CXII | Josephine

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Das erste was ich sehe ist ein oranger Rocksaum, der über den Kieselweg schleift. Mein Atem stockt. Die Frau, die diesen Rock trägt, ist größer als in meiner Vorstellung. Sie muss ungefähr so groß sein wie ich, mit relativ breiten Schultern und einer Figur, die durch mindestens eine Geburt gezeichnet ist. Ihr Gesicht weist auf ein hartes Leben hin, auf Phasen ohne viel Nahrung, auf Jahre, die ihr zugesetzt haben. Und doch ist sie wunderschön. Obwohl sie tiefe Falten hat, besonders um die Mundwinkel, strahlt sie eine fast jugendliche Aura aus.
Das Gesicht wird dominiert durch kräftige, dunkle Augenbrauen und stechende grüne Augen. Grüne Augen, die ich schon unzählige Male auf Bildern erblickt habe. Sie ist es, unverkennbar, auch wenn ihre Haare nicht länger in dem einzigartigen Moonroserot glänzen, sondern ein schlichtes Haselnussbraun aufweisen.

Sie trägt ein oranges, kurzärmeliges Kleid, über einem schlichten weißen Hemd. Um die Taille hat sie eine braune Schürze geschlungen, in deren Bund sie ihre weiße Haube gesteckt hat, und an ihrer Hand geht ein kleines Mädchen. Aufmerksam betrachtet sie eine Blume, die am Wegesrand wächst und auf die meine Mutter sie vorher hingewiesen hat. Ihr Haar ist rot, das unverkennbare Rot der Familie, doch auch ihre Augen funkeln in dem dunklen Smaragdgrün. Und plötzlich fühle ich mich unsagbar fehl am Platz. Zu bewusst ist mir mein Aussehen, zu oft wurde ich in den letzten Monaten darauf angesprochen. Das Aussehen meiner Mutter, doch die Farben Valentins. Sowohl meine Haare, als auch meine Augen bestimmt das dunkle Braun, was meinem leiblichen Vater die warme Ausstrahlung verleiht, die ihn ausmacht. Doch mein Gesicht ist ihres. Feine, aber ausdrucksstarke Züge, die mehr in jede andere Zeit passen würden, als in diese hier. Die dünne, hochgeschwungene Nase, in Kombination mit den auffallenden Augenbrauen. Ein spitzzulaufendes Kinn und Lippen mit einem ausgeprägten Amorbogen. Es ist, als würde ich in einen Spiegel schauen, der mir meine Zukunft zeigt. Und doch weiß ich, dass ich hier nicht hinpasse. Ein intuitives Gefühl, das mir jedoch mehr verrät, als tausend Worte.

Kaum betritt sie auch sein Blickfeld, kann ich spüren, wie Elijah sich neben mir zu seiner vollen Größe aufrichtet. Mit ihm gemeinsam tut es auch meine Mutter, die uns scheinbar erst jetzt gesehen und absolut noch nicht realisiert hat, wer da überhaupt vor ihr steht.

Stirnrunzelnd blickt sie einige Sekunden lang in unsere Richtung, ehe ihr alle Gesichtszüge entgleisen und ich die Realisation Oberhand gewinnen sehe.
Erkenntnis, denke ich, ist eine der eigenartigsten Emotionen, wenn es darum geht, sie auf einem Gesicht zu erkennen. Erst fällt jegliche Spannung aus dem Gesicht, nur um in der nächsten Sekunde doppelt so stark zurückzukehren. Und doch ist es die einzige Gefühlsregung, die bei jedem Menschen gleich auszusehen scheint.

Die Lippen meiner Mutter sind leicht geöffnet, die Augenbrauen sind fassungslos nach oben gezogen, die Pupillen scheinen auf eine fast unnatürliche Größe gewachsen zu sein. Der Griff um die Hand des Mädchens hat sich gelockert und es wirkt, als wäre sie zu nichts Anderem mehr in der Lage, als uns anzusehen. Nein. Nicht uns. Elijah. Ihr Blick ist starr auf ihn gerichtet, mich hat sie die ganze Zeit über nicht ein einziges Mal angesehen.

Die Stille liegt wie ein schweres Tuch über uns, selbst die Geräusche der Natur scheinen verstummt, zumindest in meiner Wahrnehmung. Mein Atem ist angehalten, als ich zu Elijah hinauf schiele. Er hat die Hände vor dem Schoß gefaltet und sieht seiner alten Freundin entgegen. Dann wird die Stille gebrochen: „Du solltest nicht hier sein."
„Ich freue mich auch, dich endlich wiederzusehen", erwidert er ruhig, schenkt ihr sogar ein schwaches Lächeln. Sachte weist er mit einer Hand in meine Richtung. „Darf ich vorstellen, Josephine? Katherine Moonrose."

Schlagartig zuckt ihr Blick zu mir hinüber, durchbohrt mich bis auf die Knochen. Der Ausdruck in ihrem Blick ist schlimmer als jeder physische Schmerz. Es ist Angst. Panische Angst. Nervös befeuchte ich meine Lippen, will gerade dazu ansetzen etwas zu sagen, da kommt erneut Bewegung in sie. Erst langsam, dann immer schneller schüttelt sie den Kopf und weicht einige Schritte zurück, zieht dabei das Mädchen mit sich. „Ihr solltet nicht hier sein", wiederholt sie, stolpert fast über einen abgebrochenen Ast auf dem Boden, was sie nur noch schneller werden lässt. Elijahs Hand wandert hinunter auf meinen Rücken und ich kann spüren, wie die kühle Ruhe meinen Körper übernimmt. Es ändert nichts.

Meine Mutter stolpert weiter rückwärts, zieht das Kind und presst sie an sich, beugt sich dann zu ihr hinunter und flüstert ihr etwas zu, jedoch nicht ohne uns aus den Augen zu lassen. Das Mädchen nickt, löst sich und läuft den Weg zurück, den sie gekommen sind. Zurück bleiben die Frau, nach der ich mich mein Leben lang gesehnt habe und wir. Noch immer setzt sie Fuß für Fuß ihren Weg fort, Distanz zwischen uns zu bringen. Ich schlucke schwer. Vielleicht ist sie nicht das, wonach du suchst.

Alles habe ich erwartet, aber nicht das. Unsicher mache ich ihr erst langsam, dann etwas schneller Schritte hinterher. „Mom-", beginne ich, doch sie bleibt wie angewurzelt stehen, fährt herum und faucht mich, mit Tränen in den Augen, an: „Nenn mich niemals so!"

Sprachlos sehe ich ihr entgegen und für einen Moment haben wir Blickkontakt. Einen Moment lang, auch wenn er sich anfühlt wie Stunden, blicke ich in die Augen der Frau, die mich zumindest bis zu meinem siebten Lebensjahr großgezogen hat. Die mir mein Leben geschenkt hat. Und ich erkenne, dass dort nichts ist. Ich könnte genauso gut ein dahergelaufener Streuner sein. Ich bin ihr egal. Vollkommen und bis auf die letzte Zelle. Diese Erleuchtung braucht einige Sekunden, um einzusickern, welche mein Partner für sich nutzt.

„Josephine", setzt er an, doch auch ihn unterbricht meine Mutter. Ihre Stimme ist spitzer, klingt dieses Mal fast hysterisch, als sie zu ihm hinüberfährt und eine hastige Bewegung mit der Hand in seine Richtung macht, wie um ihn am näher kommen zu hindern. „Nein, Elijah! Ihr habt sie hierhergeführt!"
Mein Partner zieht die Stirn kraus. „Sie?"
„Du weißt ganz genau wen ich meine."
„Niemand weiß, dass wir hier sind", versucht er sie zu beruhigen, hebt beschwichtigend die Hände. Auch das wirft keine Früchte. Die beiden Zahnreihen fest aufeinander gepresst, antwortet sie: „Wir wissen beide ganz genau, dass es sie nicht daran hindern würde euch zu folgen."

Der Blick meines Partners zuckt hinüber zu mir, ehe er sich umso fester in den meiner Mutter bohrt. „Vielleicht sollten wir miteinander sprechen."
„Niemals."
„Das war keine Frage", erwidert er lediglich, umgeht sie mit einem großen Schritt zur Seite und richtet seine Ärmel, während er geradewegs auf das Haus zu spaziert und eiskalt die Tür öffnet. Ohne einen Blick zurück zu werfen, tritt er ein, als hätte er dieses Haus mit seinen eigenen Händen erbaut. Meine Mutter eilt ihm nach und ich kann gedämpft ihre schrille Stimme hören, die nach ihm ruft. „Du treibst es zu weit!"

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Schalom!

Was für ein Wiedersehen... was besseres kann man sich doch gar nicht wünschen. Josephine hinterlässt einen absolut Traumhaften ersten Eindruck. Ich wünsche mir doch glatt adoptiert zu werden xD

Wir sehen uns nächsten Donnerstag hier oder irgendwo anders,
Madame-Storyteller



Time Travelling | Lost in TimeWhere stories live. Discover now