4. Daniel - Oberstdorf - Tag der Qualifikation

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„Also liebe Leute, denkt dran: Alles kann, nichts muss. Naja, zumindest die Quali sollte... also... ihr wisst, was ich meine", beendete Alex seine heutige Motivationsrede, bevor wir gemeinsam dazu übergehen würden, uns für die erste Qualifikation der 4Hills fertig zu machen.

Nach einem lauten „Heia Norge", unserem Schlachtruf vor jedem Wettkampf, verabschiedete er sich aus unserer Kabine und ein munteres, aber doch ziemlich hektisches Gewusel begann. Jeder von ihnen hatte vor einem Springen unterschiedliche Rituale, die er wie auf einer To-Do-Liste abarbeitete. Manchmal waren Sportler schon seltsame Wesen.

Das sorgte aber auch dafür, dass ein komisches, chaotisch wirkendes, aber doch einträchtiges nebeneinander entstand. Jeder war mit sich selbst beschäftigt, denn jetzt begann die eigentliche Arbeit. Die Fokussierung auf den einen Sprung, der ihnen hoffentlich eine gute Ausgangslage bescherte: Ein machbares K.o.-Duell.

Da Daniel erst später an der Reihe sein würde als die anderen, weil er im Gesamtweltcup wesentlich weiter vorn platziert war, verließ er den Container, um seinen Teamkameraden ein wenig Platz zu verschaffen. Stattdessen würde er noch zwei oder drei Imitationsübungen machen und wenn dann noch Zeit war, ein wenig joggen, um sich und seine Gelenke warm zu halten.

Draußen an der frischen Luft begann er, sich erst einmal zu strecken und das Tourneefeeling aufzusaugen, das ihn erwartete. Überall knisterte es vor Anspannung und großen Erwartungen. Wie hieß es doch so schön: Man konnte die Tournee in Oberstdorf zwar nicht gewinnen, aber man konnte sie durchaus schon verlieren. Und genau dieses Wissen, das besondere Format, sorgte für diese seltsame Stimmung jedes Jahr wieder bei der Tournee.

In diesem Jahr zählte auch er das erste Mal zum erweiterten Favoritenkreis, neben noch fünf anderen Springern, die allesamt zur Weltspitze gehörten und dieses Gefühl, dieses Wissen beflügelte ihn. Er hatte das Gefühl, das eigentlich nichts schief gehen konnte. Er musste nur seinen Job machen. Lediglich gut springen und er hätte eine Chance. Dass das auch für eben jene fünf anderen Springer galt, störte ihn dabei nicht. Er liebte den Wettkampf. Darin war er gut. Und er kannte die Spielregeln.

Daniel stellte sich in die Nähe des deutschen Teams, die sich mit einer Partie Volleyball aufwärmten, und begann mit einigen seiner Dehnungsübungen. Währenddessen hatte er einen guten Blick auf das Gewusel um ihn herum. Stefan Kraft rannte grüßend an ihm vorbei in die Wachskabine der Österreicher, während der erste Kasache schon seine Sachen zusammenpackte, um sich langsam auf den Weg nach oben zu machen. Es war zwar noch ein wenig Zeit, aber wie gesagt: Jeder hatte andere Rituale und für einige gehörte der langsame bedächtige Gang hinauf zur Schanze dazu.

Während er begann sein Bein zu dehnen und die verschiedensten Verrenkungen vorzuführen, sah er wie gegenüber die Containertür der Slowenen aufgerissen wurde. Heraus stapfte niemand geringeres als der Gesamtweltcupführende höchst persönlich, der in ein Gespräch mit seinem Betreuer vertieft schien. Wild gestikulierend versuchte Domen seinem gegenüber irgendetwas verständlich zu machen. Offensichtlich schien Domens Betreuer nicht allzu angetan von seiner Theorie und schüttelte mit dem Kopf. Lautstark begann dieser nun seinerseits irgendetwas in der Luft zu erklären.

Daniel hatte die Sprünge des Youngsters verfolgt, die durch erhebliche Schwierigkeiten im Absprung-Übergang gekennzeichnet gewesen waren. Wenn er Domens Gesten richtig deutete, dann ging es genau darum. Beide Slowenen nahmen sich eines der rollenden Bretter, auf das Domen sich in Anfahrtsposition stellte, und begann den Absprung-Übergang zu imitieren. Gefesselt behielt Daniel den Slowenen im Blick, während er vom linken Bein auf das rechte wechselte. Schon bei dieser Übung, sah man die steile Neigung des Slowenen zwischen seinen jetzt imaginären Skiern. Es war, als könnte er seine Füße irgendwie abknicken. Absolut faszinierend und anmutig wirkte er, wie er seine Körperspannung hielt, den Blick fokussiert auf das, was unter ihm lag. Es sah einfach so leicht bei ihm aus. Domen versprühte ungebündelte Energie. Feuer, das-

„Das würde ich lassen."

„Was?", erschrocken drehte Daniel sich um. Anders hatte sich unbemerkt zu ihm gestellt und ebenfalls mit Dehnungsübungen begonnen.

„Den kleinen Prevc zu beobachten", deutete er mit einem Nicken auf die Person, die seine Blicke magisch angezogen hatte.

„Was?!", wiederholte Daniel mechanisch, während es in seinem Kopf begann zu rauschen. Hatte er sich gerade verraten? War er wirklich so abgedriftet und hatte es nicht gemerkt? Was sollte er jetzt tun? Alle würden es erfahren und-

„Na, du studierst doch gerade seine Technik, oder nicht?", verwirrt über die ungewöhnlich heftige Reaktion seines Teamkameraden, nahm er seinen Fuß von der Bank und stellte sich mit besorgtem Blick vor Daniel und musterte ihn. Er wirkte blass. Irgendwie fahrig. „Geht es dir nicht gut?"

„Nein... ähm... ich meine... ja, doch...es geht mir gut", stotterte er und konnte es sich gerade noch verkneifen, sich ans Herz zu fassen, das immer noch in seiner Brust schlug, als würde es gerade um sein Leben kämpfen. Erleichtert fuhr er sich stattdessen durchs Haar.

„Bist du sicher? Du weißt, du kannst mit mir reden." Anders sah ihm direkt in die Augen und er musste all seine Willenskraft aufbringen, um diesem standzuhalten. Obendrein schaffte er es sogar noch seine Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln zu verziehen. Okay, es ähnelte mehr einer Grimasse, aber der Versuch zählte.

„Nein, ähm... alles okay... ich hab nur gerade... Ich meine, wie macht der das?", versuchte Daniel irgendwie einen geraden Satz inklusive halbwegs logischer Gedanken zu formulieren. Dass er dabei sein Gesicht gegen sein Knie drückte, hatte natürlich absolut nichts mit der Erleichterung zu tun, die man ihm nur allzu leicht angesehen hätte.

„Weiß nicht. Aber es ist lange nicht so gut, wie es aussieht", stirnrunzelnd sah nun auch Anders zu den Slowenen. Domen hatte sich soeben neu aufgestellt und sprang erneut agil und mit vollem Selbstvertrauen in die Arme seines Betreuers. Und sie waren nicht die einzigen, die ihn neugierig beobachteten. Auch die Deutschen warfen ab und an sehr neugierige Blicke auf den Slowenen, der völlig in seinen Übungen vertieft schien. Eines musste man ihm wirklich lassen: Er war ehrgeizig.

„Wie meinst du das?"

„Naja, ich meine es ist spektakulär und alles, aber anfällig. Heute läuft es auf jeden Fall nicht so gut wie sonst", zuckte Anders mit den Schultern, als wüsste er selbst nicht so richtig, wie er das meinte.

„Es lief schon oft nicht gut in den Probedurchgängen und dann stand er doch ganz oben", erinnerte Daniel ihn und meinte jedes Wort davon ernst. Er hatte vollstes Vertrauen in Domens Fähigkeiten, auch wenn das vielleicht nicht ganz angemessen für einen Konkurrenten war, wie ihm gerade auffiel.

„Du hast aber schon dieselben Sprünge wie ich gesehen, oder?", skeptisch sah Anders wieder zu dem jungen Norweger. Dieser Röntgenblick ließ Daniel wieder deutlich nervöser werden. Ahnte er etwa doch etwas? War er gerade dabei, sich seinen Strick selber zu drehen? Erneut schnellte sein verdammter Puls in die Höhe und er spürte, wie sich die verräterische Hitze über seine Wangen ausbreitete.

„Ja, aber ich glaube, er wird uns überraschen", antwortete Daniel trotzdem mit aller Ruhe, die er irgendwie aufbringen konnte, während er dabei zusah, wie Domen wieder deutlich zufriedener, im Container gegenüber verschwand.

Anders folgte nachdenklich Daniels Blick, der traurig ins Leere zu verlaufen schien. Irgendetwas stimmte da nicht. „Was ist los mit dir?"

„Nichts", antwortete Daniel mit einem Lächeln. „Wirklich! Jetzt schau nicht so besorgt."

„Irgendwas ist doch mit dir..."

„Nein, das bildest du dir ein. Wirklich. Vielleicht etwas nervös", setzte Daniel ein wenig bestimmter hinzu und schluckte seinen Kloß, der ihm unangenehm im Hals saß, hinunter. Er würde es ihnen nie sagen können. Und er hasste es, alle anlügen zu müssen.

Anders beobachtete seinen Teamkollegen genau. Daniel verbarg sein Gesicht vor ihm und setzte seine Übungen fort, die ihn praktischerweise dazu zwangen, sich von ihm wegzudrehen. Aber er hatte die Augen des jungen Norwegers gesehen, und eins stand für ihn fest: Bei Daniel war gerade gar nichts gut. Irgendetwas beschäftigte ihn und das nicht erst seit gestern.

„Hey, einer von euch Lust unser Team zu verstärken?", kam Richard Freitag auf sie zugerannt.

„Die Ersten müssen sich langsam fertig machen, also-"

„Ich mach mit!", platzte es aus Daniel mit Übereifer heraus, noch bevor der Deutsche hatte ausreden können, was ihm erstaunte Blicke von allen Seiten einbrachte.

„Okay... dann zeig, was du kannst", lachte Richard, dachte sich nichts dabei und schmiss ihm den Ball zu, den er vorher noch in den Armen gehabt hatte.

Daniel winkte Anders kurz zu, bevor er dem Deutschen schnell hinterher ging. Das war Rettung in letzter Sekunde gewesen. Anders war wirklich ein toller Freund, aber einfach viel zu aufmerksam. Daniel ahnte, dass Anders ihm nichts von seinem Geschwafel abgekauft hatte. Aber bevor er sich dem erneut stellte, brauchte er dringend eine andere Taktik. Und ein bisschen mehr Disziplin. Anders musste ihn wahrscheinlich nur noch ein wenig aufmerksamer beobachten und schon konnte er sich ausrechnen, dass eins und eins vermutlich nicht drei ergab.

„Dann mal los", rief er den anderen zu, atmete kurz ein und aus, bevor er den Ball in die Luft warf und ihn mit aller Kraft und Wut auf sich und die Welt auf die andere Seite schlug. Warum musste er nur so sein, wie er eben war?!

Angesteckt von Daniels Ehrgeiz, entwickelte sich das Spiel ziemlich schnell in einen regelrechten Wettkampf. So spielten sie voller Konzentration die nächsten Minuten gegeneinander, was Daniel dabei half, sich wieder zu fokussieren und ein wenig ruhiger zu werden.

„Gleich haben wir euch!", rief Andreas Wellinger grinsend und schoss seinen Ball direkt auf Severin.

„Das träumst du wohl!", rief der und parierte ihn einfach meisterhaft direkt vor das Netz der Gegner. Markus, der den Ball in seiner Flugbahn etwas anders eingeschätzt hatte und direkt vor dem Netz stand, sprang in letzter Sekunde hoch, erwischte ihn aber nicht richtig und schlug ihn deshalb genau ins Netz, was Daniels Mannschaft einen weiteren Punkt einbrachte. Offiziell gab es natürlich keinen Spielstand. Inoffiziell schon.

„Wie war das doch gleich? Ihr habt uns? Sehe ich irgendwie nicht so ganz...", stichelte Richard lachend und klatschte sich mit Sevi und Daniel ab.

„Das war Absicht. Wir wollen euch ja nicht blamieren, indem wir haushoch gewinnen", konterte Markus selbstsicher.

So ging das Geplänkel noch eine Weile hin und her, bis sie von einem Ruf unterbrochen wurden.

„Severin! Hier ist jemand, der dir Glück wünschen will", schrie Werner Schuster quer über den Platz und zeigte auf seine hübsche blonde Begleitung, die nur Augen für einen Mann hatte.

Sofort ließ Severin den Ball fallen und rannte mit einem breiten glücklichen bis über beide Ohren verliebten Grinsen auf seine Frau zu, die er fest in seine Arme schloss und küsste.

„Das ist echt nicht fair", schüttelte Stephan mit dem Kopf.

„Kannst du laut sagen. Hat Glück im Spiel und kriegt die Frau", sagte auch Andreas gespielt entrüstet. „Echt unverschämt!", setzte er lauter hinzu, sodass es bis zu Severin durchdrang, der, statt sich von seiner Frau zu lösen, einfach den Mittelfinger hob und in den Kuss mit seiner Frau hinein grinste.

Fasziniert beobachteten sie das Schauspiel, das sich ihnen bot. Daniel sah wie glücklich die beiden waren, wie verliebt sie sich ansahen, als sie sich von ihrem Kuss lösten und in den Augen des jeweils anderen versanken. Sehnsucht stieg in ihm auf und ihm wurde wieder einmal bewusst, dass er sich nach etwas sehnte, was er nie würde haben können. Besser er verabschiedete sich eher früher als später von seinen Wunschträumen, dann würde es mit Sicherheit irgendwann leichter werden, dachte er und stieß unbeabsichtigter Weise ein kleines Schnauben aus.

„Ja, die sind schon abartig glücklich, was?", schlug Richard ihm seinen Ellenbogen leicht in die Seite, der seine Reaktion ein bisschen fehlgedeutet hatte. Trotzdem konnte Daniel ihm in seiner momentanen Gefühlslage da nur zustimmen. Wenn auch aus völlig anderen Gründen.
„Als ob sie sich ein Jahr nicht gesehen hätten, dabei waren es nur zwei Tage", erzählte Markus und beobachtete die beiden voll ehrlichen Unglaubens. Wie konnte man nur so verliebt sein und das nach über fünf Jahren Beziehung?

„Und wenn du das schon seltsam findest, dann hättest du mal sehen sollen, was Sevi zu ihrem Geburtstag veranstaltet hat", begann Richard aus dem Nähkästchen zu plaudern. „Hat überall in ihrer gemeinsamen Wohnung Herzchenluftballons aufgehangen mit Bildern von den beiden dran."

„Ja, und dazu gab es die volle Palette aus Kerzen, Rosen, romantischer Musik und natürlich, man gönnt sich ja sonst nichts, den Ring samt dazugehörigem Antrag", zählte Andreas auf, und die Begeisterung aus seiner Stimme war deutlich herauszuhören. „Was glaubst du, hab ich mir anhören dürfen, als ich das meiner Freundin erzählt hab?"

Achselzuckend wartete Daniel neugierig auf die Antwort des Deutschen.

„Ja, also Andi", begann dieser mit deutlich höherer Stimmlage seine Freundin zu imitieren. „Das nenne ich mal einen Mann, der seine Frau wirklich liebt. Kannst dir ruhig mal was abschneiden...blablabla", beendete er seine Ausführungen augenverdrehend. „Ich Trottel hab ihr das überhaupt nur erzählt, weil ich dachte, - da sieht man mal, dass ich besser nicht so viel denken sollte, - na, jedenfalls hatte ich angenommen, dass sie das genauso abartig schmalzig finden würde wie ich... Ich meine, Caro steht auf Monsterfilme und Bier?!? Wie hätte ich da auf die Idee kommen sollen, dass sie im tiefsten inneren eine verkappte Romantikerin ist?!"

„Armer Andi!", klopfte ihm Richard mitfühlend hämisch auf die Schulter. Richard war ja der Meinung, dass jede Frau zumindest ein wenig Romantik verdient hatte.

„Ja, unser Severin ist, auch wenn man es ihm nicht ansieht, ein echter Meister der Romantik", kam Stephan zum ursprünglichen Thema zurück und während die beiden weiter über Severin und seine Frau sprachen, driftete Daniel mit seinen Gedanken ab. Er fragte sich, welche Art Pärchen sie wohl abgeben würden. Domen und er. Er konnte es sich absolut nicht vorstellen, dass sie so wären wie Severin und seine Caren. Er konnte sich den jungen Slowenen beim besten Willen nicht in einem Zimmer mit Herzluftballons vorstellen ohne, dass der den Drang verspürte, Brechreiz zu bekommen. Wahrscheinlich würde er sogar nach einer Pistole fragen, weil er annahm, dass das Romantische an den Luftballons wäre, sie abzuschießen. Insgesamt würde er es wahrscheinlich sowieso romantischer finden, gemeinsam eine Dose Suppe zum Kochen zu bringen, als so etwas über sich ergehen lassen zu müssen. Ein kleines Lächeln breitete sich über Daniels Gesicht aus, als er daran dachte und begann, sich Domen fein herausgeputzt für ein Date vorzustellen, doch fast im selben Moment erlosch das Lächeln wieder. Das würde er nie herausfinden und er würde gut daran tun, im hier und jetzt zu bleiben, statt sich albernen Vorstellungen hinzugeben. Er musste Abstand wahren. Er würde noch alles, was er sich aufgebaut hatte, kaputt machen wegen seiner albernen Verliebtheit in einen unreifen 17-jährigen Teenager.

„Hey, - ähm ich werd dann mal noch ne Runde joggen", klinkte er sich in das Gespräch seiner Mitspieler wieder ein.

„Ja, klar. War ein super Match", bedankte sich Richard mit einem Handschlag.

„Kannst gern wieder mitspielen", fiel auch Severin ein, der wieder auf sie zukam, nachdem er sich noch einmal sehr ausgiebig von seiner Frau verabschiedet hatte.

„Warts nur ab, beim nächsten Mal gibt's ne Revanche, die nicht so gut ausgeht, Tande", drohte Markus mit erhobenem Zeigefinger. Dabei glitzerten seine Augen in freudiger Erwartung, sein Versprechen in nicht allzu ferner Zeit wahr werden zu lassen.

„Ich behalts im Hinterkopf", rief Daniel über seine Schulter und steuerte zielstrebig auf den Weg zu, der über den Berg durch einen kleinen Wald führte. Hier hatte er seine Ruhe und konnte sich endlich wieder auf das Wesentliche konzentrieren. Er musste sich zusammenreißen. So ging das einfach nicht weiter. Er konnte sich nicht weiter Dingen hingeben, die einfach nicht da waren.

Gemächlich joggte Daniel um eine kleine Kurve hinter der Noriaki Kasai auftauchte, der sich schon wieder auf dem Rückweg von seiner Joggingrunde befand. Freundlich grüßten sich die beiden Sportler und liefen jeder ihres Weges weiter.

Er musste Abstand von Domen halten. So einfach war das. Irgendwann würden sich seine Gefühle auch wieder einkriegen und dann konnte er in aller Ruhe weiter leben.

Daniel war dabei so in seinen Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkte, wie hinter ihm ein weiterer Läufer auftauchte, der sich ihm langsam näherte. Es dauerte nicht lang, bis der Neuankömmling Daniel sprichwörtlich an den Schuhen klebte.

„Bisschen lahm heute, was?" Leichtfüßig drehte er sich mit dem Rücken zur Laufrichtung, um seinen Gesprächspartner im Blick zu haben.

„Womit hab ich das nur verdient?", brummte Daniel leise in seinen nicht vorhandenen Bart, als er sah, wer da neben ihm herlief. „Butterprinzessin", wandte er sich Domen in der Absicht zu, ihn ebenso schnell wieder loszuwerden, wie er aufgetaucht war. Trotzdem konnte er es sich nicht verkneifen, seinen Laufstil besorgt zu mustern. Eine Wurzel und er und sein Kopf würden eine engere Bekanntschaft mit dem Boden machen, als Domen lieb war.

„Lahmarsch", antwortete Domen und hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Das war ja der schlagfertige Konter schlechthin gewesen, diagnostizierte er.

„Die Butter liegt dir noch schwer im Magen, was?", konnte Daniel es sich nicht verkneifen, noch ein wenig mehr zu stacheln. „Aber mal ernsthaft: Dreh dich wieder um. Das kann man sich ja nicht mit ansehen."

Domens Gesichtsausdruck verfinsterte sich ein wenig und nahm einen seltsam verbissenen Zug an. Wenn er nur an Butter dachte, würde er sich am liebsten gleich in einen Bottich voll davon verkriechen. Und warum wollte ihm jeder vorschreiben, was er zu tun oder zu lassen hatte? „Wieso? Du bist doch derjenige mit der Gehbehinderung und dem eingebauten Wurzel-find-Radar", spielte er auf ihre Begegnung im Wald am gestrigen Abend an.

„Hör mal, ich bin mir sicher, dass das dein Coach anders sehen würde", versuchte Daniel es erneut, obwohl er den Slowenen am liebsten stehen gelassen hätte.

„Zu dumm, dass der gerade nicht hier ist." Noch nie hatte Daniel etwas gehört, das so vor Ironie triefte, dass man es sprichwörtlich auswinden konnte.

„Das ist nicht witzig! Bist du echt so scharf drauf, dir jetzt noch die Tournee zu versauen?", fragte Daniel ihn aufgebracht und blieb stehen.

„Hey! Nicht stehen bleiben! So macht das doch keinen Spaß mehr!", stoppte nun auch Domen, zur großen Erleichterung von Daniel. Wäre mit Sicherheit nicht einfach Goran zu erklären, warum sein Star mitten im Wald mit ner Platzwunde herumlag. Der würde explodieren und ihm und Domen ganz nebenbei noch die Köpfe mitreißen.

„Lass mich einfach in Ruhe, okay? Mach deinen Quatsch wo anders", resigniert sah Daniel Domen an, bevor er einfach weiterlief. Abstand, rief er sich in Erinnerung. Das hier sollte nicht sein Problem sein. Daran sollte er nicht einmal einen Gedanken verschwenden, wenn man es genau nahm.

Doch noch bevor er seinen Gedanken zu Ende gebracht hatte, tauchte Domen wieder an seiner Seite auf. Der war ja schlimmer loszuwerden als ein Schwarm angestachelter Wespen.

„Und wenn ich nicht verschwinde? Immerhin gibt es hier äh... lass mich überlegen... ja doch... genau KEINEN anderen Weg, den man zum Joggen wählen könnte. Und dein Tempo ist echt angenehm. Für ne lahme Ente ist das echt gar nicht schlecht und ich wollte mich sowieso schonen", stichelte Domen weiter. Er genoss es, den Norweger auch mal ein bisschen zu reizen. So gefiel ihm das viel besser. Er fand es fast so gut, wie zu siegen.

„Okay, dann anders: Was kann ich tun, damit du verschwindest? Soll ich dir sagen, wie toll du bist? Dass du bestimmt gewinnen wirst? Was, Domen, würde dich dazu bringen, mich in Frieden zu lassen?", wollte er wissen und ärgerte sich, dass der Slowene es geschafft hatte, ihn dermaßen zu reizen und seinen Geduldsfaden platzen zu lassen. Und obwohl der Tag so gut angefangen hatte, schien es von jetzt an nur noch bergab zu gehen. Und die große Frage, die wie immer unbeantwortet blieb, war: Wieso er? Was hatte er nur in seinem früherem Leben getan, dass so viel Quälerei rechtfertigte?

Domen, der ihn stirnrunzelnd von der Seite musterte, weil er so einen Ausbrauch vom ständig lässigen Daniel Andre Tande nicht gewohnt war, wurde das Gefühl nicht los, dass Daniel für seine Wut, die sich offensichtlich aus irgendwelchen Gründen in ihm aufgestaut hatte, dringend eine Art Ventil brauchte. Genau wie er, nachdem er heute Morgen gefühlt seine persönliche Hölle durchlebt hatte.

„Wettrennen. Du und ich. Bis zur Gabelung. Dann bin ich weg", verlangte der Prevc-Spross mit all seiner Abgeklärtheit.

„Ich mach dich fertig", war alles was Daniel über die Lippen brachte.

Domen grinste. Es wurde Zeit, dem Norweger zu zeigen, wer hier am längeren Hebel saß. „Das wollen wir doch mal sehen, Opa."

Daniel, der kaum Notiz von der Antwort genommen hatte, begann ohne Umstände seine Geschwindigkeit zu erhöhen, was Domen erst viel zu spät bemerkte.

„Hey! Nein! Frühstart! Das ist unfair!", schrie er dem Norweger hinterher, der ihn einfach ignorierte und verbissen begann zu laufen. Er musste den Slowenen loswerden. Er konnte so nicht weiter machen.

Hartnäckig fixierte der Jüngere sein Ziel und kämpfte darum, Zentmeter um Zentimeter wieder näher an den Rücken des Norwegers zu kommen. Er spürte den harten Boden unter seinen Füßen, das Ziehen in der Seite, konnte aber nur daran denken, dass er den Norweger besiegen musste.

Daniel, der den Atem seines Gegners im Rücken spürte, bemühte sich darum, noch ein letztes bisschen mehr aus sich herauszuholen. Diesmal wollte er dem Slowenen den Sieg nicht gönnen. Er hatte wegen ihm schon in mehr als einer Hinsicht verloren. Vielleicht war es irgendwann mal Zeit, sich irgendetwas wieder von seinem halbwegs normalen Leben zurückzuholen. Domen hatte es selbst gesagt: Danach würde er ihn in Ruhe lassen. Das war doch genau das, was Daniel anstrebte.

Ein letztes Mal steigerte Domen sein Tempo, um an seinem Gegner vorbei zukommen, holte das letzte bisschen aus sich heraus, als liefe er um sein Leben und kam nur einen Hauch vor Daniel an der Gabelung an.

Schwer atmend gingen beide in die Knie und rangen nach Luft.

„Nicht schlecht für dein Alter", keuchte Domen großzügig und voller Euphorie, bevor er zu Daniel aufblickte, der ihm, ebenfalls die Arme auf den Knien abstützend, entgegensah und sich innerhalb kürzester Zeit zum zweiten Mal an diesem Tag fragte, womit er das nur verdient hatte.

„Nicht schlecht, für eine Butterprinzessin", war alles, was Daniel deprimiert erwiderte, doch zu seiner Überraschung begann Domen zu lachen. Stirnrunzelnd richtete er sich auf. War der Jüngere vielleicht doch irgendwann in den letzten Tagen auf den Kopf gefallen und hatte einen Schaden davon getragen?

„Nicht schlecht, für einen Lahmarsch. Geht's dir jetzt besser?"

Überrascht riss Daniel die Augen auf. „Wie-...?"

„Das hätte ein Blinder mit Krückstock gesehen. Aber ernsthaft: guter Lauf", lobte Domen Daniel jetzt auch noch gönnerhaft mit seinem Spitzbubengrinsen und hielt Daniel seine Hand entgegen. Das überforderte Daniel irgendwie.

Wie paralysiert blieb dem Norweger nichts anderes übrig, als sich ebenfalls aufzurichten und die ihm dargebotene Hand zu ergreifen. Er versank sofort, als er Domen in die Augen sah, in ein moosgrünes Waldbodenstück, das ganz unschuldig seinen Blick erwiderte. Ohne jeglichen Hintergedanken. Die Welt schien für einen Moment aufgehört haben sich zu drehen und knisternde Stille entstand zwischen den Beiden, als sie sich die Hände gaben. Und nicht wieder losließen, stattdessen einfach im Moment versanken. Jeder auf seine Weise.

„Da bist du ja!"

Vom Blitz getroffen preschten die zwei auseinander und sahen ertappt zu einem genervten Peter, der die beiden misstrauisch musterte, als er die roten Gesichter der beiden bemerkte. Irgendetwas hatte er gerade verpasst, so viel stand fest. Auf welche Art von Blödsinn hatte sich sein Bruder nur jetzt wieder eingelassen?

„Hey, ja... ich... gerade auf dem Weg zurück. Ähm war ich", stammelte Domen leicht aus dem Konzept gebracht und rannte seinem Bruder schnellen Schrittes entgegen, den er ohne zu zögern am Arm packte und mit sich den Weg wieder zurück schleifte ohne einen Blick oder ein Wort zurückzuwerfen.

Daniel, der immer noch wie erstarrt an derselben Stelle stand, begann stattdessen das ganze Ausmaß dessen zu realisieren, was er ziemlich wahrscheinlich eben angerichtet hatte. Dabei war doch gerade alles irgendwie gut gewesen. Domen hatte es irgendwie geschafft, dass seine tief sitzende Wut verraucht war. Aber jetzt... War er noch ganz bei Trost? Er raufte sich die Haare. Damit hatte er sich sicher verraten. Wahrscheinlich. Damit war einfach alles vorbei. Vielleicht. So blöd konnte niemand sein, um nicht zu bemerken wie er fühlte und wenn Peter es nicht realisiert hatte, dann ganz sicher Domen. Oder nicht? So schnell wie der sich vom Acker gemacht hatte, konnte das gar nichts anderes bedeuten. Möglicherweise. Oh, Gott!

Er musste irgendetwas tun. Das irgendwie gerade biegen. Schließlich hatte er es auch vermasselt. Vielleicht ließ Domen mit sich reden und hielt die Klappe? Oder im besten, aber unwahrscheinlichsten Fall, hatte er nichts gemerkt. Nur wie sollte er das herausfinden ohne mit ihm darüber zu sprechen? Verzweifelt vergrub er das Gesicht in seinen Händen und raufte sich die Haare.

Und dieses Gespräch, das hatte er im Gefühl, konnte doch eigentlich nur in einer Katastrophe enden. Oder?

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