du aufs College gekommen bist."

"Ich hab Scar, sie ist meine beste Freundin."

"Und dein Freund in der zehnten Klasse, wovon du damals in der Bar erzählt hast? Was war mit ihm?"

"Er war mehr nur eine gezwungene Erfahrung. Scar hatte damals ständig wechselnde Freunde und ich hab mich quasi dazu genötigt gefühlt auch endlich einen zu haben. Aber eigentlich konnte ich ihn nie ausstehen. Er war ein Arsch."

"Wieso?" 

"Er hat...,", sage ich unsicher. "Ach, ist doch egal." Ich richte mich auf und reibe mir über die Arme, um  mich aufzuwärmen. 

"Was hat er?"

Ich reibe mir unsicher über die Stirn. Wieso ist er so neugierig? 

Ich seufze ergeben. "Er fand es immer total bescheuert, dass ich geschrieben habe und hat sich ständig über mich lustig gemacht, wenn er bei mir Zuhause war und die ganzen vollgeschrieben Blöcke und meine Bücher gesehen hat. Er hat immer gesagt, dass sowas nur Loser ohne Freunde machen. Loser, die sich ihre eigenen Freunde erschaffen müssen, um nicht allein zu sein." Meine Stimme ist leise.

Es ist das erste Mal, dass ich das jemandem erzähle. Und erst jetzt fällt mir auf, wie sehr mich das eigentlich verletzt hat. 

Ich atme einmal tief. "Ich hab mir das fünf Monate angehört. Bis... nunja, bis er mit mir geschlafen hat." Vor Harry ist mir das unheimlich unangenehm und ich fühle mich wie eine Schlampe. "Er meinte, dass ich erst einen richtigen Freund in ihm habe, wenn ich mit ihm schlafe und dann hab ich es einfach getan. Vorher hab ich mir total die Kante gegeben." Ich lache bitter, versunken in diesen schrecklichen Erinnerungen. "Er hat überall rumerzählt, wie ich nackt aussehe und ich - ich zitiere - 'Unter ihm gejammert habe, wie eine Jungfrau'. Er wusste nicht, dass ich Jungfrau war, es war mir immer unangenehm, weil er schon so viel Erfahrung hatte und ich... naja, keine hatte. Daraufhin habe ich mich endlich von ihm getrennt." 

Harry sieht mich mitleidig an, es ist das erste Mal, dass ich so einen Gesichtsausdruck bei ihm sehe. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn mag oder nicht. Ich will, dass er mich anlächelt und nicht, dass er mich besorgt anblickt.

Er merkt, dass ich friere, zieht eine Decke aus einem Kasten und legt sie um uns beide. "Und dann? War alles wieder gut?", fragt er leise. 

Ich starre auf meine Hände und schüttle mit dem Kopf. "Zwei Tage später hat er bei uns geklingelt, als ich nicht Zuhause war. Mein Vater wusste nicht, dass wir nicht mehr zusammen waren und hat ihn in mein Zimmer gelassen, um auf mich zu warten. Das Resultat war, dass er alle meine Blöcke und Bücher mitgenommen hat und sie in seinem Garten  verbrannt hat."

Harry reißt ensetzt seine Augen auf und atmet erschrocken die Luft ein. 

"Er hat mir nichts gelassen. Kein einziges Stück Papier. Von der ersten bis zur zehnten Klasse, es war alles weg." Meine Stimme bricht ab und erst jetzt merke ich, dass mir eine Träne über die Wange rinnt. 

Ich hätte niemals gedacht, dass mich die ganze Sache so verletzlich macht. Nachdem Ich mich von ihm getrennt habe, habe ich mich nicht mehr wirklich damit befasst, sondern habe einfach weiter gemacht.

"Oh, Gott" , lache ich und wische mir die Träne schnell von der Wange. "Ich sitze hier und weine wie ein Idiot, tut mir Leid." 

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