Kapitel 59 - Und sie sind?

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"Danke, danke, danke! Ich hab schon sooo lange gewartet. Schon hundert Stunden!" Sie setzt sich wieder ins Bett und hält ihre zehn Finger hoch.

Jetzt, wo ich sie näher betrachte, fällt mir erst die rote Narbe an ihrer rechten Schläfe auf. Die hatte sie das letzte Mal noch nicht, als sie in der Kirche war.

"Hundert Stunden schon?", fragt Harry sie und fasst sich sich an die Wangen, damit er auch richtig entsetzt aussieht. "Aber ich war doch gestern erst hier. Wie kann das denn sein?"

Tammy verschränkt beleidigt die Arme und schnaubt. "Hundert Stunden, Hazza."

Bei dem Spitznamen muss ich wieder schmunzeln. Ich muss mir auf jeden Fall angewöhnen, ihn auch so zu nennen. Es klingt wirklich süß, wenn Tammy das sagt.

"Okay, hundert Stunden." Harry lacht. "Was hältst du denn davon, wenn Raven und ich dich zu einem Eis einladen?"

Ich runzle die Stirn. Davon wusste ich aber nichts. Mein Herz springt aber trotzdem bei der Vorstellung mit Harry und Tammy auf einer Bank zu sitzen und Eis zu essen. Wie eine kleine Familie.

"Ja, ja, ja", freut sich Tammy und klatscht vor Aufregung in die Hände. "Das ist wenigstens leckeres Essen. Das Essen hier ist total widerlich."

Harry lacht laut und hält ihr den Mund zu, weil gerade eine Krankenschwester vorbei läuft und uns komisch beäugt. "Sag sowas nicht so laut, sonst bemalen dich die Schwestern nächste Nacht, während du schläfst."

Die Schwester, die uns komisch angesehen hat, schnaubt laut und macht einen Abgang.

Ich muss leise lachen und sehe ihr hinterher.

"O je", macht Tammy und hält sich jetzt selbst den Mund zu. "Nicht schon wieder."

"Nicht schon wieder?", frage ich verwirrt. Die Schwestern werden sie ja wohl nicht in der Nacht angemalt haben?

Tammy nickt heftig. "Ja! Als ich einer Schwester mal gesagt habe, dass ich nicht in dieses doofe - "

"Tammy, Ausdrucksweise", wirft Harry ein.

Sie rollt die Augen und fährt fort. "Dass ich nicht in dieses wunderschöne Plastikding machen möchte, weil das eklig ist, hat sie mich in der Nacht angemalt. Ich hatte am nächsten Morgen Schnurrhaare auf meinen Wangen und einen Punkt auf der Nase." Sie zeigt auf ihre Nasenspitze.

Mir klappt die Kinnlade runter und ich sehe entsetzt von Tammy zu Harry, der aber nur breit grinst.

"Das hast du nunmal davon, wenn du so frech bist", sagt er zu Tammy und stupst ihre Nase an. "Dann wirst du halt zur Katze."

"Wow. Das ist sehr... außergewöhnlich", keuche ich leicht lachend.

"Ja", kichert Tammy. "Aber ich fand die Bemalung eigentlich ganz schön. Ich war traurig, als sie nach der Zeit wieder abgegangen ist."

"Das glaube ich dir sofort. So eine coole Katzenbemalung hat nicht jeder."

Harry will gerade etwas sagen, wird aber dann von einer Stimme hinter mir unterbrochen.

"A Tammy, wie ich sehe hast du wieder die beste Laune, die man so früh am Morgen haben kann", sagt ein Mann in einem weißen Kittel. Er ist unübersehbar ein Arzt hier. Er sieht sehr autoritär aus, denn ich würde ihn auf ungefähr Anfang fünfzig schätzen und seine Brille, die ihm um den Hals hängt strahlt noch eine gewisse Bildung aus. Na ja, er muss ja gebildet sein, wenn er Arzt ist. "Und guten Morgen, Harry." Er schüttelt Harry's Hand und nickt.

"Morgen, Robert. Wie ich sehe hattest du mal wieder eine harte Nacht. Aber zum Glück sieht man dir die Müdigkeit kaum an." Harrys Sarkasmus ist unüberhörbar.

Und mal wieder wundere ich mich, warum Harry mit jeder Menschenseele so bekannt ist, dass jeder sein bester Freund sein könnten. Selbst, wenn es ein Arzt im Hospital ist. 

Ich spähe auf das Namensschild des Arztes und sehe, dass das hier vor mir der besagte Doktor McQueen ist, Tammys behandelnder Arzt. Deshalb kennt Harry ihn wahrscheinlich so gut. Weil Harry so oft hier her kommt und ja quasi der einzige Ansprechpartner ist, wenn es um Tammy's Zustand geht.

Doktor McQueen zieht sich seine Brille auf die Nase und sieht auf sein Klemmbrett. "Hüte bloß deine Zunge, junger Mann. Ich hoffe, dass du später einen Beruf haben wirst, in dem du noch weniger schlafen wirst, als ich." Er sieht jetzt zu mir und schaut mich über den Rand seiner Brille an. "Und sie sind?"

Ich will gerade den Mund öffnen, um etwas zu sagen, Harry spricht aber dazwischen. "Robert, das ist Ravely. Sie ist eine Freundin von mir und besucht heute mit mir Tammy."

Ich lächle nur und Doktor McQueen sieht mich skeptisch an. "Ach, tatsächlich? Haben sie ihren Impfpass mitgebracht?"

Verwirrt sehe ich ihn an.

"Sie wissen nicht wovon ich rede? Na, ein Impfpass. Irgendeine Urkunde, die ihren derzeitigen Krankenstand anzeigt? Gar nichts? Harry, was hast du den hier für eine mitgebracht?"

Total überfordert sehe ich zu Harry. Ich wusste nichts von einem Impfpass oder irgendeiner Urkunde. Das hätte er mir ruhig mal sagen können. 

Harry aber grinst nur breit und zuckt mit den Schultern, als Doktor McQueen ihn wütend ansieht. "Was soll man machen. Manche wissen eben nicht, wie man sich in Krankenhäusern auszuweisen hat."

Mir klappt die Kinnlade wieder runter und ich keuche ungläubig. Das kann nicht sein Ernst sein.

Doktor McQueen dreht sich jetzt wieder zu mir und betrachtet mich von oben bis unten misstrauisch. Er nimmt sich die Brille von der Nase und kommt einen Schritt auf mich zu. Gerade, als ich denke, dass er mir den Kopf abhackt, beginnt er laut zu lachen und Harry steigt mit ein. "Hach, Kind. Ich nehme dich doch nur auf den Arm. Ist mir doch egal, ob du deinen Impfpass dabei hast, oder nicht."

Ich atme erleichtert aus. Mir ist völlig entfallen, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten habe. Für einen Doktor ist McQueen ganz schön witzig drauf. Ich mag ihn. Er scheint genau den selben Humor zu haben, wie Harry. Nämlich Sarkastisch und bescheuert. Steh ich voll drauf.

"Nu sag doch was. Dann komm ich mir nicht ganz so gemein vor", lacht Doktor McQueen.

"Nicht schlecht... für einen Arzt", grinse ich selbstgefällig.

Harry und Doktor McQueen lachen beide wieder gleichzeitig los. "Klasse", prustet Doktor McQueen und wischt sich gespielt eine Träne aus dem Auge. "Du hast nicht zu wenig versprochen, Harry."

"Ich weiß", gluckst Harry.

"Ihr gackert rum wie Hühner", meldet sich Tammy jetzt mal wieder zu Wort.

"Sei nicht frech. Oder willst du wieder angemalt werden?", sagt Doktor McQueen zu ihr und setzt sich wieder die Brille auf die Nase.

Sofort macht Tammy den Mund zu und tut so, als würde sie ihn mit einem unsichtbaren Schlüssel zuschließen und gibt ihn Harry. Dieser Steckt den Schlüssel in seine Hosentasche.

"Also...", seufzt Doktor McQueen und klemmt sich das Klemmbrett und den Arm. "Lass uns ein Stück gehen, Harry."

Harry nickt und folgt ihm.

Ich stehe verloren noch am Bett und weiß nicht, ob ich ihnen jetzt folgen soll oder nicht. Eigentlich bin ich ja nicht befugt ihnen zuzuhören, vor allem, weil ich mir vorstellen kann, dass sie über den Zustand von Tammy reden werden.

"Wo bleibst du, Raven?", beantwortet Harry den Konflikt in meinem Kopf und winkt mich lächelnd zu ihm und McQueen.

Mit meinem Blick frage ich Doktor McQueen nach einer Bestätigung, dass es in Ordnung ist, wenn ich mitkomme und dieser nickt.

Ich lächle und folge ihnen. "Bis gleich, Tammy."

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