Tränen

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Es klingelte, und Rick schreckte von seinen Hausaufgaben auf. Hastig stand er auf und lief die Treppen hinunter ins Erdgeschoss, um die Haustür zu öffnen. Er erblickte seinen besten Freund und setzte zu einer Begrüßung an, doch ehe er es sich versah, purzelte ihm Al haltlos weinend entgegen.
„Al!", stieß er erschrocken hervor und packte ihn Freund an den Armen. Al hatte das Gesicht in den Händen vergraben und schluchzte, sein ganzer Körper bebte, und nur noch Ricks starker Griff hielt ihn auf den Beinen.
Rick schloss die Tür mit einem Tritt und musterte ihn besorgt.
„Al, war es wieder...?", fragte er leise.
Al nickte stumm. Zitternd ließ er die Hände sinken und gab den Blick frei auf sein gerötetes, zerschundenes Gesicht. Er trug ein frisches Veilchen um sein rechtes Auge, und seine Lippe war aufgeplatzt.
„Das war noch nicht alles", brachte der dreizehnjährige schluchzend hervor.
„Was?", fragte Rick schockiert.
Al weinte noch stärker, und Rick zog ihn sofort schützend in eine Umarmung. Al ließ sich entkräftet an seine Brust sinken und tränkte sein Hemd mit Blutstropfen und Tränen.
„Al, lass uns hochgehen", wisperte Rick besorgt. „Dann kannst du dich setzen und ich versorge deine Wunden, in Ordnung?"
„I-ich kann nicht mehr laufen", brachte Al stockend hervor.
Rick streichelte beruhigend über sein dunkles Haar. „Das macht nichts", erwiderte der fünfzehnjährige. „Dann trage ich dich eben."
Al wollte etwas erwidern, doch er gab sich geschlagen und nickte stumm. Rick hob ihn kurzerhand hoch, Al's Körper zitterte in seinen Armen, und er klammerte sich panisch an ihn.
„Alles wird gut, Al", murmelte er beruhigend, während er vorsichtig mit ihm die Treppe hinauf in den ersten Stock stieg. Der Junge nickte zaghaft.
Oben angekommen, brachte Rick ihn in sein Zimmer und setzte ihn auf seinem Bett ab. Al blickte sich nervös um und strich sich immer wieder durch die Haare.
„Ich schließe kurz die Tür", sagte Rick sanft. Al nickte und schaute ihm hinterher. Nachdem Rick die Tür geschlossen und abgeriegelt hatte, kam er zurück zu ihm und hockte sich mit besorgtem Blick vor ihm hin. Er wusste nicht, wie schlimm es dieses Mal war, also streckte er bloß fragend die Hände aus.
Al zögerte, doch er legte schließlich die Hände in seine. Rick umschloss sie sanft und rieb beruhigend mit den Daumen über seine Handfläche.
„Was hat er dieses Mal getan?", fragte er leise.
Al's Tränenfluss steigerte sich abermals. „Er hat mich verprügelt", krächzte er.
„Überall?", fragte Rick entsetzt.
Al starrte zu Boden. Sein Blick sagte alles.
Rick richtete sich auf und umarmte ihn behutsam. Al saß da, unwissend, was er tun oder wie er sich bewegen sollte. Rick hasste es. Er hasste Al's Vater, hasste Alkohol, hasste es, wie Al ständig grün und blau geprügelt vor ihm sitzen musste weil dieser Mann sich nicht unter Kontrolle hatte.
Aber natürlich unternahm die Polizei nichts gegen ihn, weil „Er doch mal zu ihnen gehört hatte und seinem Sohn doch niemals etwas tun würde."
„Wie schlimm ist es?", fragte Rick leise. Er löste sich ein Stückchen von Al, um ihn besser ansehen zu können. Al schluckte schwer. Er zupfte sich das Hemd aus der Hose und entblößte einen kleinen Teil seines Oberkörpers.
Rick starrte entsetzt seine dunkelrote, teilweise aufgeplatzte Haut an und fragte sich unwillkürlich, wie zum Teufel Al es bloß hierher geschafft hatte.
„Al, wenn du etwas gebrochen hast...", setzte er an, doch Al unterbrach ihn sofort.
„Nein!", schrie er. Panisch packte er seine Handgelenke und starrte ihn flehend an. Rick hasste die Angst in seinen dunklen Augen. Am liebsten hätte er dafür gesorgt, dass sie sofort wieder verschwand. Er hätte alles dafür gegeben.
„Aber wenn wir ins Krankenhaus gehen, könnten sie dich da rausholen", versuchte er es noch einmal.
Al schüttelte den Kopf. „Nein, er redet sich jedes Mal da raus", beteuerte er. „Kein Mensch glaubt mir, Rick! Es ist ihnen egal, wie schlimm es aussieht! Sie glauben mir nicht!"
Wieder begann er haltlos zu weinen. Rick seufzte wehmütig und setzte sich neben ihm aufs Bett. Sanft zog er den Jungen in seine Arme und strich beruhigend über sein Haar.
„Al, ich muss dich versorgen", flüsterte er irgendwann. Al nickte zaghaft. Er wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht und stöhnte schmerzerfüllt auf. Rick ging vor seinem Bett in die Hocke und zog den großen Verbandskasten hervor, der eigentlich unten in der Küche stehen sollte, doch weil Al immer öfter verprügelt bei ihm auftauchte, hatte er es sich angewöhnt, den Koffer unter sein Bett zu stellen.
Er musste Al sanft davon überzeugen, zumindest sein Hemd auszuziehen, und ihm helfen, sich aus den Ärmeln zu winden. Al's Tränen strömten in Wasserfällen über seine Wangen und hinunter auf seine Beine. Zaghaft hob Rick die Hand und wischte ihm die Tränen von den Wangen. Al schloss erschöpft die Augen.
„Alles wird gut, Kleiner", murmelte Rick. Er begann, Al's Oberkörper vorsichtig abzutasten, bevor er sichergehen konnte, dass er sich nichts gebrochen hatte. Dann begann er, seine Wunden zu säubern. Al zuckte bei jeder Berührung zusammen und beobachtete nervös jede Bewegung seines Freundes.
Rick wusste, dass Al ihm vertraute, denn sonst hätte er ihn dies nicht tun lassen, doch Al hatte noch immer sichtbar Angst. Angst, wieder verletzt zu werden, sowohl physisch als auch psychisch.
„Jetzt kommt dein Gesicht dran", informierte er ihn leise und wartete, bis Al stumm nickte, bevor er die Kratzer auf seinem Unterkiefer und die aufgeplatzte Lippe säuberte. Al zuckte kurz zusammen, doch er wusste, dass Rick ihm bloß helfen wollte.
Zuletzt schlang Rick Rollen von Verbänden um Al's Oberkörper, legte ihm Kompressen auf größere Wunden und klebte Pflaster auf kleinere. Al schaute ihm zu. Mittlerweile war sein Tränenfluss fast vollständig versiegt, und er atmete nur noch zitternd.
„Du kannst ein Hemd von mir haben", meinte Rick schließlich.
„Nein, das ist mir viel zu groß", nuschelte Al unsicher und wandte den Blick ab.
„Ich lasse dich nicht in diesem dreckigen Hemd gehen", erwiderte Rick in einem Ton, der keinen Widerspruch verlangte. Er zögerte, bevor er seinen anderen Gedanken aussprach. „Außerdem sieht es mit Sicherheit süß aus."
Al schaute ihn verwundert an. Rick lächelte bloß leise. Er stand auf und ging zu seinem Kleiderschrank, um eines seiner strahlend weißen Hemden herauszuholen. Er reichte es Al, der es jedoch nur stumm anstarrte.
„Al, nimm es", bat Rick leise.
Zögernd nahm Al ihm das Hemd ab und schlüpfte ungelenk hinein. Er verzog das Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse. Rick half ihm, die Knöpfe zuzumachen. Ihre Blick trafen sich kurz, und Rick lächelte beim Anblick seiner dunklen, tiefgründigen Augen, die ihn so vertrauensvoll anblickten.
Er ließ die Hände sinken und musterte ihn. Al hatte recht gehabt, das Hemd war ihm noch viel zu groß, doch Rick hielt den Gedanken nicht aus, ihn wieder in seinem alten, schmutzigen Hemd zu sehen.
Er nahm neben Al Platz und legte zaghaft eine Hand auf sein Knie. Al zuckte zusammen, doch er brachte ein kleines Lächeln zustande.
Rick erwiderte es sofort.
„Darf ich dich was fragen?", murmelte Al.
„Immer", antworte Rick. Er würde alles für Al tun.
Nervös nestelte Al an einer Haarsträhne herum. „Darf ich heute Nacht hierbleiben?"
Rick lächelte aufmunternd. „Du kannst für immer hierbleiben, wenn du willst."
Al lachte leise. „Ich wünschte, das ginge", wisperte er traurig.
Rick seufzte tief und zog ihn an sich. Al schmiegte sich schutzsuchend an ihn und schlang die Arme um seinen Oberkörper. Er ließ es zu, dass Rick über seinen Rücken streichelte und einen kleinen Kuss auf sein Haar drückte.
„Danke", hörte er Al murmeln. „Dass du für mich da bist."
„Alles für dich", erwiderte Rick ehrlich. Er spürte Al's Lächeln und lehnte sich mit ihm im Arm zurück an die Wand. Dann schloss er die Augen.
„Nur du zählst für mich", dachte er. „Nur du, Al..."

Nur du zählst...Where stories live. Discover now