Verdrehte Wahrheit

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Seitdem ich die Schlaftabletten nahm, ging es mir deutlich besser. Seither hatte ich keine komischen Träume mehr und ich schlief wirklich gut. Der Traum mit April ließ mich trotzdem nicht los.

Da ich mich in der Feuerwache uneingeschränkt bewegen konnte und ich von Ryan wusste, dass diese Wache beim Unfall von April als Verstärkung dazu gerufen wurde, musste es ja irgendwelche Berichte geben. Ich fuhr mit dem holprigen Fahrstuhl in den Keller des Gebäudes und durchsuchte das Archiv nach der Fallakte.

Ich zog einen staubigen Karton nach dem nächsten aus dem alten Metallregal in dem muffigen, dunklen Kellerraum und durchsuchte sie Akte für Akte, bis ich nach geschlagenen zwei Stunden endlich jubeln konnte.

»Da ist sie ja endlich«, sagte ich glücklicher, als ich vielleicht hätte sein sollen, und schlug die Mappe auf.
Ich überflog die ersten Berichte, welche sich überwiegend mit der Beseitigung der Schäden befassten, und blieb bei den relevanten Seiten stehen.

Armes Ding, dachte ich im Nachhinein, nicht schlauer als vorher.
Ehrlich gesagt hatte ich mir mehr von dieser Akte erhofft und wollte sie gerade wieder zurück in den Karton stecken, als ich meinen Namen auf einer anderen Akte las.
Ich hätte es nicht tun sollen, das wusste ich ganz genau, allerdings konnte ich nicht anders, als meine Akte auf der Suche nach Antworten zu durchblättern.

Der Tag des Unfalles fehlte in meiner Erinnerung noch fast vollständig und manchmal war ich mir nicht einmal sicher, ob alles, was in meinen Alpträumen passierte, sich wirklich so abgespielt hatte oder doch nur meiner Fantasie entsprungen ist.

Diese Akte hätte mir endlich die Antworten  geben können, die ich schon so lange wissen wollte, dachte ich und griff nach einem kurzen Zögern die Mappe, schlug sie auf und fing an Seite für Seite zu lesen.

Auch wenn die Berichte alle sehr ausführlich geschrieben waren, musste ich leider schnell feststellen, dass kaum etwas über mich in den Berichten stand.
Allerdings konnte ich durch diese Berichte zumindest einen Teil des Unfalles besser nachvollziehen und ich glaubte mich auch wieder etwas zu erinnern.

Die erhofften Informationen waren aber nicht dabei, weshalb ich auch diese Akte schneller als gedacht wieder schloss und zurück in den Karton steckte, welchen ich abschließend zurück an seinen Platz im Metallregal stellte.

Bevor ich den Fahrstuhl zurück nach oben nahm, knipste ich noch die flackernde Glühbirne aus und schloss die Tür hinter mir.

Auf dem Weg nach oben überlegte ich mir Antworten auf die Frage, wo ich so lange gesteckt hatte, wobei mir keine plausible Ausrede einfiel.

***

»Du, Jane?«, fragte ich meine Mitarbeiterin am nächsten Tag, während die meisten in der Wache bei einem Einsatz waren.
»Was ist denn, Honey?«, erwiderte sie und schaute gütig über ihren grünen Brillenrand hinweg von ihrer Akte zu mir hoch.
Ich trat einen Schritt näher an den Tresen und versuchte die richtigen Worte zu finden.
»Weißt du, was damals bei meinem Unfall passiert ist?«, fragte ich vorsichtig, woraufhin die alte Dame sich von ihrem Bürostuhl erhob und mir ein bedachtes Lächeln schenkte.
»Ja, ja das weiß ich noch ganz genau, Lexi...«
Sie schob ihre Brille auf den Kopf. »Was willst du wissen?«

Wir gingen zusammen in den leeren Aufenthaltsraum, wo ich mich auf den klapprigen Stuhl am Esstisch niederließ.
Jane setzte sich mir mit einer Tasse Kaffee gegenüber.

»So, was willst du wissen?«, fragte sie in einem sanften Tonfall.
»Wer hat mich aus dem Wrack befreit?«, fragte ich direkt als erstes, bevor ich es mir anders überlegen konnte.

»Ich war mir schon fast sicher, dass du das wissen wolltest, aber meine Antwort wird dich enttäuschen.« Sie raffte sich auf und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Ich weiß es leider nicht - wir alle wissen es nicht...«
Sie las meinen verwunderten Blick und fügte schnell hinzu. »Ein Passant hat dich aus dem brennenden Auto gezogen noch bevor die Rettungskräfte da waren, allerdings hat dieser dich nur sanft abgelegt und ist anschließend verschwunden - es gibt keinen Hinweis auf ihn. Das tut mir leid.«
»Also besteht nicht die Möglichkeit, das Ryan mich...« Ich hörte mitten im Satz auf, da ich merkte, wie dumm meine Vermutung doch eigentlich gewesen ist.

»Wer, Ryan? Nein!« Sie lachte etwas schief und lehnte sich mit verschränkten Armen auf ihrem Stuhl zurück. »Ryan war gar nicht in der Stadt. Die Sache mit April hatte ihn ganz schön mitgenommen und er war, obwohl ihr Tod zu der Zeit schon fast ein Jahr her war, beurlaubt, da er nicht einsatzfähig war. Er war in Frankreich, in Paris, da waren die beide immer so gerne. Ich kann dir also mit Sicherheit sagen, dass er es nicht gewesen sein kann.«

Zum einen war ich erleichtert darüber, zum anderen allerdings nicht. Es war mir schon des Öfteren aufgefallen, dass Ryan mich mit April verglich oder wir Dinge unternahmen, die die beiden vor uns taten, die Sache mit Frankreich nahm mich zusätzlich mit, da ich dachte, dass es unser Ort war.

Dass mein Traum also kein Fünkchen Wahrheit hatte, beruhigte mich allerdings sehr, weshalb ich positiver aus dem Gespräch rausging, als erwartet.
Ich bedankte mich bei Jane und verließ den Raum, denn obwohl sich meine schlimmsten Befürchtungen nicht bewahrheitet hatten, brauchte ich Luft zum atmen.

Obwohl ich meine Antworten hatte, war ich auch noch Tage später sichtlich angespannt. »Wir sollten ausgehen - auf andere Gedanken kommen«, meinte Ryan und hielt mir ein paar Karten für ein Musical unter die Nase, nachdem auch er meine Anspannung bemerkte.

Was ich anziehen wollte, musste ich nicht lange überlegen. Schnurstracks ging ich in den Ankleideraum und zog das rote Kleid an. Dazu steckte ich mir die Haare hoch und trug den farblich passenden Lippenstift auf.

Ich ging in die Wohnküche, um meine Tasche, welche auf der Kochinsel stand, mit den wichtigsten Utensilien zu füllen. Ryan stand gerade am Sofa und schenkte mir einen gierigen Blick.

»Gott, ich liebe es, wenn du dieses Kleid trägst!«
Ich schmunzelte. »Ich bezweifle, dass du dieses Kleid je an mir gesehen hast.«
Ich drehte mich zu ihm um und sah ihn mit verschränkten Armen grübelnd da stehen.

»Doch! Weißt du denn nicht mehr? Damals in Paris, in diesem schicken Restaurant, wo du dich bekleckert hast und wir bei unserem nächtlichen Spaziergang zum Eiffelturm von dem unglaublich dollen Regen überrascht wurden und bis auf die Knochen nass waren.«
»Nein, Ryan, das ist nie passiert...«, erwiderte ich verwirrt und sah mit an, wie er immer unruhiger wurde.

»Doch! Ich habe dir damals unter dem Eiffelturm DIE Frage gestellt - weißt du nicht mehr, April?!« All das Blut in meinen Adern gefror, als ich hörte, dass er mich April nannte, und ein kalter Schauer überkam mich.
Wurde ich verrückt oder steigerte ich mich da in etwas rein?!

Schon in Vergangenheit hatte ich Gedächtnislücken, welche, wie meine Therapeutin mir erklärte, eine Nachfolge meines Unfalles waren. Aber ist das wirklich passiert?!

Als er merkte, dass ich mich unwohl fühlte und ihm ein Stückweit misstraute, lockerte er seine hektische Miene zu einem Lächeln auf und lachte kopfschüttelnd.

»Zum Glück ist dein Kopf angewachsen, sonst würdest du ihn auch noch vergessen.«
»Ja wahrscheinlich«, sagte ich, tat die Situation mit einem unangenehmen Lachen ab und ging, mir meine Verunsicherung nicht anzumerken, auf Ryan zu, der die Arme für eine Umarmung ausgebreitet hatte.

Ich ließ mich liebevoll umarmen, fühlte in diesem Moment aber rein gar nichts, denn auch wenn wir uns Ehrlichkeit geschworen hatten, hatte ich zunehmend das Gefühl, dass Ryan mir etwas verschwieg.

Ich hätte mein Leben dafür verwettet, dass Ryans glaubwürdig detaillierte Erinnerung aus Paris, zwischen uns so niemals passiert ist...

I never thoughtWhere stories live. Discover now