Fiftythree

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Cedric rannte. Er rannte, wie er noch nie im Leben gerannt war.
Im frühen Morgengrauen hatte das Police Departement einen Anruf von einem Mann mit verzerrter Stimme bekommen, welcher sagte, dass er Allan nun „frei" gelassen hatte. Wobei dies bedeutete, dass er ihn allein in der verlassenen Burg hinter dem Wald von Josephina Hill gelassen hatte; die einsturzgefährdete Burg war einst Josephina Hills Wahrzeichen gewesen, doch nun wurde sie von den ältesten Bäumen des Dorfes bewacht und keiner wusste mehr so genau, wie man dorthin kam, weil im 18. Jahrhundert nur Ritter und Adelige noch Karten mit Wegbeschreibungen besitzen durften. Doch diese waren bei dem Brand, welcher das Schloss zerstörte, alle vernichtet worden.
Da Cedric, Tony und Wheatley ohnehin schon vermuteten, dass sich Allan dort aufhielt, hatten sie sich am Abend bereits auf den Weg gemacht — ohne Plan, ohne Gewissheit, oder gar eines Anhaltspunktes, wohin sie mussten.
Dann hatte Cedric ein Funksignal erreicht. Knackend gab die Stimme eines Kollegen durch, was der Anrufer gesagt hatte.
Ihn traf der Schlag. Und auch Tony und Wheatley waren geschockt. Denn Allan hatte nach fast fünf Tagen nur noch knappe Überlebenschancen, und nirgends war er schwerer zu finden, als in der Burgruine.
Ohne groß zu überlegen, hatte Cedric ins Funkgerät gebrüllt, dass sie einen Hundeführer, ein Rettungsteam und am besten einen Hubschrauber zur Verstärkung bräuchten.
Und dann war er losgerannt wie ein Wahnsinniger.
Irgendwo hinter sich hörte er immer wieder die Stimmen von Tony und Wheatley. Manchmal sah er auch einen Lichtstrahl ihrer Taschenlampen, welcher sich mit dem seiner kreuzte. Doch er war ihnen weit voraus.
Nach einer Zeit hörte er auch weit in der Ferne das Bellen eines Hundes und mehrere andere Rufe, doch er kümmerte sich nicht darum.
Alles was zählte, war so schnell wie möglich zu Allan zu gelangen.
Cedric war schon immer sehr sportlich gewesen und besaß von Natur aus eine gute Ausdauer, aber auch durch das Polizeitraining war er es gewöhnt, über längere Zeiten zu sprinten. Das Adrenalin pumpte sich durch seine Adern und trieb ihn ebenfalls weiter an, doch je länger er über Baumstämme sprang und durch den Morast preschte, desto schwächer wurde er, und die Verzweiflung kroch bereits in seine Gedanken.
Plötzlich durchdrang ein heller Schrei die Stille. Cedric erschrak und kam schlitternd zum stehen. Ein Ruf folgte, sein Name, und er erkannte Wheatleys und Tonys Stimmen.
„Tony?", schrie er und leuchtete wild mit seiner Taschenlampe umher. „Wheatley?"
„Hier drüben!" Ein zweiter Lichtstrahl erschien im Halbdunkel, und Cedric folgte ihm hastig. Schon nah wenigen Metern sah er Tony am Boden knien, und sich angestrengt gegen die Erde stemmen. Nun erkannte Cedric die Misere; Wheatley musste in das Erdloch, welchem er selbst ausgewichen war, gefallen sein, und Tony hielt ihn mit aller Kraft fest.
„Verdammte Axt" Cedric schnappte nach Wheatleys anderem Arm und zog kräftig daran. Tony gelang es, nun auch richtig zuzupacken, und gemeinsam hievten sie den jungen Polizisten aus dem Erdloch.
„Ohh Heilige Maria Mutter", piepste dieser atemlos, als er zwischen den beiden auf den Bauch fiel.
„Haben Sie sich verletzt, Wheatley?", fragte Cedric besorgt.
Wheatley drehte sich um und setzte sich auf. Etwas überfordert tastete er an seinem Bein herum und leckte sich die Lippen. „Ich glaube, ich hab mir das Knie verdreht."
Cedric leuchtete ihn an und beäugte das etwas herausstehende Knie, welches er sich schon blutig angeschlagen hatte. „Ich möchte nicht negativ klingen, aber vielleicht auch mehr als bloß das."
Wheatley ächzte und nickte, ohne etwas zu sagen.
„Cedric, ich bleibe hier mit Wheatley und warte auf Verstärkung", sagte Tony. „Du suchst Allan weiter."
„Aber–", setzte Cedric an, doch auch Wheatley mischte sich ernst ein. „Gehen Sie schon, wie kommen zurecht. Es gibt wichtigeres, als verdrehte Knie, Sheriff. Das wäre zum Beispiel Ihr Freund."
Cedric hob die Brauen, nickte dann aber. Da Wheatley nicht in seiner Uniform steckte, weil er civil unterwegs war, funkte er schnell die Kollegen an und sagte dem Hundeführer, dass der Hund eine Fährte aufnehmen sollte. Dabei bewegte er sich nach einem kurzen Schulterdruck zum Abschied bereits von den anderen beiden Weg, und setzte dann wieder zum Laufen an.
Nun schien der Tag still, kein Laut war mehr zu vernehmen außer das Rauschen des Windes, welches alles andere übertönte. Die ersten rot-orangen Sonnenstrahlen bahnten sich durch das dichte Laub der Bäume und erhellte ihm den Weg. Im Laufschritt steckte er die Taschenlampe weg und erlaubte sich, etwas mehr auf seine Umgebung zu achten.
Und da. Da war sie, die Burgruine. Im seichten Licht des morgens ragte sie dunkel und unheilerregend hinter den Bäumen auf. Cedrics Herz setzte einen Schlag aus, er stolperte und dann gab er Gas. Die Landschaft flog an ihm vorbei, bis er vor dem Mauerwerk schlotternd zum Halt kam. Er keuchte und schnappte nach Luft, bis ihm schlecht wurde. Von hier aus konnte er genau erkennen, wie instabil die Burg war. Tragende Steine bröckelten bereits, Löcher prangten in der Fassade, und einer der Türme war vollkommen heruntergerissen, sodass man in einen Teil der Ruine herein schauen konnte.
Und vor ihm war eine riesige hölzerne Flügeltür.
Allan...
Entschlossen krempelte Cedric seine Ärmel hoch und stemmte sich gegen das Tor. Laut knarzte das Holz und gab dann rumpelnd nach. Cedric gab vor Anstrengung einen erstickten Laut von sich, doch er schaffte es, sich durch einen schmalen Spalt in dem Tor durchzuquetschen.
Die Luft in der Ruine war fast noch kälter als draußen. Sie pfiff durch all die Ritzen und Spalten im Mauerwerk, überall knackte etwas, und hin und wieder konnte man das Fiepen von Mäusen — oder Ratten — ausmachen.
Cedric ging ein paar Schritte und blickte sich genau um. Sein Herz klopfte ihm wild gegen die Rippen. Er fand verwischte Spuren im Dreck auf dem Boden, Und obwohl er so schnell wie möglich zu Allan wollte, schoss er schnell ein paar Beweisfotos von den Fußabdrücken mit seinem Diensthandy.
Seine geschulten Augen führten ihn durch die einstige Eingangshalle in einen Verschlag zu seiner linken.
Die Tür hinter der schmalen Nische war wirklich gut versteckt, wenn man nicht ganz genau hinsah, würde man dahinter niemals einen Aufgang finden. Es war dunkel darin, und so schaltete er seine Taschenlampe ein. Die Treppenstufen schienen soweit noch intakt zu sein, als stieg er schnell, aber bedacht hinauf.
„Allan?", rief er, und hunderte Echos folgten seinem Ruf. Er schrak zusammen und horchte, bekam aber keine Antwort. Seine zweite Hand fand das Geländer zu seiner rechten, denn mittlerweile klaffte unter den Stufen nur noch gähnende Leere, unter ihm eventuell ein Kellergeschoss, welches durch einen Bruch im Boden des Erdgeschosses freigelegt sein musste.
Er schauderte. Hier war es einfach zu sterben.
Verzweifelt wischte er sich mit der linken den Schweiß von der Stirn, und als hätte der Teufel seine Gedanken gehört, stolperte er über seine eigenen Füße, und dann entdeckte er genau vor sich ein großes Loch, welches die Stufen trennte.
Im Versuch, sich vor dem sicheren Tod zu retten, rutschte ihm die Taschenlampe aus der Hand und knallte einmal auf den Stein, bevor sie hinab in die Tiefe rollte.
Cedric starrte ihr hinterher, oder zumindest in das Dunkel, das ihm geblieben war. „Verdammte Axt!"
Auf Knien tastete er über den Stein, bis er fühlte, wo er aufhörte. Sein Herz raste. Er musste zu Allan, unbedingt! Hektisch klopfte er seine Taschen ab und zog eine kleine LED Taschenlampe hervor, welche vielleicht so groß wie sein Finger war. Trotzdem leuchtete er und rappelte sich wieder auf.
Das Loch war gross, aber wenn er sich gut festhielt und sich weit streckte, würde Cedric es bis zur nächsten Stufe schaffen. Also atmete er tief durch, klemmte sich das Lämpchen zwischen die Zähne, und krallte sich in das Geländer.
Es kostete ihn sehr viel Willenskraft, nicht in die Tiefe zu schauen, und Energie, aber nachdem er vorsichtig einen Fuß auf die Stufe gesetzt hatte und diese nicht nachgab, machte er einen Satz nach vorne und rannte los.
Hinter ihm bröckelten die Stufen dennoch, und er war froh, als er endlich den Treppenabsatz erblickte.
Eine weitere Holztür versperrte ihm den Weg, doch er rammte sie einfach mit der Schulter. Krachend flog sie aus den Angeln und splitterte in Einzelteile. Er stieg darüber hinweg und starrte in den weiten Raum auf den kleinen, dunklen Fleck in der Ecke.
„Allan!"
Cedric war schwindelig, aber er stürmte auf das zusamnengerollte Bündel zu, welches auf dem nackten Boden lag. Er roch Erbrochenes, Schweiß, Blut und Exkremente.
Vor Allan fiel er schmerzhaft auf die Knie und starrte ihn an. Er lag schlaff auf der Seite, vor ihm eine Pfütze aus Galle, und seine Uniform war völlig zerrissen und fleckig. Cedric traute sich gar nicht, nachzuschauen, ob er überhaupt noch lebte.
„Al..." Zitternd legte er zwei Finger an Allans Hals und suchte verzweifelt nach einem Herzschlag. Noch nie im Leben hatte er solche Angst gehabt.

Nur du zählst...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt