Kapitel 94 - Gott hütet die ärmsten Seelen

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Harry und ich setzen uns ins Wartezimmer des Krankenhaus, um auf eine Antwort, über Tammy's Zustand, zu warten. Ich stehe noch so sehr unter Schock, dass ich es nicht mal schaffe zu weinen. Zu sehen, wie Tammy Unmengen an Blut verliert und Harry versucht vergeblich zu helfen, war wahrscheinlich das schrecklichste, das ich je sehen musste. In seinen Augen spiegelt sich so viel Angst. Angst davor, dass es jetzt so weit ist. Er weiß, dass sie gerade dem Tod so nahe steht, wie noch nie und das raubt ihm den letzten Nerv.

"Ich habe unglaubliche Angst", sagte er mit dem Gesicht in seinen Händen. In diesem Moment dachte ich, dass der Augenblick gekommen ist, dass seine Tränen fließen, doch das taten sie nicht. Ich bin froh, dass er nicht weint. Wenn er weinen würde, würde meine Welt zusammenbrechen und das tut sie gerade sowieso schon.

Jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, sehe ich das Blut an seinen Händen. Es ist überall - auf seinem Shirt, seinen Armen, auch immer Gesicht. Ich würde ihm gerne sagen, dass er es abwaschen soll, aber er tut es nicht von allein, deswegen belasse ich es dabei.

Seine Worte von damals, von der Nacht, in der er mich angerufen hat, fangen langsam an wahr zu werden. Er sagte damals, dass er sie blutend in den Händen hält und er nichts tun kann, außer zusehen... Und heute ist es so gekommen. Er konnte nichts tun. Er konnte nichts tun, außer ihr beim Bluten zusehen. Wir beide können nichts tun, außer ihr beim Bluten zuzusehen.

Ich schaffe es nicht mal Harry aufzumuntern, während wir für Stunden in dem Wartezimmer sitzen, denn ich bin selbst am Boden zerstört. Sie so zu sehen macht alles noch viel schlimmer. Ich hatte immer gehofft, dass sie in Ruhe sterben wird. Ohne Schmerz, ohne Leid - einfach vor lauter Erschöpfung im Schlaf. Wahrscheinlich war das unglaublich naiv zu denken, dass sie ohne Leid ihre letzten Tage erleben wird, denn sie hat immer noch Krebs und keine Altersschwäche.

Ich wünschte, es wäre anders. Ich wünschte, ich müsste jetzt nicht hier mit Harry in diesem verfluchten Zimmer sitzen und darauf warten, ob ein hilfloses, kleines Mädchen stirbt oder nicht. Ich wünschte, wir könnten ganz normal Zuhause im Bett liegen und glücklich sein.

Aber ich jedoch bereue es keine Sekunde, ihm damals in die Kirche gefolgt zu sein und all das jetzt mitzuerleben. Es ist schrecklich und grausam, ja, aber ich kann bei Harry sein. Ich kann an seiner Seite sein und ihm beistehen, während er eine qualvolle Zeit durchmacht.

Während wir warten, reden wir kaum ein Wort miteinander. Ich hole ihm ab und zu etwas zu trinken, damit er nicht vom Stuhl kippt. Es schmerzt unheimlich, ihn so leiden zu sehen. Ihn so zu sehen, wie er kein Wort redet und auf Erlösung wartet, auf eine Antwort.

Irgendwann habe ich mich sogar selbst dabei erwischt, wie ich angefangen habe an einen Gott zu beten, an den ich normalerweise gar nicht glaube. Mir ist momentan jede Hilfe recht und ich sollte keine Möglichkeit auslassen, denn wenn es tatsächlich irgendeinen Gott da oben gibt, dann sollte er uns jetzt beistehen. Uns beistehen und uns retten.

Als ich einmal auf die Uhr schaue, ist es ein Uhr morgens. Ab da bin ich vor lauter Erschöpfung an Harry's Schulter eingeschlafen. Er hat mich um viertel vor zwei wieder geweckt, weil eine Schwester uns etwas kleines zu Essen gebracht hat. Es war die gleiche Schwester, die damals Tammy die Spritze aus dem Arm gezogen hat, als ich sie allein besucht habe. Sie weiß, worauf wir warten, deshalb hat sie uns auch mitleidig angesehen. "Gott hütet die ärmsten Seelen", hat sie zu uns gesagt, bevor sie wieder gegangen ist.

Ich hoffe, sie hat Recht. Ich hoffe, er hütet die Seele dieses armen, kleinen Mädchens. Sie soll verdammt nochmal nicht sterben und wenn, dann soll sie irgendwo landen, wo sie glücklich sein kann. Wo sie eine Familie hat und ständig lachen wird.

Harry hat zwischenzeitlich Tammy's Blut von seinen Armen gewaschen und darüber bin ich sehr froh. Es hat noch mehr geschmerzt, es an seinen Händen zu sehen, denn es hat mir immer wieder klar gemacht, in welcher Situation wir gerade stecken.

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