Gefahr

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Trigger Warnung: Mobbing

Lachen.
Schreie.
Ein Meer aus Stimmen.
Ertrunken in diesem harten Gewässer, lag Al am Boden, schützte hilflos sein Gesicht mit den Armen, während er schon so gefühllos war, dass er die Tritte in seinen Magen kaum noch spürte.
Die Jungen um ihn herum, es waren fünf, verspotteten ihn ohne mit der Wimper zu zucken, einige waren sogar jünger als er.
„Schwuchtel!"
„Drecksbalg!"
„Bastard!"
Tränen strömten aus seinen Augen, Schluchzer schüttelten seinen gesamten Körper. Er wollte, dass es aufhörte, dass diese Jungen verschwanden und ihn endlich in Ruhe ließen.
Doch er war zu schwach, zu ängstlich, um sich zu wehren. Es hätte ohnehin nichts genützt, sie  waren zu fünft und viel stärker als er.
„HEY!"
Al schlug die Augen auf. Diese Stimme...
„Lasst ihn sofort in Ruhe!"
„Halt's Maul, Lahey! Sonst bist du der nächste!"
Rick tauchte am Rande seiner Sicht auf und blickte ihn fest an. Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen, und er zwinkerte ihm zu.
Dann sah er wie Ricks Faust vorschnellte, mitten auf das Gesicht einer seiner Peiniger zu, und er vergrub das Gesicht in den Händen und versuchte, sich mental aus dieser Situation abzukapseln.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als endlich Stille einkehrte. Schritte näherten sich, und dann legte sich eine Hand auf seinen Scheitel. Er schrak zusammen, riss die Arme hoch und starrte in stahlblaue, wunderschöne Augen.
„Hast du viel abbekommen?", fragte Rick besorgt.
„I-ich...", stotterte Al überfordert. Abermals begann er zu weinen, und dieses Mal war die Gasse neben ihrer Schule nun mehr erfüllt von seinem Wimmern und Schluchzen. Rick blickte ihn gebrochen an und zog ihn in die Senkrechte, um ihn in die Arme zu schließen. Beruhigend strich er ihm über den Rücken, murmelte in sein Ohr, dass alles gut werden würde.
Wie konnte er sich da bloß so sicher sein? Bis jetzt war doch alles nur immer schlimmer geworden.
„Komm schon, Al. Wir gehen zu mir. Ich kümmere mich um deine Wunden, ja?"
Al nickte lahm. Wie betäubt ließ er sich von Rick auf die Beine ziehen. Ihm wurde schwindelig, beinahe sackten ihm die Knie weg, doch Rick hielt ihn fest in seinen Armen.
Dankbar blickte er ihn an. Rick lächelte milde und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf den Scheitel. „Los, gehen wir."
Von Rick gestützt, stolperte Al durch die Straßen. Er bekam nur halb mit, wie einige Leute blöd guckten, doch es zählte ohnehin nicht mehr. Außerdem wusste er, dass er mit Rick in Sicherheit war. Rick beschützte ihn. Auf ihn konnte er sich verlassen.

Viel schneller als erwartet hielten die beiden an. Al hob zögerlich den Blick und erkannte die Tür mit dem Schild, auf dem Lahey stand. Neben ihm kramte Rick seinen Schlüssel aus der Tasche und schloss auf. „Achtung, Stufe", sagte er sanft. Al stolperte dennoch fast und folgte ihm ins Haus.
Rick schloss die Tür und legte ihm dann wieder die Arme um den Oberkörper. „Grams ist wohl noch arbeiten", sagte er leise. „Wir gehen hoch, dann kannst du dich setzen. Einverstanden?"
„Danke", murmelte Al kaum hörbar. Rick lächelte und strich ihm eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn. „Immer doch, Al."
Schwach folgte Al Rick hinauf ins erste Stockwerk zu seinem Zimmer. Dort angekommen, verschloss Rick die Tür und führte ihn zu seinem Bett. Erschöpft ließ sich Al in die weiche Matratze fallen, froh, dass er endlich in Sicherheit war.
Die Matratze bog sich ein Stück nach unten, und eine Hand legte sich sanft auf seinen Arm. Al blickte hoch zu Rick, welcher ihn besorgt musterte. „Kannst du dich aufsetzen?", fragte er leise.
Al nickte zögerlich. Er ignorierte den aufkommenden Schmerz in seiner Magengegend geflissentlich und lehnte sich an die Wand hinter ihm. Er ließ die folgende, nur allzu bekannte Prozedur der provisorischen medizinischen Versorgung über sich ergehen und winkte dabei immer wieder hartnäckig Ricks Bitten ab, sich im Krankenhaus nach inneren Verletzungen abchecken zu lassen. Als er hinabschaute, war beinahe sein gesamter Oberkörper blau und lila angelaufen. Seine Rippen schmerzten höllisch, und er war sich sicher, dass sie nicht ganz heil waren, doch er wollte um keinen Preis ins Krankenhaus.

„Das wäre fürs erste alles", murmelte Rick schließlich. Er stand auf und ging zu seinem Kleiderschrank, um ein frisches weißes Hemd hervorzukramen.
„Rick, ich brauche das nicht", protestierte Al schwach, doch Rick drehte sich mit strengem Blick zu ihm um. „Oh doch, das tust du. Deines ist total zerfetzt und blutig. Ich kann dich doch so nicht heim gehen lassen."
Al verzog schmerzlich das Gesicht und blickte zu Boden. „Du verstehst nicht", nuschelte er mit Tränen in den Augen, „meine Eltern haben herausgefunden, dass du mir Kleidung schenkst. Sie sagten, sie werden mich nicht mehr zu dir lassen, wenn das so weitergeht."
Rick starrte ihn geschockt an. Mit schnellen Schritten lief er zum Bett und ließ sich neben ihm auf die Matratze fallen. In seinen Händen hielt er sein Hemd fest umklammert. „Aber... so geht das doch nicht", stammelte er sprachlos. „Dein Hemd ist ein dreckiger Kleiderfetzen. Wie willst du denn so auf die Straße gehen?"
Frustriert wischte Al die Tränen von seinen Wangen. Er zuckte die Schultern. „Besser, als wenn sie mich nicht mehr zu dir ließen."
Rick gab einen hilflosen Laut von sich und schleuderte das Hemd durchs Zimmer. „Ich hasse es", presste er zwischen den Zähnen hervor. Al nickte langsam. Er wusste genau, was er meinte.
Rick seufzte tief auf und zog Al behutsam in eine Umarmung. Al wollte die Arme um seinen Hals schlingen, doch die Schmerzen in seinem Oberkörper ließen es nicht zu. Also legte er sie zaghaft um Ricks Taille und vergrub das Gesicht an dessen Schulter.
Zärtlich streichelte Rick über sein Haar. „Geht's dir jetzt etwas besser?"
„Schätze schon", erwiderte Al vage.
„Sehr gut." Rick schob ihn ein Stück von sich, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Al lief puterrot an und starrte in Ricks stahlblaue, wunderschöne Augen.
Wie es wohl wäre, ihn jetzt zu küssen...?
Eine Gänsehaut schlich über seine Glieder. Sollte er es wagen?
Rick legte schmunzelnd den Kopf schief. „Was ist denn?"
„N-nichts", nuschelte Al peinlich berührt und wandte den Blick ab. Rick war bloß sein bester Freund, solche Gedanken gehörten nicht in seinen Kopf, diese Gefühle nicht in sein Herz.
Und doch... sie machten so viel aus.
„Al... sag schon." Rick umfasste sanft sein Kinn und blickte ihn bittend an. „Hab ich was falsch gemacht?"
„Nein", sagte Al schnell. „I-ich..." Er seufzte auf. „Es ist nichts. Ist schon in Ordnung."
„Allan", seufzte Rick besorgt. Er ließ die Hand sinken und legte sie vorsichtig auf sein Bein. Al folgte ihr mit den Augen. Sein Herz raste.
Wen interessierte schon die Meinung anderer?
„Rick...", er stockte, „Ich mag dich."
Rick lachte leise. „Ich weiß. Ich dich auch."
„Nein..." Al blickte ihn fest an. „Ich mag dich wirklich. Sehr. Mehr, als du glaubst."
Rick starrte ihn perplex an und lief puterrot an. Er suchte nach Worten, fand aber offensichtlich keine. Al blickte ihn zögernd an.
Schließlich beugte er sich vor – er hatte ohnehin nicht mehr viel zu verlieren – und schloss die Augen. Im nächsten Moment spürte er Ricks Lippen zart unter den seinen. Doch dann wurde ihm bewusst, wie absurd das Ganze war, und löste sich abrupt von ihm. „Entschuldige", stieß er hervor. „Ich sollte nach Hause gehen."
„Al, nein", sagte Rick schnell. Er griff nach seinem Arm, doch Al wich ihm aus und sprang von seinem Bett auf. Wie betäubt stolperte er zur Zimmertür, ignorierte dabei die höllischen Schmerzen, und entriegelte sie mit zitternden Händen. Rick folgte ihm und bat ihn immer wieder, zu bleiben, doch Al war so sehr in seinem Gedankenchaos verloren, dass er ihm nicht ganz zuhörte. Seine Schritte polterten über die Treppen, dicht gefolgt von Rick, und er stakste durch den Flur auf die Haustür zu.
„Al, jetzt warte doch bitte", rief Rick verzweifelt. Er tauchte hinter ihm auf und berührte seine Schulter. Al schrak zusammen. „Ich muss wirklich gehen", stieß er gehetzt hervor, ohne Rick anzusehen. Hastig riss er die Tür auf, wobei er sich jene beinahe selbst ins Gesicht geschlagen hätte.
„Allan." Rick hielt ihn am Arm fest, bevor er flüchten konnte, und drehte ihn zu sich herum. Er hatte die Stirn in Falten gezogen und strich ihm zärtlich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Ich mag dich auch", wisperte er kaum hörbar.
Al erschauerte. Meinte er das, was er sich so sehr erhoffte?
Die Bestätigung kam, als jener sich zu ihm herunterbeugte und ihn zaghaft küsste. Al's Herz setzte einen Schlag aus, und bevor es weiter ausarten konnte, schob er ihn sanft, aber bestimmt von sich. „Wir sehen uns", sagte er schnell.
Rick nickte zögerlich. „Ich hab dich lieb, Al", sagte er leise.
Al drehte sich um, die Wangen purpurrot, verziert mit Tränenschlieren, und nickte langsam. Dann begann er, zu rennen.

Nur du zählst...Where stories live. Discover now