30. Eine Hand

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Ich saß im Auto vorm Haus. Sah, wie er hinein ging. Mein Lou. Mein Schmetterling.

Vor zwei Tagen hatte ich mit meinen Eltern gebrochen. War ich emotional stabil? Kein bisschen. Ich empfand eine exquisite Mixtur aus Wut, Freude, Angst und Trauer und noch ein Dutzend anderer Sachen, die ich nicht einmal benennen konnte. Willkürlich ploppte eines der Gefühle, gern auch kombiniert mit anderen an die Oberfläche. Ich hielt es dann nicht drinnen aus und draußen im Grunde auch nicht. Ich hatte die letzten beiden Nächte nicht wirklich viel geschlafen und mich mehr oder minder nur von Kaffee ernährt.

Und dann sehe ich ihn. Einfach nur, wie er zum Haus geht und alles möchte wieder gut werden. Ich spüre eine Ruhe in mir und weiß: es hat sich gelohnt. Wenn wir dadurch eine Zukunft haben, dann wird es all das wert gewesen sein. Dann ist es gut, dass ich Dinge versuche, Vergangenheit werden zu lassen.
Jeder noch so nervige Anruf eines Fußballers, die fragten, wie lange ich den saudummen Witz denn noch aufrecht halten wolle, lohnte sich dann. Ich sollte die Sache gefälligst schnell aufklären, denn sonst würden noch Gerüche entstehen und wo es raucht, sei ja auch Feuer. Ich wolle ja sicher nicht echt als warmer Bruder darstehen.
Ich bekam haufenweise solcher Nachrichten. Und ich geriet wirklich ins Wanken. Ich wollte alle ignorieren, aber manche Kommentare waren einfach so unglaublich scheiße... Also alle waren das, aber einige besonders... Da wollte ich so gern zeigen, wie unbewaffnet sie in geistigen Duellen waren. Aber ich atmete tief durch und blockierte alle. Natürlich würde ich mich nicht ewig vor einer Begegnung drücken können. Man könnte sich immer über den Weg laufen. Aber für den Moment betrachtete ich die Sache als erledigt. Auch wenn zwischendurch Erinnerungsfetzen in mir aufkeimeten: wir alle als kleine Jungs. Noch keine zehn Jahre alt und nur darauf aus, zusammen zu kicken. Damals hatte ich gedacht, diese Freundschaften wären für die Ewigkeit. Ich war ein Teil der Gruppe. Wann hatten sie sich in diese Richtung entwickelt. Wann wurden aus Kindern Täter? Wann wurden Witze verletzend und wann ein Schulterklopfen ein Schlag? Ich hatte sie verpasst. All die kleinen und großen Schritte und Wegweiser.
Was mich nebenbei an mir selbst zweifeln ließ: wie hätte ich mich verhalten, wäre ich meinem Louis niemals begegnet? Wäre ich dabei geblieben? Hätte ich in einem Paralleluniversum mitgemacht? Ich wollte mich nicht so sehen, aber... Was sagten diese Freundschaften eigentlich über mich aus? Vielleicht wäre ich kein aktiver Täter geworden... Aber vermutlich einer von denen, die zusehen und nicht eingreifen. Aus Schiss, selbst in die Schusslinie zu geraten. Ich hätte womöglich viel mehr mit angesehen. Und damit auch gebilligt.  .Schlimme Dinge...
Nein, ich würde noch lange brauchen, um dort heraus zu kommen. Physisch und psychisch. Aber... Wenn Louis mich noch wollte, dann würde ich den Weg nicht allein gehen. Dann hätte ich ihn dabei an meiner Seite. Und das gab mir unglaublich viel Mut.

Auch wenn ich zukünftig wohl vorsichtiger durch Parkanlagen oder allein nach Hause gehen würde, wo die Fußballer sein könnten. War das richtig? Nein. Jeder sollte sicher sein. Egal, was los ist. Aber ich hatte zu viel von ihnen mitbekommen, um auf diesen frommen Wunsch zu vertrauen.

Auch über meine Eltern machte ich mir natürlich viele Gedanken. Sie meldeten sich nicht bei mir. Ich hatte damals kein Handy besessen. Ob Gemma sich wirklich nie wieder gemeldet hatte? Ich würde es wohl niemals erfahren. Ich hoffte nur, dass es ihr gut ging und sie glücklich war, wo immer sie auch war.

Ich hatte mich bewusst von meinem Umfeld gelöst, aber das hieß natürlich nicht, dass ich es so einfach hinter mir lassen könnte. Trotzdem hatte ich, meines Erachtens nach, einen bedeutenden Schritt geschafft. Ich hatte mich ein Stück weit befreit. Für ihn. Ich wusste, dass ich mit ihm würde reden müssen. Ich wollte mein Leben mit ihm teilen und ich glaubte, dass ich jetzt endlich bereit dazu war.

Nervös stieg ich aus dem Wagen und ging in unser Haus. Louis' und Harrys Haus, dachte ich. Ich konnte ihn nicht verlieren. So lange ich irgendwas würde tun können, würde ich das tun, damit er bei mir bleiben würde.

Nächte mit LouisМесто, где живут истории. Откройте их для себя