Kapitel 37 - Little Poetry

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Ich atme tief ein und sage dann: "All diese Leute. Sie, ehm..." Ich bin so unsicher. Ich weiß nicht mal, ob Harry darüber reden darf, geschweige denn, ob er darüber reden möchte. Ich reibe mir unsicher über die Stirn.

Harry nimmt mir die Kissen ab. "Ja, sie sind alle krank."

Ich schlucke. "Okay."

"Raven", lacht Harry und räumt die Kissen in eine Kiste. "Sag einfach, was dir auf der Zunge liegt, seit wann bist du so unsicher?"

Und jetzt platzt alles aus mir heraus. "Ich will auf keinen Fall zu aufdringlich sein, aber ich meine, hallo? Ich lauf in die Stadt und will eigentlich nur ein Geschenk kaufen, dann sehe ich dein Auto vor der Kirche und entdecke dich hier - während der Schulzeit - in der Kirche mit Menschen, die anscheinend öfters aus dem Krankenhaus hier her gefahren werden, um deine Geschichten anzuhören. Und dann die Sache mit Elizabeth und dann auch noch das kleine Mädchen. Wie traurig sie war, als sie gehen musste. Jetzt weiß ich auch, wieso du einen Schlüssel für die Kirche damals hattest." Ich keuche verzweifelt und halte mir die Hand an die Stirn.

"Wow, vergiss das Atmen nicht! Lass uns etwas frühstücken gehen, dann versuche ich alle deine Fragen zu beantworten."

"Frühstücken? Wir haben halb zwölf", feixe ich und sehe ihn mit erhobener Augenbraue an.

Harry geht zum Eingang und ich folge ihm. "Ich hab heute aber noch nichts gegessen und für Mittagessen ist es noch zu früh." Er hält mir die Tür auf "Und außerdem kann man immer frühstücken."

"Na gut."

Harry schließt die Kirchentür ab und drückt einen Knopf auf seinem Autoschlüssel, womit sein Auto auf geht. "Wieso bist du eigentlich nicht in den Kursen?", fragt Harry selbstgerecht und steigt in seinen Range Rover.

Ich steige ebenfalls ein und könnte sofort wieder meine Nase in diesen Sitzen versinken lassen, denn dieser Geruch von Jasmin, Moschus und Harry steigt mir wieder in die Nase. "Der Rektor hat alle Professoren zu einer ganztägigen Konferenz berufen, somit ist jeglicher Unterricht ausgefallen."

Harry nickt und schaut auf sein iPhone, "Oh", macht er und grinst breit als er auf sein Handy sieht. "Ich hab nicht mitbekommen, dass du mir geschrieben hast. Wenn ich hier bin, ist mein Handy immer ausgeschaltet."

"Schon ok", murmle ich. Mir ist meine Nachricht unheimlich peinlich, weil ich Harry darin vorgeworfen habe zu schwänzen.

Harry startet den Motor und wir fahren in die Stadt in ein kleines Restaurant. Er hat mir die ganze Fahrt über erzählt, dass dieses Restaurant das beste Frühstück der Welt macht und dass er es schade findet, dass so wenige Leute dort hingehen.

Das Restaurant heißt Little Poetry und sieht aus wie ein Lokal, von dem ich mir vorstellen könnte, dass ich hier öfters hinkommen könnte. Durch die altmodische Einrichtung hat es mir von erster Sekunde gefallen.

Ich habe Harry mein Frühstück bestellen lassen, weil er mich unbedingt darum gebeten hat, 'damit ich auch ja die richtige Geschmacksexplosion erlebe', meinte er.

"Also", sage ich und nehme einen Schluck von meinem Kaffee. "Letzte Chance es dir noch anders zu überlegen, ob du es mir erzählen möchtest."

Harry's Mundwinkel zuckt kurz. "Ich werde es dir erzählen."

Ich nicke und sehe ihn abwartend an.

"Okay." Er atmet aus und fährt sich einmal durch die Haare. "Eigentlich ist das gar nicht so spektakulär. Ich kenne jemanden, der mal eine längere Zeit im Krankenhaus war und diese Person hab ich über einen gewissen Zeitraum fast täglich besucht und ihr als Beruhigung meine Geschichten vorgelesen. Irgendwann hat mich ein Arzt angesprochen, ob ich sowas nicht für die Leute machen könnte, die wirklich schwer krank sind, weil meine Geschichten eine extrem gute Auswirkung auf den Kranken hatten. Zwar nicht körperlich, aber seelisch. Das ist ungefähr zwei Jahre her und heute können wir dafür die Kirche mieten, weil - wie die Ärzte sagen - das ein sehr gläubiges Hospital ist und die Menschen, die dort eingewiesen sind sich in einer Kirche beschützt fühlen."

"Ist das nicht auch eine Belastung für dich all diese kranken Menschen sterben zu sehen?"

Harry nickt und sieht auf seine Kaffeetasse. "Es ist definitiv nicht einfach, das ist klar, aber es sterben auch nicht alle. Ich habe auch schon Leuten vorgelesen, die ihre Krankheit sogar besiegen konnten. Sowas passiert nur leider sehr selten."

"Und wissen Cate und so davon?"

Harry schüttelt den Kopf. "Nein, ich möchte auch nicht, dass sie es wissen."

"Ach so. Ich werde es für mich behalten." Ich freue mich, dass Harry mir so vertraut, obwohl wir uns nicht annähernd so lange kennen wie er die andren kennt. "Tammy meinte, dass Elizabeth sterben wird", sage ich vorsichtig.

Harry atmet tief ein. "Ja... wird sie. Sie hat einen Gehirntumor."

Ihm scheint das sehr nahe zu gehen, denn er wirkt auf einmal niedergeschlagen.

Ich würde ihn gerne fragen, ob er vielleicht Elizabeth sehr nahe stand und es ihn deshalb so belastet. Ob er sie schon kannte, als sie noch normal leben konnte.

"Sie kam letzten Sommer in die Gruppe. Als sie zu uns kam, konnte sie noch normal reden, laufen, denken. Ich habe mich unheimlich gut mit ihr verstanden, denn sie war ebenfalls Schriftstellerin. Elizabeth hat mir früher oft geholfen die Geschichten zu schreiben."

Ich halte mir entsetzt die Hand vor den Mund. Diese alte, gebrochene Frau in der Kirche war mal eine Schriftstellerin. Und innerhalb von einem Jahr ist aus ihr... sowas geworden.

"Und", ich traue mich kaum zu fragen und weiß auch nicht, ob ich die Antwort wissen möchte, "Tammy?"

Harry wischt sich einmal mit der Hand durch das Gesicht und sieht mich an. So wie jetzt habe ich ihn noch nie gesehen. Er sieht heute das erste Mal richtig traurig aus. "Sie hat Krebs."

Mir bleibt die Luft weg. "Was?" Dieses kleine Mädchen... Krebs...

Er nickt und spannt seinen Kiefer an. "Leukämie. Sie ist 5 Jahre alt und hat diese beschissene Krankheit." Unglaubwürdig schüttelt er mit dem Kopf.

Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter und krächze: "Hat sie denn noch irgendeine Chance?"

Eigentlich weiß ich die Antwort schon, aber ich will, dass er sagt, dass sie überleben wird.

"Nein... Die Ärzte sagen, dass sie wahrscheinlich nicht mal mehr ihren sechsten Geburtstag erleben wird."

Mein Herz zerbricht gerade in tausend kleine Teile.

"Oh mein Gott... Sie ist so jung." Der Kloß in meinem Hals wird immer größer.

"Und Tammy ist ganz allein. Sie ist Waisenkind und hat niemanden. Deswegen wollte sie vorhin unbedingt bei mir bleiben... ich bin ihre einzige Familie und besuche sie zusätzlich noch jedes Wochenende."



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