9. Domen - Oberstdorf - Tag des Wettkampfes

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Kühle Luft blies ihm um die Nase. Er hörte das Getöse der Menge und wusste, wenn er auch diesen Sprung versaute, dann war es endgültig vorbei. Er versuchte die Gedanken daran zu verdrängen, doch irgendwie hatten sich diese Biester mit Superkleber an seine Skier geheftet. Ungeduldig wartete der nächste Springer neben Domen auf seinen Einsatz. Er war dem Springer nicht schnell genug. Er schnallte sich die Skier an und war im Begriff, neben Domen auf den Balken zu klettern. Ungeduldig sah Domen zum Trainerturm, der in der Finsternis hell erleuchtet schien. Was dauerte denn da so lang? Er wollte es hinter sich bringen. Schnell. Doch Goran hatte den Windmonitor fest im Blick und nahm sich alle Zeit der Welt. Er war die Ruhe selbst, während Domen auf dem Balken ungeduldig vor sich hin zappelte.

Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Was, wenn er wieder versagen würde? Musste er dann wieder zurück? Aber er wollte nicht. Nein, das würde auf keinen Fall passieren. Niemals. Das würde der Sprung werden, der in die Geschichte einging. Er musste es einfach werden.

Endlich senkte Goran seine Fahne und Domen stieß sich vom Balken. Er fixierte den Absprung, während er langsam Fahrt aufnahm. Aus den Augenwinkeln sah er Thiessen neben der Spur herlaufen, der hektisch Fotos von ihm machte, während er den Kopf schüttelte.

„Was machst du da, Kleiner? Du gehörst doch noch gar nicht auf eine Schanze. Überlass das besser deinem Bruder", rief er ihm zu, während Domen versuchte, diesen Idioten zu ignorieren. Er würde es allen zeigen! Domen wandte den Blick wieder nach vorn zum Schanzentisch, der immer noch mindestens 20 Meter von ihm entfernt war. Warum kam der ihm so langsam entgegen? Das musste alles schneller gehen, dachte er, gerade als er über die Kante fuhr. Zu spät! Viel zu spät war er abgesprungen, um nicht zu sagen: drübergefahren ohne zu springen.

Er reckte seinen Körper nach oben zum Himmel. Er musste retten, was noch zu retten war, doch der Mond, der eben noch so nah gewesen war, schien sich immer weiter zu entfernen. Was war da los? Nein!

Der Hang kam unaufhaltsam näher. Das ging nicht! Unter ihm war doch gerade erst das aus Reißig gesteckte Logo des Skiclubs Oberstdorf zu sehen. Er begann wie wild mit den Armen zu rudern, als wäre er ein verdammter Vogel und versuchte durch seine Bewegungen noch ein Stück länger in der Luft zu bleiben, aber seine Skier schienen wie Magneten vom Erdboden angezogen zu werden.

Verzweiflung machte sich breit, übernahm die Kontrolle. Was passierte da? Warum fiel er wie ein Stein auf den Boden? Warum waren seine Gliedmaßen so schwer? Er sah auf seine Schuhe. Dort schien alles okay zu sein.

Da begann er aus heiterem Himmel sein Gleichgewicht zu verlieren. Er wurde herumgerissen, wankte von der einen zur anderen Seite und kämpfte gegen einen Absturz an. Angst breitete sich aus. Was passierte hier?! Es wehte nicht mal ein Lüftchen!
Da kippten seine Skier ohne Vorwarnung nach vorn.

Erschrocken zuckte er zusammen, als er Jay und den Weihnachtsmenschen auf seinen Skispitzen sitzen sah, die sich innig umschlangen und sich leidenschaftlich küssten. Erschrocken zuckte Domen zusammen. Das ging doch nicht! Was sollte das? Die sollten aufhören!

Empört versuchte Domen sie mit den Armen von seinen Skispitzen zu stoßen, doch er kam nicht an sie heran. Seine Arme waren zu kurz. Jedes Mal wenn er glaubte sie endlich erreichen zu können, um sie herunterzustoßen, rückten sie weiter in die Ferne.
„Ihr da! Das ist hier ist nicht die Knutschecke beim Abschlussball! Jetzt geht schon weg! Hier geht es schließlich um mein Leben!", schrie Domen sie ungehalten an. Beinahe gleichzeitig wandten sie sich Domen zu und sahen ihn verärgert an.

„Hast du Angst vor ein bisschen Wasser?", fragten sie aus einem Munde und verzogen ihre Gesichter provokant zu Kussmündern, als ihn etwas Glitschiges an der Schulter traf und ihn abermals aus dem Gleichgewicht brachte.

„Hey! Was soll das?!", verärgert versuchte er, noch einmal alle seine Kräfte zu mobilisieren, um die beiden Störenfriede endgültig loszuwerden. Doch im nächsten Moment trafen ihn weitere Geschosse an seinem Körper, die ihn gefährlich ins Wanken brachten.

„Hört auf damit! Ihr bringt alles durcheinander!", brüllte er die zwei panisch an, die sich gegenseitig wieder mit ihren Mündern wie klebrige Nacktschnecken aneinander gesaugt hatten und Domen weiter bombardierten.

Verärgert wollte er die Geschosse abwehren, konnte seine Arme jedoch nicht richtig heben. Das war der Moment in dem er bemerkte, dass die Geschosse an ihm kleben blieben und ihn bewegungsunfähiger werden ließen.

Er wurde schwerer! Alles wurde schwerer. Er schwebte keine zehn Zentimeter mehr über den Boden! Der K-Punkt befand sich irgendwo am Horizont, den musste er erreichen. Er versuchte sich von der Schwere zu befreien, strich sich über die Arme um diese Dinger wieder loszuwerden und griff in etwas glitschig Weiches hinein. Angeekelt zog er seine Hand zurück und betrachtete seinen Arm. Das waren ja Münder, die sich da an ihm festsaugten! Nein, die ihn küssten! Panisch sah er sich um. Warum tat denn niemand etwas?!

Jemand musste ihm helfen! Er spähte zurück zum Trainerturm, um Goran ein Zeichen zu geben, dass er Hilfe brauchte. Doch Goran stand nicht mehr dort. Stattdessen sah er in das ruhige Gesicht von Andrej, der ihm mit seiner dampfenden Tasse Kräutertee zuprostete, während seine Arme immer schwerer wurden, genau wie der Rest seines Körpers. Wer zum Teufel hatte den denn dort hoch gelassen? Wo war Goran, wenn man ihn mal brauchte?!

Dann berührten seine Skier den Boden, er landete mit dem Arsch im Schnee und rutschte den langen Hang hinunter. Unten wurde er lautstark von den Zuschauern empfangen. Doch das war kein Applaus. Im Gegenteil.

„Seht euch doch mal den armen Kleinen an!" – „Nicht traurig sein, das nächste Mal klappt es bestimmt." – „Du bist trotzdem toll gesprungen!" – „Wo tut es denn weh? Sollen wir pusten?"

Wütend sah Domen sich im Auslauf um. Was sollte das? Doch bevor er realisierte was ihm geschah, kam Peter auf ihn zu, der mitleidig auf ihn herabsah. „Ich habe dir doch gesagt, dass du noch zu klein für einen richtigen Wettbewerb bist. Komm, ich bring dich zurück." Wieso war der plötzlich so groß?!

„Was? Hey! Nein! Lass mich runter! Peter, ich hab gesagt, du sollst mich runterlassen! Das wirst du noch bereuen!", zeterte er, als Peter ihn auf den Arm nahm. Domen zerrte an Peters Haaren, um ihn dazu zu zwingen, ihn wieder runter zu lassen. Er konnte alleine laufen, er war schließlich schon erwachsen!

„Nein, Domen! Lass das! Das ist nicht nett!", schnappte sein Bruder seinen Arm und trug ihn an all den Zuschauern vorbei, die an der Bande standen und Babyfratzen zogen.

„Ist er nicht süß? Bist du nicht ein süßer kleiner Skispringer?", riss eine blonde Frau ihren roten Erdbeermund unverschämt weit auf und sah ihn verzückt an, als er wütend seine Zunge herausstreckte. „Was bist du nur für ein süßer kleiner Schlingel!", kicherte sie begeistert. Und Domen blieb nichts weiter übrig, als ihr einen Todesblick zuzuwerfen, den sie mit einem Lachen quittierte. Vielleicht fand sie es ja auch noch süß, wenn er ihr die Augen auskratze.

Warum nahm ihn niemand ernst?! Was sollte das?! Er war erwachsen! Da schob sich ein Laufgitter in sein Blickfeld, das vor ihrer Mannschaftsunterkunft stand und das Peter ansteuerte. Er würde doch wohl nicht- Nein, das würde er nicht wagen! Er wollte da nicht rein! Er gehörte dort nicht hin!

„Wehe du setzt mich in das Teil! Wag es ja nicht! Peter! Nein!", schlug er wild mit Armen und Beinen um sich. Doch Peter ließ sich davon nicht beeindrucken und setzte ihn in das kleine Laufgitter, dass mindestens doppelt so hoch wie er selbst war. Genau wie alle anderen die um ihn herumstanden und auf ihn herabsahen.

Bedrohlich kamen sie immer näher, sahen zu ihm herunter und ehe er es sich versah, hatte er einen Teddy in der einen und eine Babyflasche in der anderen Hand. Peter hielt ihm ein Mobile aus Siegerpokalen vors Gesicht. Gierig wollte Domen danach greifen, doch Peter zog sie immer wieder weg, wenn er nahe dran war, sie endlich in die Finger zu bekommen.

„Wenn du groß bist, wirst du vielleicht auch mal so einen gewinnen", strich Peter seinem kleinen Bruder zart über den Kopf und ließ ihn allein. Domen sah wie hypnotisiert zu den Pokalen, die so schön über seinem Kopf baumelten und für ihn unerreichbar in der Sonne glitzerten.

Er wollte unbedingt auch so einen haben. „Ich will, ich will, ich will!", begann er zu schreien und spürte wie sich Wuttränen in seinen Augen sammelten.

„Was willst du, Butterprinzessin?"

Aus dem Nichts tauchte hoch über ihm Daniels Kopf auf. Seine blonden Haare glitzerten wunderschön in der Sonne, seine Augen glichen einer grünen Sommerwiese in die er sich am liebsten gelegt hätte. Plötzlich war Domen sich nicht mehr so sicher, was er wollte.

„Ich-... Ich will...", stotterte Domen.

„Willst du küssen? Ich will einen Kuss. Küss mich." Neben Domen kamen kleine Lippen auf dünnen Beinchen zu ihm gelaufen. Sie riefen nach ihm. Panik breitete sich aus. Nein! Er wollte nicht!

NEIN!

Erschrocken fuhr er hoch. Sein Herz klopfte laut gegen seine Brust und sein Atem war schnell und flach. Vollkommen verwirrt, brauchte er einen Moment, um zu realisieren wo er war und das er geträumt hatte.

„Alles klar bei dir?" Besorgt sah Jurij ihn an, der direkt neben ihm im Auto saß.

„Sicher", antwortete er knapp und Jurij wandte sich wieder Jernej zu, der ihm irgendetwas auf seinem Handy zeigte. Vermutlich hatte seine Frau ihm wieder ein Video oder Foto von seiner Tochter geschickt, dass er wieder unbedingt allen zeigen musste. Ob sie wollten oder nicht.

Domen lehnte seine Stirn an die kühle Glasscheibe des Autofensters und beobachtete die Lichter, die schnell an ihnen vorbeizogen. Er hatte sich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, um sich vor den Blicken der anderen zu schützen.

Das war mit Abstand der verstörendste Traum gewesen, den er jemals gehabt hatte. Wahrscheinlich würde er es damit auf Anhieb in die Top-Ten der Patienten schaffen, die ihren Psychiatern feuchte Träume bescherten. Wenigstens ein Wettkampf, bei dem er Chancen hatte ohne Probleme zu gewinnen.

Dabei war die Botschaft, die ihm sein Unterbewusstsein da auf äußerst kreativ verquere Weise hatte mitteilen wollen, recht einfach: Er hatte es vergeigt. Und das in Rekordgeschwindigkeit. Schon nach dem ersten Sprung war klar gewesen, dass er mit der Tourneeentscheidung nichts mehr zu tun haben würde.

Er war sich durchaus darüber im Klaren, dass er ganz allein seine Sprünge versaut hatte. Goran und er hatten sich gemeinsam die Videoaufnahmen seiner Sprünge angesehen und ihm hatten tatsächlich nur noch Paddel in der Hand gefehlt. Diesmal war es sogar noch deutlicher zu sehen gewesen, als bei der Qualifikation.

Dabei hatte er es beim Absprung nicht einmal gemerkt, dass er diesen Armtick entwickelt hatte! Er hatte einfach nur allen zeigen wollen, dass er trotz seines Alters dazu in der Lage war, um den Sieg mitzuspringen! Gerade nachdem Daniel ihn wie ein nerviges Kleinkind weggeschickt hatte. So wie es aussah, plauderte der Norweger lieber mit Erwachsenen wie Anders, Kamil oder Jarkko. Hauptsache zum Triezen hatten sie jemanden. Jarkko! Ausgerechnet! Der war doch noch grüner hinter den-

„Lauscher aufgesperrt! Gleich sind wir am Hotel. In einer halben Stunde habt ihr euren Krempel aus den Zimmern in die Autos geschafft. Ich will pünktlich zum Abendessen in Garmisch sein. Noch Fragen?", unterbrach Goran ihre Gespräche.

Genervt verdrehte Domen im Schutz seiner Kapuze die Augen. Was sollte daran auch nicht zu verstehen sein?

„Domen, würde es dich umbringen mir ein Zeichen zu geben, dass du mich verstanden hast?", verärgert sah der Coach ihn an.

„Halbe Stunde, sonst bekommen wir die Konsequenzen eines wütenden hungrigen Coaches zu spüren", gab er genervt von sich und versuchte, das allgemein einsetzende Kichern zu ignorieren. Nur Peter sah mit einer Mischung missbilligenden Schockes an. Hatten die keine eigenen Probleme?

Stumm bedachte Goran seinen Schützling mit einem warnenden Blick. Er konnte ja verstehen, dass Domen enttäuscht war, aber er sollte es besser nicht zu weit treiben.
Der Kleintransporter wurde langsamer und hielt vor dem Hotel. Sie stiegen aus und liefen unter den neugierigen Blicken der Hotelgäste durch die Lobby. Hier sah es so ähnlich aus, wie noch am Vormittag. Überall stapelten sich Taschen. Sie waren offensichtlich nicht die einzigen, die heute noch nach Garmisch fahren würden.

Sie drängelten sich zusammen in den Fahrstuhl und warteten darauf, dass er endlich losfuhr. Sie hatten schon in den letzten Tagen festgestellt, dass das nicht unbedingt das schnellste Modell war.

Während die anderen munter schwatzend in dem engen Raum standen, hatte Domen sich ganz nach hinten gedrängelt und lehnte stumm an der Wand in der Hoffnung, in Ruhe gelassen zu werden. Seine Kapuze, die er immer noch tief in sein Gesicht gezogen hatte, sollte eigentlich ausreichend Aussagekraft besitzen.

„Alles klar bei dir?"

Oder auch nicht. Peter war neben ihn getreten und sah ihn an.

„Alles bestens", antwortete Domen knapp und wandte seinem Bruder den Rücken zu. Die Botschaft sollte jetzt eigentlich deutlich sein.

„Jeder hat mal einen schlechten Tag. Und so eine Tournee kann einen schon mal nervös machen", setzte Peter nach.

Kurz vorm Platzen schloss Domen die Augen. Was hatte er auch erwartet? Zar Peter der Große war viel zu erhaben, um auf so etwas wie kalte Schultern Rücksicht zu nehmen.

Er war wie eine Zecke. Hatte er erst einmal Blut geleckt, verbiss er sich so lang in eine Sache, bis nur rohe Gewalt ihn davon abbringen konnte. „Es ist alles okay. Kannst du dich dann bitte wieder deinen eigenen Problemen zuwenden?!"

„Was ist in letzter Zeit mit dir los?"

„Gar nichts ist los!", zischte er. Es war alles perfekt...

Er hatte heute seine Sprünge versaut. Okay. Die Tournee war futsch. Auch gut. Aber das hieß ja noch lange nicht, dass jetzt für ihn alles verloren war und er auf die Suche nach einem scharfen Messer gehen würde. Unabhängig davon, dass er sowieso kein Blut sehen konnte.

„Ich weiß, dass das nicht spurlos vorüber geht-"

„Peter, such dir wen anders für deine Selbsthilfegruppe!", fuhr er laut herum und erregte die Aufmerksamkeit des gesamten Teams.

„Du suchst Mitglieder für eine Selbsthilfegruppe?" –
„Und sagst uns nichts?!"

Jernej und Jurij sahen Peter empört an, der die Augen verdrehte. Gelegenheit vorbei. Vor den anderen würde Domen nie damit herausrücken, was ihn beschäftigte. Und Peter wusste einfach, dass es irgendetwas gab. Die Szene im Kraftraum war Beweis genug gewesen.

„Was soll denn Ziel des Ganzen sein?", neugierig sahen sie zu ihnen herüber.

„Wie lerne ich meinen zwanghaften Helferdrang erfolgreich zu unterdrücken. Peter will endlich lernen, seinen Mitmenschen nicht mehr so auf die Nerven zu gehen. Ich freue mich zu sehen, dass es Menschen gibt, die ihn offensichtlich dabei unterstützen wollen", stichelte Domen und sah seinen Bruder an, dessen Lippen sich zu einem dünnen Strich zusammengepresst hatten.

Angespannte Stille breitete sich aus, die von einem Pling des Fahrstuhls unterbrochen wurde und den Insassen verkündete, dass sie auf ihrem Stockwerk angekommen waren. Sie beeilten sich auf ihre Zimmer zu kommen. Der Zeitrahmen bis zur Abfahrt war nicht sonderlich breit gewählt.

Domen begann ohne Umschweife, genau wie Anže, seine Sachen in seine Taschen zu pfeffern. Er hasste es, seine Sachen zusammenpacken zu müssen. Nicht nur, dass seine Sachen ein Eigenleben entwickelt zu haben schienen und in jeder noch so unmöglichen Ecke herumlagen, nein oftmals gelang es ihm auch nicht, sie wieder so in die Tasche zu quetschen, dass diese sich wieder schließen ließ.

„Wenn Goran das sehen würde, würde er dafür sorgen, dass du bei Aufräumarbeiten nach den Wettkämpfen im Zuschauerbereich hilfst."

„Musst du nicht packen, Cene?"

„Hab ich vorher schon gemacht. Und ich dachte, ich nutze meine knappbemessene Freizeit, um zu sehen, wie mein Lieblingsbruder vorankommt", setzte Cene sich ungefragt auf eines der Betten und betrachtete den Jüngeren.

„Wie reizend. Wie komm ich zu der Ehre? Nein. Warte. Ich kann es mir denken. Peter wirkt ansteckend, hab ich Recht?", brummte Domen frustriert. Wieso war eigentlich immer er das Opfer? Wenn die beiden so gern Moralvorträge hielten, warum dann nicht sich gegenseitig? Wäre die perfekte Lösung für alle. Die beiden konnten sich reden hören und er hatte seine wohlverdiente Ruhe.

„Er meint es doch nur gut", seufzte Cene und zog Domens Laptopladekabel unter seinem Arsch hervor, auf dass er sich gesetzt hatte. „Nettes Kuscheltier", grinste sein Bruder und Domen wurde ungewollt an seinen Traum erinnert. „Du könntest ruhig ein bisschen netter zu ihm sein."

„Ich bin nett!", protestierte Domen aufgebracht und schüttelte die Erinnerung wieder ab. Dieser Traum gehörte verboten. Ganz eindeutig.

„Wirklich? Was war vorhin im Aufzug?", mit hochgezogener Augenbraue sah Cene ihn an.
„Hey, ich hab ihm mit aller Höflichkeit die kalte Schulter gezeigt und ihm so signalisiert, dass ich nicht reden möchte. Wenn er das absichtlich ignoriert, ist das nicht meine Schuld", versuchte er Cene zu erklären, dass nicht er das Problem war.

Lachend kam Anže aus dem Bad. „Das nennst du höflich? Ehrlich, was ist bei dir dann unhöflich? Ein Schuss ins Bein?"

„Ihr habt doch alle keine Ahnung. Peter zwingt mich doch förmlich! Er weigert sich, die konventionellen Anzeichen der Gesprächsverweigerung auch nur wahrzunehmen! Was bleibt mir da bitte noch übrig?!", wehrte er standhaft alle Anschuldigungen ab. Diesen Schuh würde er sich mit Sicherheit nicht allein anziehen. Peter war bei Weitem nicht so unschuldig, für wie alle ihn hielten.

Anklagend sah er zu seinem Bruder. Warum nur nahmen alle immer Peter in Schutz und er war der Arsch?! Wütend setzte er sich auf seine Tasche, um den Reißverschluss zuzubekommen.

„Hör mal, ich will dir ja in deinen Egotripp nicht reinreden, aber nimm seine Hilfe doch einfach mal an. Auch wenn du sie vielleicht gerade nicht brauchst. Dann ist Peter zufrieden, lässt dich für eine Weile in Ruhe und alle sind glücklich", schlug Cene gutmütig vor und Anže, der gerade aus seiner Flasche getrunken hatte, verschluckte sich. Böse sah Cene ihn an.

„Negativ", antwortete er knapp. Das war ein absolut indiskutabler Vorschlag. Darüber würde er nicht einmal nachdenken. Manchmal fragte sich Domen wirklich, ob sein Bruder wirklich so blauäugig war. Würde er einmal nachgeben, würde er Peter doch nie wieder von seinem Arsch kriegen.

„Stimmt ja. Ich vergaß. Du kannst ja keine Hilfe annehmen. Und um Hilfe bitten erst Recht nicht", seufzte Cene frustriert. Für ihn war es nicht einfach mit seinen Brüdern. Er bemühte sich zwar, sich nach Kräften aus deren Verhältnis herauszuhalten, aber meistens geriet er dann doch in die Schusslinie. Er hatte keine Ahnung, wie es den beiden ständig gelang, sich in die Wolle zu kriegen.

„Oh du mein liebster aller Brüder, würdest du mir die Gnade erweisen und mir mit meiner Tasche helfen?", blitzte Domen ihn an und fühlte sich unglaublich gut dabei. Von wegen, er konnte nicht um Hilfe bitten.

„Das zählt nicht. Du weißt, dass ich es anders meinte", stellte er klar, konnte sich aber ein Grinsen nicht ganz verkneifen. Domen war einfach unmöglich. Trotzdem half er ihm den Reißverschluss der Tasche zu bändigen.

„Sicher-"

„Seid ihr fertig, Mädels? Wir müssen lohooos", trällerte Jurij, betrat uneingeladen das Zimmer und unterbrach das kleine Kaffeekränzchen seiner Teamkollegen. Und gerade, als er zu Jernej weitergehen wollte, blieb er wie angewurzelt stehen. „Du weißt schon, dass da noch ein Haufen Sachen liegen, die in die Tasche da müssen Domen?!"

Tatsächlich hatte Domen erst die Hälfte seiner persönlichen Sachen in die Tasche gestopft, die trotzdem schon so aussah, als würde sie gleich platzen. Goran hatte sie bevor sie zur Tournee gefahren waren, noch einmal ausdrücklich ermahnt nicht so viel unnötiges Gepäck mitzuschleppen, da die Autos mit denen sie unterwegs waren, nicht den größten Stauraum aufwiesen. So hatte er die Parole: Jeder nur eine Tasche für seine privaten Dinge, ausgegeben.

„Wer sagt denn, dass das meine Sachen sind?", wollte Domen entrüstet wissen, doch Jurij sah ihn einfach nur stumm weiter an. Dafür kannte er den jüngsten Prevc-Spross inzwischen zu gut, um sich von so etwas verunsichern zu lassen.

„Okay! Wenn es dich glücklich macht. Aber – Trommelwirbel bitte – ich habe gelernt. Nachdem ich das letzte Mal meine Tasche unzählige Male zusammen- und wieder ausgepackt habe, bis endlich alles drin war und damit den mächtigen Zorn eines Goran Janus auf mich gezogen habe, weil wir beinahe den Flieger verpasst hätten, habe ich dieses Mal eine Geheimwaffe dabei", geheimnisvoll grinste er die anderen an, während er mit seiner Hand in dem kleinen Seitenfach in seinem Rucksack kramte. „Tadaaa!"

„Mülltüten?!"

„Wieso nicht? Die sind stabil und bieten genügend Stauraum für meine Klamotten und sparen mir eine Menge Zeit. Ist doch super!" Domen konnte die fehlende Begeisterung seiner Teamkollegen einfach nicht verstehen. Er fand seine Idee einfach nur genial. Geradezu Nobelpreisverdächtig. Ungerührt lief er durchs Zimmer und stopfte die restlichen Sachen in seine schwarze Mülltüte.

„Ich sage es dir: Sieh lieber zu, dass Goran das nicht merkt", riet Jurij Domen sprachlos und verließ kopfschüttelnd das Zimmer. Dem war einfach nicht mehr zu helfen. „Ich glaube, die eine Tasche-Parole schließt Mülltüten mit ein."

„Bringen wir unsere Sachen zum Aufzug. Jurij hat Recht, Goran wird es nicht gefallen, wenn du schon wieder zu spät bist", bemerkte Cene und lief aus dem Raum.

„Ich bin nicht der Einzige, der ab und an zu spät kommt", brummte Domen, als er anfing seine Sachen zu schultern.

„Aber du bist derjenige, der immer als Letzter spät dran ist", gluckste Anže und hielt ihm die Tür auf. Kommentarlos schob Domen sich an ihm vorbei. „Unabhängig davon, dass dein ‚ab und an' ein dehnbarer Begriff zu sein scheint."

Und darauf würde er gar nicht erst antworten.

Während Cene den Aufzug offenhielt, holten die beiden anderen ihr Gepäck aus dem Zimmer. Mit den ganzen Sprunganzügen, Taschen, Rucksäcken und Domens Mülltüte mussten sie mehrere Male hin und herlaufen, bis sie endlich alles hatten. Die Fahrt nach unten schien eine weitere Ewigkeit zu dauern und Domen schwor sich, er würde den Fahrstuhl dafür verantwortlich machen, wenn Goran ihn zusammenstauchen würde. Er konnte ja nicht an allem Schuld sein.

Als sich die Tür öffnete, atmete er erleichtert auf und sie räumten alles auf den Gang, um den Fahrstuhl für die anderen Hotelgäste freizumachen.

Domen war so damit beschäftigt, sich zu beeilen, dass er total blind für seine Umgebung beladen mit seiner Tasche und der Mülltüte etwas Orangenes umrannte und dabei etwas noch viel Größeres laut krachend mit sich riss.

„Verdammt, kannst du nicht aufpassen?!", schimpfte er ohne nachzudenken, bevor er überhaupt realisierte, dass es Daniel war, auf dem er gelandet war, und der nicht minder entgeistert zu ihm aufsah. Offenbar hatte Daniel bei seinem Versuch den Sturz zu verhindern, den Kleiderständer mit den Sprunganzügen der Norweger mit sich gerissen. Daher also der Lärm.

Nach einer kurzen Schrecksekunde realisierten die beiden, dass ihr kleines Missgeschick nicht unbemerkt geblieben war. Tom und Anders waren am anderen Ende der Kleiderstange gewesen und wurden von heftigen Lachanfällen geschüttelt, genauso wie Cene und Anže.
"Mitreißend", kicherte Tom und suchte Halt bei Anders, der ebenfalls vor Lachen schon fast am Boden lag.

„ Zählt das jetzt noch als Déjà-Vu?", brachte Anders Fannemel mühsam über die Lippen, der nach einem Taschentuch kramte, um seine Lachtränen aus dem Gesicht zu wischen.

Domen sah Daniel gebannt an, der genau wie er in einem Moment der Starre gefangen schien. Sie fixierten einander und vor Domens geistiges Auge schob sich Jay, der den Weihnachtsmenschen mit seinen Küssen verschlang. Hitze durchfuhr ihn.

„Ehrlich, überall wo du auftauchst, verbreitest du das reinste Chaos, Prevc", lachte Anže, den inzwischen nichts mehr wunderte.

Augenblicklich kam Leben in den jungen Slowenen. Er rollte sich so schnell er konnte von Daniel runter, der ihn angesichts seiner plötzlich erwachenden Lebensgeister komisch musterte. Mit hoch roten Wangen wandte Domen sich ab. Er brauchte jetzt etwas zu tun und versuchte allein den Kleiderständer wieder hochzuhieven, ließ ihn jedoch vor Schreck wieder fallen. Daniel, der sich ebenfalls wieder hatte erheben wollte, verhedderte sich bei seinem Versuch und wäre beinahe ein zweites Mal zu Boden gegangen, wenn Tom nicht so schnell reagiert hätte.

Stirnrunzelnd musterte Tom die die Mülltüte, die hier mitten im Gang lag und in dessen Strippen sich Daniel verfangen hatte. „Wer stellt denn einfach seinen Müll hier ab?"

„Das ist kein Müll", lachte Cene. „Das ist Domens Reisegepäck", klärte er den verwirrt aussehenden Norweger auf.

„In einer Mülltüte?!" – „Ja, und? Was dagegen?"

„Daniel, du scheinst echt ein Talent dafür zu haben, dich in Domens Sachen zu verfangen", feixte Anders und erntete einen weiteren bösen Blick von Daniel.

„Das hat absolut nichts mit mir zu tun. Das macht die Gehbehinderung", wies Domen ohne weiter nachzudenken jegliche Anschuldigungen von sich, als er einen weiteren Versuch startete den Kleiderständer wieder aufzustellen, um seine unpassenden Gedanken loszuwerden.

„Lass mal, du hast schon genug angestellt", tadelte Daniel ihn wie ein Kind, dass gerade verbotenerweise aus der Keksdose genascht hatte und klang dabei aus tiefstem Herzen frustriert.

„Das war nicht mit Absicht! Ich hab-"

„Nicht hingesehen und bist einfach drauf losgestürmt. Wie immer", beendete Daniel seinen Satz. Domen blitzte den Norweger wütend an.

Irgendwie hatte er ja schon geahnt, dass der Norweger nicht gut auf ihn zu sprechen war, immerhin waren sie sich inzwischen zweimal über den Weg gelaufen und Domen war jedes Mal ohne eine einzige Erwähnung seines von Daniel mit Sorgfalt ausgesuchtem Spitznamens davongekommen. Aber er würde sich nicht wie ein Kind behandeln lassen, nur weil Mr. Lahmarsch schlechte Laune hatte.

„Domen! Schaffst du dann vielleicht heute noch deine Sachen ins Auto, statt quatschend in der Gegend zu stehen?!", rief Peter genervt nahezu im selben Moment quer durch die Lobby. Waren Anže und Cene etwa unsichtbar?! Die standen direkt neben ihm!

„Ja, Domen. Quatsch nicht so viel." Schadenfroh grinsten Anže und Cene ihn an, bevor sie sich einen Teil ihrer Taschen schnappten und sich beeilten sie zum Auto zu bringen, bevor sie doch noch Ärger bekommen würden.

„Seins kenne ich ja, aber was genau hast du eigentlich heute für ein Problem?", ignorierte Domen seine sogenannten Freunde und zeigte zuerst auf Peter und sah dann Daniel fragend an.

„Entschuldigt kurz. Wir müssen dann mal weiter", drängelte sich Anders an den beiden vorbei und schubste Tom vorwärts, der sich nur äußerst widerwillig abwandte. „Immer dann, wenn es gerade spannend wird", brummte er. Gern hätte er den Schlagabtausch mit Domen weiter beobachtet. Schließlich war der Slowene dafür bekannt, von einer unterhaltsamen Katastrophe in die nächste zu schlittern.

„Ich hab kein Problem", brummte Daniel unbehaglich und fixierte einen Punkt hinter Domen.

Da war es wieder. Dieses Nichts am Ende des Satzes. Warum störte ihn das überhaupt so?

„Klar, deswegen rennst du hier auch Konfettistreuend durch die Gegend", schnaubte Domen und musterte den Norweger.

„Jetzt sei nicht so kindisch", antwortete Daniel, während er entschuldigend einer Gruppe zulächelte.

„Kindisch?! Ich bin-"

„Prevc! Was genau ist an dreißig Minuten so schwer zu verstehen?!", unterbrach Goran den sich anbahnenden Ausbruch von Domen und klang dabei selbst mehr als geladen. Offenbar hatte er heute einmal zu oft auf den Slowenen warten müssen.

„Ja!", schrie er ungehalten zurück. „Ehrlich und die meinen, ich bin unausgeglichen!", brummelte er leise in seinen nicht vorhandenen Bart und bückte sich, um seine Sachen vom Boden aufzulesen.

„Ja, warum nur?", schnaubte Daniel und sah Domen bei seinem Tun zu.

„Okay, was hab ich dir bitte getan?", fragend sah Domen den Norweger an. „Und jetzt sag nicht nichts! Du bist den ganzen Tag schon so komisch zu mir, seit-" Überrascht hielt Domen inne. Wieder sah er Jay und den Weihnachtsmenschen. Dann fiel sein Blick auf Daniels Lippen, die ihn hypnotisch anzuziehen schienen und die der Norweger fest aufeinandergepresst hatte.

Daniel strich sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er sah so aus, als wäre er am liebsten gerannt. Genau wie Domen selbst, als ihm bewusstwurde, was er da gerade tat.

„Weißt du was, vergiss es." Domen schulterte seinen Rucksack, nahm seine Reisetasche in die eine, die Sprunganzüge in die andere Hand und stürzte aus der Lobby.

Daniel starrte dem Slowenen fassungslos hinterher. Er hatte ihn schon wieder stehengelassen. Und nicht nur ihn, nein, auch seine Mülltüte stand noch neben Daniel, als der das slowenische Fahrzeug am Fenster vorbeifahren sah.

Hello HurricaneWhere stories live. Discover now