Der Angriff

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Als Aiden am nächsten Morgen vor unserem Haus stand und auf mich wartete, sah er verdammt schlimm aus. Er hatte über Nacht Augenringe bekommen und wirkte dauerhaft angespannt. Immer wieder zuckte sein Kopf in Richtung Waldrand. „Was ist los?“, wollte ich von ihm wissen, während ich meine Tasche in meinem Fahrradkorb verstaute. Aiden seufzte und fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. „Ich glaube, ich war die ganze Nacht wach.“ „Warum?“ „Der Rouge. Wir sind seiner Fährte über zwei Stunden quer durch den ganzen Wald gefolgt und sind dabei auffällig oft in die Nähe eures Hauses gekommen.“ Mein Atem stockte. Mein Herz begann schneller zu schlagen. „Was?“, flüsterte ich. Zwei Arme legten sich von hinten auf meine zitternden Hände. „Ganz ruhig, Leonie. Das muss nichts heißen.“ „Aber…“ „Nein. Denk nicht daran. Ich hätte es dir gar nicht sagen sollen. Das bedeutet bestimmt nichts.“ Aiden löste sich wieder von mir und drehte mich zu sich um. Sanft aber bestimmt packte er mich an den Schultern. Seine Augen strahlten in einem so intensiven Grün, dass ich nicht anders konnte, als ihn anzustarren. „Denk einfach nicht daran“, wiederholte er seine Worte. „Wir haben unsere Patrouillen verstärkt, es ist immer jemand in der Nähe eures Hauses. Es wird nichts passieren.“ Mit dem letzten Satz verstärkte sich sein Griff um meine Schultern und er nickte, als würde er sich selbst überzeugen müssen. „Ok“, murmelte ich und löste mich blinzelnd von seinem starren Blick. Ich drehte mich wieder zu meinem Fahrrad. „Lass uns fahren.“

Der Schulweg wurde ein weiteres Mal zur nervlichen Zerreisprobe, doch irgendwie überstanden wir ihn. Als ich nach der Nachmittagsschule zu den Fahrradständern kam und Aiden nirgendwo entdeckte, begann mein Herz schneller zu schlagen. Ich versuchte mich zu beruhigen und schloss mein Fahrrad auf. Bestimmt kam er gleich. Er hatte zwar früher Schluss, wollte aber auf mich warten, damit ich nicht alleine fahren musste. Kurz beruhigte sich mein Herz wieder, wurde aber immer schneller mit jeder verstreichenden Minute. Nach zehn Minuten zog ich mein Handy aus meiner Tasche. Meine Hände zitterten leicht und ich brauchte drei Anläufe, um meinen Pin einzugeben. Und dann prangte mir Aidens Nachricht entgegen wie ein plötzlicher Schlag. Musste doch früher Heim. Mein Vater hat eine Rudelversammlung wegen dem Rouge einberufen, bei der ich dabei sein muss. Es tut mir so leid! Melde dich bitte, wenn du losfährst und wenn du bei dir zu Hause bist. Sei vorsichtig! Wenn irgendwas sein sollte, denk an die Trillerpfeife und schrei laut. Einer von uns wird dich hören. Ich versuchte zu schlucken, doch mein Hals war mit einem Mal staubtrocken. Ich sollte alleine nach Hause fahren. Ich sollte alleine auf einem ausgestorbenen Weg fahren, wo jederzeit ein Rouge auftauchen und mich töten konnte! Aiden hatte mich alleine gelassen! Ich schloss meine Augen und atmete tief durch, doch nichts konnte meinen Körper beruhigen. Da sprangen mal wieder die uralten Instinkte an. Unwillkürliches Nervensystem oder so.

Ich tippte Aiden eine schnelle Nachricht, dass ich jetzt losfahren würde. Kurz überlegte ich, ihm meine Enttäuschung mitzuteilen, ließ es dann aber bleiben. Damit wäre niemandem geholfen. Ich verstaute mein Handy wieder und holte das Pfefferspray und die Trillerpfeife aus meiner Tasche. Die Trillerpfeife hängte ich mir um, damit ich sie auch sofort griffbereit hatte. Das Pfefferspray zwängte ich in meine Hosentasche und ignorierte dabei die schrägen Blicke der wenigen Schüler um mich herum. Die Spraydose passte gerade so in meine Tasche und ich hoffte, dass sie mir nicht während der Fahrt herausfallen würde. Auf dem Weg durch die Straßen stellte ich mir alle möglichen Horrorszenarien vor, die gleich geschehen konnten, sobald ich den Schutz der Stadt verließ. Und dann war es auch schon so weit. Ich stellte mein bewusstes Denken so weit wie möglich ab und konzentrierte mich nur noch auf meine Umgebung und auf die Pedale. Bei jedem Knacken schlug mein Herz schneller. Ein Kribbeln schoss durch meinen ganzen Körper. Mein Blick flog automatisch zum Waldrand, bis ich mit dem Rad so sehr ins Schlingern geriet, dass ich wieder auf den Weg sehen musste. Mit jedem weiteren Knacken steigerte sich das komische Gefühl in mir drin. Ich versuchte mir einzureden, dass es sich bei dem Knacken nur um die von Aiden beschriebene Patrouille handelte, doch nichts konnte mich mehr beruhigen.

Ich wurde immer schneller, was einmal fast dazu führte, dass ich bei einem weiteren Geräusch vom Fahrrad fiel. Dennoch drosselte ich das Tempo nicht. Ich donnerte über die Kreuzung und wurde mir erst Sekunden später bewusst, dass ich von einem Auto hätte überfahren werden können. Ich legte eine Vollbremsung hin. Quietschend kam ich zum Stehen. Keuchend warf ich einen Blick hinter mich auf die Kreuzung. Und das war der Fehler.

Ein Krachen, als würden Bäume ausgerissen werden. Ein Grollen, so dunkel und tief wie es nur von einer Bestie kommen konnte. Und ein Knurren, dass meine Knochen vibrieren ließ. Mein Kopf schoss so schnell zu den Geräuschen, dass mein Nacken zu schmerzen begann. Mir wurde schwindelig. Vor mir teilte sich der Waldrand. Und dann stand sie da, in ihrer ganzen tödlichen Pracht. Schwarzes Fell, zerzaust und verklebt. Rot glühende Augen. Und ein riesengroßes Maul, aus dem der Sabber tropfte. Mein Atem stockte. In meinen Ohren pochte es. Für eine Sekunde blickten wir uns in die Augen. Dann öffnete der Rouge seine Schnauze und brüllte. Vor Schreck stolperte ich nach hinten. Ich vergaß das Fahrrad zwischen meinen Beinen und fiel rückwärts auf den Boden. Mein Arm begann zu schmerzen. Und als das Vieh zum Sprung ansetzte, schaltete sich jedes vernünftige Denken ab. Ich schrie auf. Schnell strampelte ich mein Fahrrad von mir weg. Zitternd stemmte ich mich vom Boden auf. Ich machte einen Hechtsprung und entkam nur knapp den riesigen Pranken.

Dann spürte ich etwas Schweres in meiner Tasche. Das Pfefferspray! Hektisch zog ich es aus der Tasche, während der Rouge sich drei Meter vor mir bedrohlich aufbaute und knurrte. Meine Hände zitterten so sehr. Die Spraydose fiel mir aus der Hand. Mir entkam ein Quietschen. Mein Blick schoss zu dem Rouge und beobachtete ihn. Gleichzeitig beugte ich mich leicht nach unten und suchte mit meinen Händen das Spray. Als ich es endlich fand, riss ich meinen Arm nach oben und drückte einfach nur noch auf den Auslöser. Ein Glück hielt ich das Spray richtig herum. Es traf den Rouge mit voller Wucht. Das massige Tier begann zu grollen und schüttelte seinen Kopf wild umher. Es holte mit seiner Pranke aus und traf mein Fahrrad. Es landete krachend mitten auf der Straße. Dann wurde der Rouge ganz plötzlich ganz still. Er hob seinen Kopf und seine Augen fixierten mich. Und dann lief er auf mich zu. Ich hörte meinen eigenen Schrei erst, als der Rouge direkt vor mir stand. Wieder drückte ich auf den Auslöser des Pfeffersprays. Meinem Gehirn fiel gar nicht ein, dass ich ja weglaufen konnte.

Der Rouge hob seine Pranke. Plötzlich ein unfassbarer Schmerz an meiner Hand. Die Wucht warf mich zu Boden. Tränen traten mir in die Augen. Der Rouge knurrte. „Bitte“, wimmerte ich und kroch rückwärst weiter nach hinten. Der Rouge folgte mir und knurrte erneut. „Bitte nicht“, schluchzte ich. Die ersten Tränen liefen meine Wangen hinab. Und dann ging das Monster in die Hocke. „NEIN!“, kreischte ich. Ich schloss meine Augen und hielt meine Hände schützend vor mein Gesicht. Doch nichts passierte. Es folgte kein Schmerz, keine Dunkelheit. Stattdessen hörte ich einen dumpfen Aufschlag, dicht gefolgt von lautem Geknurre. Aber es war nicht nur der Rouge.

Keuchend öffnete ich meine Augen wieder und strich mir sofort darüber. Die Tränen ließen meine Sicht verschwimmen. Ich blinzelte mehrmals und dann sah ich es. Vor dem Rouge stand ein weiterer Wolf, ebenfalls so groß und mit schwarzem Fell, aber weitaus gepflegter. Ein Knacken ließ mich zum Wald sehen. Aus der Schneise, die der Rouge geschlagen hatte, kamen weitere Wölfe. Nein, keine Wölfe. Werwölfe. Vor Erleichterung kam mir ein Lachen über die Lippen, das sofort in ein Schluchzen überging. Die Werwölfe aus dem Dorf waren gekommen! Sie hatten mich gerettet! Ich war gerettet! Die Werwölfe drängten den Rouge immer weiter von mir weg. Sie bildeten einen Kreis um ihn und ließen ihn nicht mehr entkommen. Er konnte nicht durchbrechen, egal was er auch versuchte. Dann löste sich der schwarze Wolf aus der Gruppe, der zu Anfang alleine gewesen war. Mit schnellen Sprüngen war er bei mir und kurz bevor er sich vor mein Blickfeld schob, setzten alle Werwölfe zum Sprung an. Ich blickte dem Werwolf in die strahlend grünen Augen, während im Hintergrund die Geräusche des Todes leiser wurden. „Aiden?“, flüsterte ich aus einem Impuls heraus. Der Werwolf schien leicht zu nicken. Das genügte mir. Ich drückte mich zitternd an den warmen Körper und ließ meinen Tränen freien Lauf. „Ich hatte solche Angst.“ Und dann wurde schlagartig alles dunkel.

My Love, My Life, My Mate (Werwolf FF)Where stories live. Discover now