22. Daniel - Innsbruck - Day off

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...Rudolph the red nosed reindeer – brought some corn for popping the lights are turned – Come, they told me Pa-rum pum pum pum Our newborn King to see Pa-rum pum pum pum -Of living our lives in perfect harmony A wonderful dream of joy and fun for everyone To celebrate a life where all are free...
Wind wehte durch die engen Straßen von Innsbruck, in denen überall dort, wo Platz war, Weihnachtsbuden aufgestellt worden waren, aus denen nun allerlei Weihnachtsmusik drang. Menschenmassen schoben sich langsam vorwärts, blieben ab und an kurz stehen, um sich einen Glühwein zu kaufen oder mit leuchtenden Augen die Ware der Aussteller anzusehen. Alle waren sie dick eingepackt, um dem eiskalten Wind keine Angriffsfläche zu bieten, der ihnen die verschiedensten Gerüche an die Nase trug. Den herben Duft der Bratwürste vom Stand gegenüber, gepaart mit dem süßlichen einer Räucherkerze. Den aromatischen Geruch von Glühwein, der sich mit dem der Lebkuchen und gebrannten Mandeln vermischt hatte. Und obwohl die Nacht längst in der Stadt Einzug gehalten hatte, schien jede noch so kleine Gasse hell erleuchtet zu sein und verbreitete das Gefühl gemütlicher Lebendigkeit und Wärme, die gegen die kalte und dunkle Jahreszeit trotzte.

Daniel quetschte sich an einem älteren Mann mit grauen Haaren vorbei, der seiner Frau gerade eine Tasse dampfenden Glühweins überreichte, während die Tochter der beiden fröhlich an ihrem Lebkuchen knabberte und dabei auf und ab hüpfte. Gemeinsam liefen sie auf einen der leeren Stehtische zu, die überall an den Seiten aufgebaut worden waren, an denen die verschiedensten Grüppchen zusammenstanden und sich lautstark über die Musik hinweg unterhielten.
Er folgte der grünen Jacke, die sich zielstrebig durch die Menge kämpfte und dabei schon den ein oder anderen bösen Blick kassiert hatte. Als die Straße wieder ein wenig breiter wurde, sah Domen sich suchend um und verlangsamte sein Tempo, sodass Daniel wieder zu ihm aufschließen konnte.

„Ich meine, der Wettbewerb ist einfach zu wichtig, als dass ihn der Wind entscheiden sollte! Und trotz der schlechten Vorhersage wird man wie jedes Jahr versuchen, einen Durchgang durchzuquetschen", fuhr Domen mit ihrem Gespräch dort fort, wo sie vor fünf Minuten gezwungenermaßen aufgehört hatten.

Genaugenommen hatte der Slowene, seit sie losgegangen waren, nicht eine Minute geschwiegen. Nachdem er sich ausgiebig über das Wetter in Innsbruck ausgelassen hatte, waren sie irgendwann auf sein absolutes Lieblingsthema zu sprechen gekommen. Verstohlen warf Daniel einen Blick zur Seite. Er fragte sich immer noch, ob es eine gute Idee gewesen war, mitzukommen.

„Und wenn sie schon wissen, dass es wahrscheinlich wieder so laufen wird, weil die Uhrzeit für Innsbruck in den letzten Jahrzehnten immer schlecht gewählt gewesen ist, dann sollte man doch eigentlich meinen, dass die FIS mal in der Lage wäre, auf ein Flutlicht an der Schanze zu bestehen. Ich meine, was kann so ein bisschen Flutlicht schon kosten?!", empörte Domen sich indessen weiter und starrte grimmig geradeaus. Für einen außenstehenden Beobachter mussten sie wirken wie immer. Aber taten sie das auch wirklich?

„Vermutlich mehr als ein bisschen", gab Daniel zu Bedenken und machte aus Domens wirklich hinreißendem Monolog für kurze Zeit einen Dialog. Es kam ihm irgendwie unwirklich vor, nach all den Geschehnissen der letzten Tage jetzt hier neben dem jungen Slowenen die Straßen entlangzulaufen. Er wusste nicht, worauf das ganze hinauslaufen würde und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Er hasste die Ungewissheit. Sie zerfraß ihn.

„Ich bitte dich!", schnaubte Domen neben ihm. „Die Tournee bringt so viele Touristen in die Stadt! Ich meine, sieh dich doch nur mal um! Nur noch ein paar Menschen mehr und die müssten sich wirklich Gedanken machen, dass die Masse nicht doch mal in eine der engen Gassen steckenbleibt. Ich meine, Innsbruck würde einen Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde für das größte Gruppenkuscheln der Welt verdienen!"

Wild gestikulierend lief Domen neben ihm weiter. Für ihn schien tatsächlich alles normal zu sein. So wie immer. Ohne Liebesgeständnis. Daniel hatte Domen offensichtlich nicht verschreckt. Oder zumindest nur ein bisschen. Ihm war das seltsame Verhalten des Slowenen vor dem Hotel schließlich nicht entgangen: Wie er sich immer wieder nervös durchs Haar gefahren war, mit seinen Fingern gespielt hatte, seine Beine, die vor sich hin gezappelt hatten. Doch seitdem agierte der Slowene wieder erschreckend normal. Nicht, dass seine Gesichtszüge dem Norweger auch nur einen kleinen Hinweis auf dessen Innenleben gaben. Und diese Ungewissheit raubte ihm den letzten Nerv.

„Und du kannst mir nicht erzählen, dass da nicht ein bisschen was in den Sofaritzen für ein kleines Flutlicht an der Schanze übrig ist!", ärgerte Domen sich weiter vor sich hin, während Daniel ihn verstohlen von der Seite musterte, bereit beim geringsten Anzeichen von Unbehagen zu reagieren.

Er wollte es nicht versauen. Wenn Domen bereit war, zum Normalzustand zurückzukehren, dann konnte er das auch. Er musste sich nur genügend Mühe geben, dachte Daniel angespannt. „Das Sofa will ich sehen, von dem du da sprichst", versuchte Daniel sich an einem unbeschwerten klingenden Lachen, während er beschloss, lieber noch ein paar Zentimeter mehr Abstand zwischen ihnen zu halten. Er wollte nicht, dass Domen sich von ihm bedrängt fühlte.
„Hör auf dich darüber lustig zu machen! Du weißt genau, was ich meine", schlug Domen Daniel seinen Ellenbogen in die Seite und verringerte dabei ihren Abstand automatisch wieder.
Überrascht sah Daniel den Slowenen an, der sich an einem jungen Pärchen vorbeidrängelte und beinahe dessen Glühweintassen auf dem Gewissen gehabt hätte. „Die Vorhersagen für übermorgen sind alles andere als gut und denk doch nur mal an die Wettkämpfe der vergangenen Jahre! Denk an Anssis Sieg vor drei Jahren. Nicht, dass ich es ihm nicht gönne, aber wir wissen alle, dass er das hauptsächlich den Bedingungen zu verdanken hatte und das hätte beinahe die gesamte Tourneewertung durcheinandergebracht. Schon da wäre einiges anders ausgegangen, wenn man Flutlicht gehabt hätte."

Fasziniert starrte Daniel Domen an. Beobachtete wie er mit hundert prozentiger Leidenschaft hinter seinem Sport stand. Und er musste Domen nicht in die Augen sehen, um zu wissen, welches Feuer in ihnen brannte. Wie es wohl wäre, wenn Domen ihn einmal in seinem Leben so ansehen würde? Ein Schauer jagte Daniel den Rücken herunter, als Domen sich zu ihm wandte und ihre Blicke sich trafen.

„Ähm...", schluckte Domen und Daniel wandte sich erschrocken ab. Den Blick fest auf den Boden gerichtet, nicht in der Lage irgendetwas herauszubringen, wartete er darauf, dass der Slowene sich angewidert von ihm abwandte, während er sich darauf konzentrierte, einen Schritt nach dem anderen zu setzten.

„Also... was ich...ähm sagen will, ist... Daniel... Wie kannst du nur so ruhig bleiben?", beendete der Slowene nervös seinen Gedanken und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn Daniels Blick aus dem Konzept gebracht hatte. Als Daniel die Stille, die seinem Satzende gefolgt war, einfach nicht füllte, setzte er erneut an, in der Hoffnung, seine absolut unbegründete Nervosität irgendwie wieder verstecken zu können. „Ich meine, ich bewundere dich wirklich dafür, aber ich wüsste nicht, was ich tun würde, wenn ich so nah dran wäre, die Tournee zu gewinnen und dabei gleichzeitig den Wetterbericht kennen würde."

Erleichtert atmete Daniel aus, als Domens Worte und dessen Bedeutung langsam an seine Ohren und in sein Gehirn vordrangen. Er hatte den Bogen nicht überspannt. Domen lief immer noch neben ihm. Aber war der Slowene schneller geworden? Oder bildete er sich das nur ein? War sein Blick war also doch nicht spurlos an ihm vorübergegangen? Er musste sich zusammenreißen, dachte er, als sie mit Höchstgeschwindigkeit an der imposanten Hofkirche vorbeiliefen, für die Domen nicht einen Blick übrighatte, während er zahlreichen Touristen auswich, die begeistert stehengeblieben waren und Fotos schossen.

Er musste irgendwie wieder zur Tagesordnung zurückkehren. Sich normal benehmen. Seine Gefühle in den Griff bekommen. Es sollte wieder werden, wie vor dem Kuss. Das war tausendmal besser, als das hier. „Naja, ich meine, jetzt kann ich daran sowieso nichts ändern, oder? Und wenn ich mich jetzt verrückt mache, hilft mir das doch auch nicht weiter", antwortete er schließlich und wusste dabei gar nicht so genau, mit wem er jetzt sprach, mit Domen oder sich selbst, als sie gemeinsam die Straße überquerten und in die kleine Hofgasse einbogen.

Schnellen Schrittes setzten sie ihren Weg fort, während sich die unangenehme Spannung zwischen ihnen immer weiter aufbaute. Zumindest Daniel aus dem Konzept brachte, während Domen entweder ein wirklich guter Schauspieler war oder für ihn tatsächlich alles so war wie immer. Und der Norweger konnte sich nicht recht entscheiden, was von beidem für ihn schlimmer war. Verzweifelt sah Daniel sich um und bemerkte, dass sie soeben dabei waren, auch an der Hofburg einfach vorbeizulaufen. Da kam ihm eine Idee.

„Sag mal Domen, wolltest du dir nicht die Stadt ansehen?", rief er dem Slowenen schließlich zu und wartete unsicher auf dessen Reaktion.

„Mach ich doch", behauptete dieser verwirrt und sah einmal demonstrativ die Straße hinauf und herunter, ohne die Hofburg in seinem Rücken auch nur zu bemerken. „Schön hier."

Nervös begann Daniel zu lachen.

„Was?", runzelte Domen mit tausend Fragezeichen im Gesicht die Stirn, als Daniel seine Hand hob und auf irgendetwas hinter ihm zeigte.

„Du bist echt der schlechteste Tourist, den ich je gesehen habe", kommentierte Daniel, während Domen überrascht den Mund aufriss, als er sich umdrehte. Er war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass er die Burg tatsächlich überhaupt nicht registriert hatte. So wie alles andere im Übrigen auch. Genauso gut hätte er eine dieser Augenklappen tragen können. Das einzige, dessen er sich übermäßig bewusst war, war Daniels Anwesenheit, die alles in ihm aussetzen ließ. Er hatte den Ausflug wirklich für eine gute Idee gehalten. Für eine einfache Methode, um wieder runterzukommen. Seine Reaktionen in den Griff zu kriegen und Daniel wie jeden anderen Menschen auch zu behandeln. Aber hier war gar nichts leicht. Er kämpfte und wusste nicht einmal genau gegen was.

„Das ist die eigentlich kaum zu übersehene Hofburg. Im Spätmittelalter von den Habsburgern, eines der großen Herrschergeschlechter des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, gebaut. Irgendwann ist es dann mal abgebrannt und wiederaufgebaut worden, bis Maria Theresia sich schließlich dem Gebäude angenommen hat und es im damals hochmodernen Rokokostil generalüberholen lassen hat. Wer jemand sein wollte, musste eben auch damals mit den Massen gehen und den neuesten Trends nicht hinterherhängen", kratzte Daniel sein Wissen aus dem letzten Sommer zusammen und fragte sich, ob das wirklich das richtige Gesprächsthema war. Langweilte er den Slowenen? „Das ist wie bei den Promis, die ihre Häuser, in denen sie nicht wohnen, für irgendwelche Zeitschriften ablichten lassen."

„Oder dem Flutlicht an Schanzen", warf Domen altklug ein.

„Sag mal, du rechnest in der Schule auch nur, wenn in den Aufgaben was mit Weitenmetern in Relation zu Windgeschwindigkeiten vorkommt, oder?", entfuhr es Daniel ohne nachzudenken.
„Nein, stell dir vor, manchmal lasse ich mich sogar dazu herab, Abhandlungen über die Wichtigkeit von Flutlicht an Schanzen zu schreiben", gab Domen trocken zurück und linste kurz zu Daniel, der sich angesichts dieser Antwort ein kurzes Grinsen nicht verkneifen konnte.

„Ganz ehrlich? Allein die Vorstellung, dass du neunzig Minuten still in einem Zimmer sitzt, fällt mir schon schwer... Aber ein Domen Prevc, der literarisch tätig ist?", ließ Daniel sich dazu hinreißen, ein bisschen zu sticheln, angesichts seines Kopfkinos und des empörten Gesichtsausdruckes neben ihm.

Aus zusammengekniffenen Augen starrte Domen ihn an. „Hör auf zu lachen!", forderte er den Norweger auf und schlug ihm zögerlich auf die Schulter. „Ich weiß nicht, was an der Vorstellung so lustig sein soll!", verschränkte er die Arme vor seinem Körper, konnte sich ein Grinsen allerdings nicht verkneifen. Erleichtert stellte er fest, dass sie doch noch miteinander reden konnten ohne sich zwanghaft darum bemühen zu müssen. „Und mal so ganz nebenbei: Meine literarischen Ergüsse sind fantastisch!"

„Sicher. Ich sehe es direkt vor mir", bemühte Daniel sich um einen ernsten Tonfall. „Interpretation des Gedichts Alles still von Theodor Fontane, verfasst von Domen Prevc. Chrm", räusperte Daniel sich wichtigtuerisch, während er versuchte, seinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen. Nur nichts anmerken lassen. Es sollte wieder wie vorher werden. Und das ging nicht, wenn er ihn ständig mit seinem komischen Verhalten aus der Fassung brachte. „Der Autor spielt in seinem Gedicht eindeutig mit dem Motiv des Winters in Bezug auf die latent anwesende Gefahr beim Skispringen, die besonders in der kalten Jahreszeit immer wieder ins Bewusstsein rückt. Der Springer, der den Wind für seinen Sprung nutzt, kann schnell der Wunschvorstellung erliegen, dass er Kontrolle über die Natur habe, was lediglich ein Wunschkonzept des Menschen darstellt und hier ab absurdum geführt wird. Der kalte harte Boden steht dabei sowohl für den harten Aufprall des Springers auf dem Hang, als auch für den Aufprall in die harte Realität bei einem Sturz. So wird auf die Gefahr verwiesen, die Kräfte der Natur zu unterschätzen und sich zu sicher zu fühlen. Und nur wer bereit ist, dieses Wissen für sich zu nutzen und der Angst vor dem Kontrollverlust genügend Mut entgegenzusetzen hat, kann im Springen etwas erreichen. Zitat Ende", führte Daniel belustigt aus.

„Naja, wenigstens befördere ich meine Lehrer nicht mit Hühnern in die Klapse", konterte Domen laut und lenkte damit die Aufmerksamkeit aller umstehenden Touristen auf sie beide. Schadenfroh registrierte Domen, wie Daniel, sich total aus dem Konzept gebracht, unter den wenig verständnisvollen Blicken wandte.

„Therapie! Sie hat nur eine Therapie gemacht!", berichtigte Daniel hastig, während der ältere Mann, der rechts neben ihm mit seiner Frau gestanden hatte, um ein Bild mit der Hofburg im Hintergrund zu schießen, entrüstet schnaubte und ihn böse ansah.

Gedankenlos schoss Daniel auf Domen zu, der das ganze amüsiert beobachtet hatte, und zog ihn erbarmungslos mit sich fort. „Ach, das muss dir doch nicht peinlich sein, wir waren schließlich alle mal jung und haben dumme Sachen gemacht", tönte der junge Slowene für jeden gut hörbar, während er ihn schnaubend hinter sich herzog.

Domen war Chaos. Unberechenbar. Zumindest hatte er diese Eigenschaft in Bezug auf sein Leben. Brachte ihn ständig aus der Fassung, zwang ihn regelrecht zu handeln ohne zu denken. Als ob er dazu in seiner Gegenwart großartig in der Lage wäre. Auch ohne das ganze Chaos. „Und hier haben wir das Goldene Dachl", ignorierte er das großspurige Getöne von Domen und wies auf das Gebäude, das links von ihnen auftauchte. Sie waren auf dem großen Marktplatz von Innsbruck, auf dem wie jedes Jahr der eigentliche Weihnachtsmarkt aufgebaut worden war. „Friedrich der IV. von seinen Fürsten als Friedrich mit der leeren Tasche betitelt, hat das Dach angeblich errichten lassen."

„Der hatte aber auch ziemlich was zu kompensieren, oder? Ich meine, ernsthaft?!" –

„Wahrscheinlich", erwiderte Daniel und beobachtete den jungen Slowenen, der kopfschüttelnd auf das Gebäude vor ihnen starrte und sich einmal mehr von der Menge absetzte. Das war eine der Eigenschaften, die ihm an dem jungen Slowenen gefiel: Er ließ sich nicht von Ruhm, Macht oder Geld beeindrucken. Seine Anerkennung musste man sich verdienen. Das hatte er schon bei ihrer ersten Begegnung gemerkt, die Daniel komplett aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Dabei hatten sie nicht einmal ein Wort miteinander gewechselt. Daniel war sich nicht einmal sicher, ob Domen seine Anwesenheit damals überhaupt wahrgenommen hatte.

„Naja, danach war der Beiname wenigstens gerechtfertigt... Wobei... wahrscheinlich hat er für diese horrende Geldverschwendung da sowieso die Sofaritzen seiner Untertanen geplündert", kommentierte Domen missbilligend, als sich eine Frau an ihnen vorbeidrängelte und begeistert für Fotos vor dem Goldenen Dachl posierte.

„So genau weiß man das nicht, außerdem hat die Geschichte auch mehr den Gehalt einer Sage. Genaugenommen gibt das Dachl den Historikern noch ein paar Rätsel auf. Siehst du zum Beispiel das Spruchband über den Reliefs?", zeigte Daniel nach oben und rückte noch ein Stück näher zu Domen heran, der angestrengt nach oben sah. Er genoss die ungeteilte Aufmerksamkeit und das Interesse des Slowenen, während seine flatternden Nerven sich langsam entspannten. Gerade befanden sie sich auf einem erschreckend normalen Niveau. „Ich meine die Bilder unter dem Balkon. Diese komischen Zeichen, die oberhalb der Personen eingezeichnet sind?", zeigte er auf die Inschrift, die durch die Schatten, die die Weihnachtsbeleuchtung verursachte, nur schwer zu erkennen war.

„Was ist damit?", wollte Domen ungeduldig wissen, wandte den Kopf zur Seite und starrte Daniel an.

Überrascht von der plötzlichen ungewohnten Nähe verharrten beide, unfähig den Blick voneinander zu lösen, während der lebendige lärmende Marktplatz in den Hintergrund trat und für Daniel langsam aufhörte zu existieren. Stattdessen wurde er vereinnahmt vom tosenden rauschen des Windes, überwältigt von dunklem Waldgrün das ihn aufsog. Er spürte die Wärme, die von Domens Körper ausging und ihn von innen heraus wärmte und einen Schwarm Waldameisen in seinem Körper mitten im frostigen Winter freisetzte. Erstarrt bemerkte er, wie Domen begann an seiner Unterlippe zu knabbern, seinen Blick jedoch nicht für eine Sekunde losließ. Domen hielt ihn gefangen und Daniel verspürte nicht einmal im Ansatz den Wunsch, irgendetwas an dieser Situation zu ändern.

„Ähm...Entschuldigung?"

Erschrocken zuckten beide zusammen und stoben auseinander. Mit aller Gewalt prasselte die Realität auf sie ein und der Kuss stand wieder zwischen ihnen und erregte dieselbe Aufmerksamkeit wie ein Clown auf einer Beerdigung. Entsetzt realisierte Daniel, was er da zudem gerade in aller Öffentlichkeit für jeden sichtbar getan hatte. Erneut begann sein Puls zu schlagen, doch dieses Mal war es nicht von der guten aufregenden Sorte. Es war die Art Pulsrasen, die normalerweise in die Enge gedrängte Tiere empfanden. Kurz bevor sie erlegt wurden.

„Du... ähm ihr... seit ihr Domen Prevc und Daniel-André Tande? Die Skispringer?", stand ein kleines blondes Mädchen vor ihnen und umklammerte unsicher ihr Handy als wäre es ein Schutzschild.

Völlig paralysiert starrte Daniel Domen an, der sich voll und ganz auf das Mädchen vor ihm konzentrierte. „Ja, sind wir", antwortete er der Kleinen mit unnatürlich hoher Stimme, während Daniel lediglich ein schwaches Nicken zustande brachte. Hatte sie etwas gemerkt? Waren ihre Blicke seltsam? Hatte sie von ihnen ein Foto geschossen, während Daniel den Slowenen angeschmachtet hatte. Hatte irgendein anderer der tausend Menschen hier auf diesem Platz sie gesehen? Hektisch sah er sich um, bekam vor lauter Aufregung nicht ein Bild zu fassen. Wie hatte er nur so die Kontrolle verlieren können? Was hatte er getan?

„Kann ich...Kann ich ein Autogramm und ein Foto mit euch machen?", fragte das Mädchen schüchtern und starrte dabei den Boden vor sich an.

Unsicher riskierte Daniel einen Blick zu Domen, der ihm sofort auswich. Schuldbewusst ließ Daniel die Schultern hängen. Er hatte es vergeigt. Wieder einmal. Weil er es einfach nicht schaffte, sich wie ein normaler Mensch zu benehmen. Aber was wusste er schon, was normal war? Immer hatte er sich anhören müssen, wie seltsam er war. Jedes Mal wieder, hatte er versucht so zu sein, wie er glaubte sein zu müssen und war am Ende doch gescheitert. Er hörte auf, sich und sein Verhalten zu hinterfragen und bekam Momente später die Rechnung. Den Beweis, dass er anders war. Nie so würde sein können, wie er es eigentlich wollte.

„Klar machen wir ein Foto. Wie heißt du?", hörte er Domen das Mädchen fragen und wäre am liebsten gerannt. Er wusste, wie das hier weitergehen würde. Dazu brauchte er nicht einmal das Pendel seiner Mutter. Es war wieder wie in der Schule. Es schien völlig egal zu sein, wie schnell er rannte. Wie sehr er sich bemühte. Seine Vergangenheit, die anderen, gewannen am Ende eben doch.

„Josi", kickste die Kleine fröhlich und entblößte eine Reihe strahlendweißer Zähne, die sich hinter einer Zahnspange versteckten, während sie mit zitternden Händen auf ihrem Handy herum zu tippen begann. „Und danke! Das ist... danke! Ich kann es gar nicht fassen! Ich schaue einfach jedes Springen mit euch! Ich habe sogar eine norwegische Fahne in meinem Zimmer und dann steht ihr plötzlich vor mir und ich... Danke!", strahlte sie Daniel an, der sich zu einem Lächeln zwang.
Zurück in seine Rolle, die er sich über Jahre hinweg zugelegt hatte.

„Das tue ich doch gern. Und noch viel lieber, wenn ich weiß, dass da sogar eine norwegische Fahne in deinem Zimmer hängt. Ich finde, du beweist einen ausgezeichneten Geschmack. Findest du nicht, Domen?", abwartend sah er ihn an. Es war ein verzweifelter Versuch und er wusste es. Er hatte zur Norm übergehen wollen. Und so waren die meisten ihrer Treffen abgelaufen. Irgendwer von ihnen hatte immer einen schlauen Spruch auf den Lippen gehabt. Butterprinzessin. Lahmarsch. Es kam ihm so vor, als wäre das eine halbe Ewigkeit her.

„Naja, ich finde, man könnte zumindest über die... ähm Farbverteilung noch einmal reden. Streifen in weiß-blau-rot sind doch einfach schöner", antwortete Domen hölzern und mit nicht einmal halb so viel Witz, wie man es von ihm kannte, während er Josi mit einem gezwungenen Lächeln bedachte, die glückselig irgendwo auf Wolke sieben schwebte.

„Okay, ähm...das Foto?", flehend sah sie sie beide an.

Tief durchatmend stellte sich Daniel an die rechte Seite des Mädchens, während Domen sich an deren linke Seite platzierte und sie sich ihrem Schicksal fügten. Verkrampft starrte er in die Handykamera vor ihnen. Ignorierte die Kälte, die ihn langsam gefangen nahm und begann, sich gut zuzureden. Das Mädchen hatte sicher nichts bemerkt. Sie war viel zu aufgeregt über die Tatsache, dass sie soeben ihre Idole getroffen hatte.

„Bitte lächeln!", forderte Josi sie auf und drückte auf den Auslöser. Keine Sekunde später, drehte sie das Handy neugierig um und starrte ungeduldig hinein, während Daniel wie von der Tarantel gestochen einen großen Schritt zurücktrat, bevor wirklich noch jemand Verdacht schöpfte.

„Schön!", seufzte sie, bevor sie in ihrer Tasche zu kramen begann und einen Stift zu Tage beförderte.

Mit zitternden Händen setzte Daniel auf ihrem Rucksack und der Rückseite ihres Handys seine Unterschrift, bevor er Domen den Stift übergab, den er vor lauter Nervosität beinahe fallen gelassen hätte.

Zerstreut drehte er sich um, als Domen mit dem Unterschrieben begann. Brachte ein wenig Abstand zwischen sie beide und versuchte, Kontrolle über sich selbst zurückzuerlangen. Er stellte sich in den schmalen Gang zwischen den zwei Weihnachtsbuden, der direkt neben ihnen verlief und ihn vor neugierigen Blicken abschirmte, und starrte die schwarze verwitterte Holzwand an.

Once bitten and twice shy I keep my distance, but you still catch my eye
, drang es an seine Ohren aus dem Stand gegenüber und beinahe hätte Daniel laut aufgestöhnt. Fahrig fuhr er sich durch die Haare und sehnte sich zum ersten Mal in seinem Leben nach dem Schreigefäß seiner Mutter. Warum musste sein Leben so scheiße kompliziert sein? Saying "I love you", I meant it Now I know what a fool I've been.

Er sah Domen aus seinem Versteck heraus zu, wie er das junge Mädchen zum Lachen brachte, ihr seine gesamte Aufmerksamkeit widmete. Wie er einfach mit ihr Scherzen konnte, während er hier stand, im Schutz zweier Weihnachtsstände, und dagegen ankämpfte wieder dieser unsichere Junge von vor acht Jahren zu werden. Und für einen kurzen Moment, begann er Domen dafür zu hassen, weil er dafür verantwortlich war. Weil er weggerannt war. Weil er eine unüberwindbare Sache aus diesem Kuss machte. Weil er es zugelassen hatte, dass seine Angst ihn wieder einholte. Weil Domen weitermachen konnte und er auf der Stelle trat.

„Ich hab noch nie einen so glücklichen Menschen wegen eines Fotos und ein paar Unterschriften gesehen", ertönte Domens Stimme neben ihm und ließ ihn erschrocken zusammenzucken. „Entschuldige, ich...- Ähm... Ich wollte dich nicht erschrecken."

„Nicht so schlimm", antwortete er mechanisch und drehte sich langsam zu Domen um, als ihn sein schlechtes Gewissen überrollte. Domen war hier, oder? San war das nie gewesen. Domen hatte es zumindest versucht.

„Ähm...ja... Wollen wir...ich meine...Äh", stotterte der Jüngere in die eingetretene Stille. Stumm starrten sie den Boden an. Nicht wissend, wie weiter.

Lärmend lief eine Gruppe Jugendlicher bei ihnen vorbei, die ziemlich angetrunken, die nächste Runde Glühwein am Stand direkt gegenüber bestellten. Der frierende Verkäufer der die Bestellung entgegennahm, machte sich daran, etliche Tassen zu befüllen, gleichzeitig schrie er seinem Kollegen zu, dass die Glühweinvorräte dringend aufgefüllt werden mussten. Das Leben ging weiter.

„Wollen wir- Ich meine, lass uns... Ähm...", setzte Domen erneut an und Daniel wusste, was er versuchte. Er suchte verzweifelt nach einem taktvollen Weg, diese ganze Farce zu beenden. „Mist. Ähm... Entschuldigung. Wirklich. Ich-"

„Nein, bitte. Es ist okay. Nichts wofür du dich entschuldigen müsstest. Alles prima", presste Daniel hervor. Er wollte nicht hören, wie sehr Domen mit seiner Gegenwart zu kämpfen hatte. Wie unangenehm es ihm war, wenn er ihn ansah. Wie schrecklich er es fand, dass er so war, wie er war. Besser sie beließen es einfach dabei und traten den Heimweg ins Hotel an. Danach konnten sie sich in aller Ruhe ignorieren und versuchen, dieses Desaster zu vergessen.

„Sicher?" – „Ja."

Mit gestrafften Schultern setzte Daniel sich in Bewegung. Mehr stolpernd als gehend kämpfte er sich durch den engen Gang, auf dessen Boden überall Stolperfallen in Form von dicken Stromkabeln lagen. Immer näher kamen sie dem Licht, dass von der Straße in den Gang schien, dem lauten Geschnatter der glücklichen Menschen davor.

„Hey, lass uns da rein gehen", rief Domen von hinten, als Daniel blinzelnd auf die helle Straße hinaustrat und versuchte, sich zu orientieren. Sie standen vor dem Rathausturm, der vor ihnen emporragte. Erstaunt sah er auf das Schild vor ihm. Wollte Domen sich das hier wirklich noch länger antun? Nur um was? Eine Gefängniszelle aus dem Mittelalter zu besichtigen?! Merkte er denn nicht, dass das hier nicht funktionierte? Dass er nicht so sein konnte, wie Domen es gern wollte? „Meinst du nicht, wir sollten langsam mal zurück?"

„Was? Wieso? Wir sind doch vor einer Stunde erst hergekommen?!", unnachgiebig starrte Domen ihn an. „Und es ist doch... schön... hier. Ich meine,- Äh... was wollen wir denn jetzt schon im Hotel?"

„Na, weil- Ich- Wenn du meinst", gab Daniel ruppiger nach als er wollte und setzte sich wieder in Bewegung. Warum sollte das hier auch ein schnelles Ende haben? Und er wollte nicht mit Domen diskutieren. Er konnte nicht. Wollte nicht hören, wie der Slowene versuchte, ihre Situation schön zu reden, denn da gab es nichts mehr. Angespannt setzte er einen Schritt nach dem anderen. Und je näher sie dem Stadtturm kamen, desto unerträglicher wurde es für Daniel. Er war sich sicher, Domen ging es ähnlich. Er sah es an seiner Haltung. Seinen Händen, die er tief in seinen Jackentaschen vergraben hatte. Seinen Blicken, die nirgends lang verweilten. Tat er das hier aus Mitleid? Oder um sein Gewissen zu beruhigen? Weil es zu offensichtlich gewesen wäre, ihren Ausflug gleich jetzt zu beenden?, fragte Daniel sich verbittert, als er die große schwere Holztür öffnete und Wärme ihnen entgegenströmte.

Sie betraten die große geflieste Eingangshalle. Ihre Schritte hallten von den hohen Wänden in der Stille unnatürlich laut wider. Hinter einem kleinen Tresen, saß eine alte Frau mit Hornbrille, die sie missbilligend musterte. „Sie sind ein bisschen spät dran. Wir schließen in einer halben Stunde."
„Wir sind pünktlich zurück", beeilte Domen sich im Vorbeigehen zu sagen und folgte zielstrebig den Hinweisschildern quer durch die Halle. Schweigend folgte Daniel ihm. Entschuldigend sah er die alte Frau an. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte er sich jetzt höflich entschuldigt und sie hätten endlich den Rückweg angetreten.

„Die hat auch Freude an ihrem Job, oder?"

„Mhh", antwortete Daniel einsilbig und ballte seine Hände in den Jackentaschen zu Fäusten, während er darauf wartete, dass Domen die Tür vor sich öffnete, die zur Gefängniszelle und zum Zimmer des Türmers führen sollte.

„Alles klar bei dir?" - „Ja, sagte ich doch."

Konzentriert starrte Daniel auf die Treppenstufen der Wendeltreppe vor sich, die sich kreisförmig nach oben schlängelte und lauschte dem Klang ihrer Schritte in der ihn schier erdrückenden Stille. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie endlich am Fuß der engen Treppe angekommen waren. Sie standen in einem kleinen runden Raum. Die Tafel des Museums verkündete, dass dies hier die alten Gemächer des Türmers gewesen waren, was Domen nicht weiter zu interessieren schien. Er war schon dabei, die nächste Treppe zu erklimmen. Ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen, bestieg Daniel die nächste Treppe nach oben. Schaltete sein Hirn aus. Für den Moment beschloss er, dass ihm einfach alles egal sein musste. Folgte blind der grünen Jacke vor sich. Betrachtete die großen Backsteine, die an ihm vorbeizogen.

Eiskalte Luft streifte seine Wangen, Wind fuhr durch seine Haare, ließen seine Augen tränen. Erschrocken starrte er in die Ferne. Auf die Hausdächer Innsbrucks, die ihm gefährlich klein vorkamen. Der Boden unter seinen Füßen begann zu wanken. Sein Herz zu rasen, während ihm kalter Schweiß ausbrach. Er spürte, wie die Angst ihn lähmte, er die Kontrolle über seinen Körper verlor. Er musste hier weg. Sofort.

Er taumelte zurück zur Treppe. Klammerte sich an das rettende Geländer. Dann machte er den Fehler und starrte hinab. Gitter. Das war eine Treppe aus verdammten Metallgittern. Er würde hier oben sterben. Niemals würde er da wieder einen Fuß draufsetzen. Wie hatte er das nur nicht merken können? Was zum Teufel hatte er in seinem früheren Leben nur getan, um all das zu verdienen?

„Daniel? Hey! Was ist los?"

Wo hatte Domen ihn da nur wieder hingeschleppt?!, fragte er sich verzweifelt und klammerte sich an dem Geländer fest, unfähig sich auch nur einen Schritt weiterzubewegen.

„Daniel? Alles okay?", rief Domen ihm von irgendwo aus weiter Ferne zu.

„Mmmh. Ja! Alles bestens", versicherte er dem Slowenen und betete, dass ihm das Zittern in seiner Stimme entging. Er würde das irgendwie allein schaffen. So wie er es immer getan hatte. Und wenn er so drüber nachdachte, dann war er allein auch wesentlich besser zurechtgekommen, dachte er grimmig und verfluchte Anders und seine Mutter. Er sollte zu Leben anfangen? Wenn sein Leben so aussah, dann konnte er gut darauf verzichten.

Polternd näherten sich Schritte. „Was tust du da?"

„Nichts." –

„Wusstest du, dass die meisten Menschen dazu neigen, mit höherer Stimme zu sprechen, wenn sie lügen?" –

„Na, du musst es ja wissen", brummte Daniel. Das letzte, was er heute noch hören wollte waren schlaue Sprüche übers Lügen von Domen Prevc.

„Was soll das denn jetzt wieder heißen?", wollte Domen verärgert wissen und hatte dabei auch noch den Nerv verletzt zu klingen.

„Alles ist bestens, Daniel. Ich komm klar. Ja, sicher. Das hab ich gesehen. Tu uns beide doch einfach den Gefallen und gesteh dir einfach ein, dass ich eben doch Recht hatte. Wir können nicht einfach so tun, als wäre gestern nicht passiert. Du kannst das nicht. Ist doch keine Schande. Wirklich. Du musst das nicht aus Mitleid tun. Ich komm schon damit klar", brach es aus Daniel verbittert hervor ohne, dass er etwas dagegen tun konnte. Vielleicht sprach da ja auch seine Höhenangst aus ihm. Es war auf jeden Fall deutlich leichter, Domen anzugiften, als sich damit zu beschäftigen, dass er von dieser verdammten Treppe wieder runter musste.

„Weißt du, wenn es etwas gibt, was ich so gar nicht gebrauchen kann, dann ist das noch jemand, der mir sagt, mit was ich zurechtkomme und mit was nicht - mit Peter und Cene bin ich wirklich schon genug beschäftigt – und dann fasst du dir mal bitte an die eigene Nase: Ich komme nicht damit klar? Ja, mag sein dass ich keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll. Bin ich unsicher, weil ich dich nicht schon wieder abstechen will? Ja!-"

„Abstechen?" –

„Jetzt unterbrich mich nicht! Seit wir losgegangen sind, hältst du mich auf Abstand. Kannst mir nicht richtig antworten. Gibst mir das Gefühl, dass du es kaum aushältst! Beobachtest mich, wartest auf irgendeine Reaktion, keine Ahnung...Entweder ich werde etwas verkehrt machen oder falsch. Wie sollte ich mich da normal verhalten?! Wann bitte? Und wenn von uns hier einer mit dem- Ähm", hastig sah Domen sich um, „Kuss nicht zurechtkommt, dann bist das ja wohl du! Ich wollte es dir nur so angenehm wie möglich machen", verschränkte der Slowene die Arme und wusste, dass das, was er da sagte, nicht zu hundert Prozent stimmte. Zu seiner Überraschung jedoch, begann Daniel zu lachen.

„Was? Was ist daran so komisch?", verlangte Domen zu wissen und fragte sich, ob Daniel jetzt völlig durchdrehte.

„So angenehm wie möglich machen? Willst du mir Sterbehilfe leisten?", fragte Daniel den Slowenen amüsiert. Es war schon verrückt. Sie hatten beide dasselbe versucht und waren dabei grandios gescheitert. Er musste aufhören, Domen mit San zu verwechseln. Musste sich daran erinnern, dass das hier etwas anderes war. Vielleicht sollte er doch ab und an auf Anders hören.
„Wenn du mich nett drum bittest", bot Domen ihm an, während Daniel sich um Tonnen leichter und gleichzeitig so unglaublich schuldig fühlte. Was hatte er dem Slowenen in seinem eigenen Unvermögen durch seine Unsicherheit nur alles angedichtet?

„Es tut mir leid", entschuldigte er sich.

Domen nickte: „Ja, mir auch. Das ist einfach alles irgendwie..."

„Verfahren", vervollständigte Daniel den Satz des Slowenen.

„Du unterreibst maßlos", verzog Domen gequält das Gesicht. „Ich meine, ich fühle mich wie Jack Sparrow auf hoher See, der erfolglos mit seinem Schiff versucht, Klippen auszuweichen, während der Kraken seine Fänge nach ihm ausstreckt und Barbossa ihn unter Kanonenbeschuss nimmt", steigerte Domen sich immer weiter in seinen Vergleich hinein, ahmte mit seinen Händen Klauenbewegungen nach und verzog grimmig sein Gesicht.

„Wenn das mal kein Kompliment ist", seufzte Daniel.

„Was sollte es sonst sein? Langeweile ist sowieso nicht unbedingt mein Ding", winkte Domen ab.
„Außerdem...", zögernd stoppte er. Konnte er es wagen? Ach, scheiß drauf! Unschifft hatte er heute schon genug und was war dabei herausgekommen? Jetzt würde er direkt darauf zuhalten. Entweder sie gingen unter oder schafften es, sich irgendwie über Wasser zu halten. „Außerdem kannst du ja nichts dafür, dass du meinem unwiderstehlichen Charme erlegen bist", erwiderte Domen vorlaut und Daniel musste laut auflachen.

„Ja, und deine Bescheidenheit ist erst beeindruckend." –

„So bin ich eben", antwortete Domen todernst und Grinste breit auf ihn herab. „So, aber jetzt mal zur ursprünglichen Frage zurück: Wieso hattest du jetzt das Bedürfnis, mit dem Eisengeländer zu kuscheln?"

Unsicher sah Daniel auf seine Füße. Das hatte er ganz vergessen, dachte er und versuchte sich einzureden, dass es nicht so hoch war, wie es aussah. „Höhenangst", presste er hervor, lugte einmal über die Kante des Geländers und wünschte sich im selben Moment, er hätte es gelassen.

„Das ist ein Scherz?!", stieß der Slowene überrascht aus und Daniel spürte, wie er unter dessen neugierigen Blicken rot wurde.

„Sehe ich aus, als würde ich scherzen?", murmelte er und wünschte sich, er würde heute wenigstens einen Teil seines Gesichts wahren. Stattdessen traf Domen immer wieder ins Schwarze und zog mehr und mehr von seiner Fassade herunter.

„Aber, wie kannst du dich dann- Wie machst du das dann bitte beim Springen?", wollte Domen perplex wissen.

„Da habe ich die Kontrolle. Ich weiß, was ich tun muss, um es nach unten zu schaffen. Darauf kann ich mich konzentrieren. Auf mich. So lenke ich mich ab. Im Sprung, auf dem Turm. Ich weiß, was mich erwartet. Kenne den Ablauf. Und wenn ich mich abstoße, dann gibt es mir einen unheimlichen Kick, wenn sich die Anspannung löst und ich mich befreien kann. Von der Angst. Jedes Mal wieder. Keine Ahnung wieso, aber auf den Schanzen schaffe ich es. Da bin ich stärker", versuchte Daniel dem Slowenen zu erklären und vertraute ihm gleichzeitig ein Stück seiner selbst an, auch wenn er es wahrscheinlich gar nicht bemerkte.

„Du hast nen ziemlichen Schuss, weißt du das?", seufzte Domen ungläubig und streckte seine Hand nach Daniel aus. „Und ich wohl auch, denn irgendwie klingt das gar nicht so unlogisch."
Misstrauisch starrte Daniel auf die ihm dargebotene Hand. „Was soll das?"

„Ich trainiere zauberstablose Magie und versuche dich mit meiner bloßen Hand zu erwürgen. Nach was sieht es denn aus?", wollte Domen wissen und schnappte sich Daniels Hand, die immer noch fest um das Eisengitter geschlungen war. „Ich helf dir runter. Es sei denn, du willst doch einen Blick nach draußen riskieren? Dann helfe ich dir raus."

Tief atmete Daniel durch. Wenn er gerade etwas gelernt hatte, dann, dass er stärker sein musste als die Angst. Er durfte sich nicht von ihr kontrollieren lassen. Nur dann konnte es funktionieren. „Dann raus."

„Dir ist schon klar, dass das mit der Sterbehilfe nur ein Scherz war, oder?", verstärkte Domen seinen Griff um Daniels Hand, als er sich vom Geländer löste und sie nach draußen traten, wo sie vom eisigen Wind empfangen wurden. Ein Schaudern durchlief den Norweger, der seinen Blick fest auf den Horizont gerichtet hielt.

„Sag mal, was wolltest du mir vorhin eigentlich über das Relief erzählen?", durchbrach Domen die Stille, während er versuchte, seine schwitzigen Finger und das Gefühl, dass Daniels Hand in seiner verursachte, zu ignorieren.

„Ähm... ein Hobbyhistoriker hat die Inschrift entziffert... Nutze jeden Augenblick, lass keinen Tanz im Leben aus, mitnehmen kannst du nichts", rezitierte Daniel ruhig. Die Anspannung, die die letzten Stunden beharrlich an seinen Nerven gezogen hatte, war fast gänzlich von ihm abgefallen. Domen war nicht San. Und er sollte nicht mehr der Daniel von früher sein. Sein Leben hatte sich geändert. Das durfte er nicht vergessen.

„Da hat er definitiv recht", stimmte Domen nachdenklich zu und starrte auf ihre ineinander verschlungenen Hände.

„Stimmt aber wohl nicht." - „Was?"

„Naja, die Zeichen. Das Relief. Die bedeuten wohl was anderes", erklärte Daniel schulterzuckend und trat einen Schritt zurück. „Okay, das reicht für heute. Genug Sterbehilfe, sonst muss ich mich wirklich übergeben."

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