Kapitel 20

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"Spencer!" rief ich vollkommen überfordert, da Alison nicht zu weinen aufhören wollte und mein Handy klingelte. "Spence!" "Schon da." sagte er hektisch, wobei ich ihm die Kleine überreichte. "Danke." flüsterte ich erschöpft, ehe ich den Anruf annahm. "Casey Reid." meldete ich und musste leicht lächeln. Es gefiel mir nach wie vor Spencer's Nachnamen zu tragen, weshalb ich es jedesmal genoss ihn zu sagen. Jedoch hielt das wohlige Gefühl, welches mich erfüllte, nicht lange an. "Casey." ertönte die Stimme der Anruferin, die klang als wär sie vollkommen durch den Wind. "Mit wem spreche ich da?" fragte ich verwirrt. "Alles in Ordnung?" flüsterte Spencer, dem ich ein Zeichen gab, das Schlafzimmer zu verlassen. "Ich bin froh dich zu erreichen. Es hat lange gedauert, deine Nummer herauszubekommen." "Wer ist da?" wollte ich abermals wissen und schloss die Tür. "Jessica." erklärte die Unbekannte. Ich ließ mich aufs Bett sinken. "Kennen wir uns?" hakte ich nach. Mein Kopf pochte wie verrückt, doch gelang es mir nicht, mich an eine Jessica zu erinnern. "Wer ist diese Frau? Und warum wollte sie mich unbedingt kontaktieren?" dachte ich und krallte meine Fingernägel frustriert in die Bettdecke. "Können wir uns treffen? Es ist kein Thema, was man übers Telefon besprechen sollte." sagte Jessica kleinlaut. "Warum sollte ich mich mit einer Person treffen, die ich nicht kenne? Denkst du, dass ich so naiv bin?" wollte ich wütend wissen, obwohl die Aussage nicht unbedingt meinen Handlungen, die ich in der Vergangenheit getroffen habe, entsprach. Denn ich hätte genau das getan. Mich ohne zu zögern mit einer Fremden getroffen. "Ich muss unbedingt mit dir sprechen." beharrte Jessica flehend weiter. "Dann erklär mir aus welchem Grund." forderte ich gereizt. Ich hörte die Frau am anderen Ende der Leitung nervös seufzen. "Es geht um Paul Evans." ihre Worte ließen mich erstarren. Mein Herzschlag beschleunigte sich und mir wurde plötzlich warm, obwohl ich am ganzen Körper zitterte. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Ich hatte Angst. "Casey?" hörte ich Jessica fragen. "Was weißt du über meinen Vater?" wollte ich monoton wissen. "Ich erzähle dir alles, wenn wir uns sehen." entgegnete sie, woraufhin ich entschlossen aufstand. "In Ordnung." sagte ich und verschwand aus dem Schlafzimmer. "In einer halben Stunde beim Washington Monument." vereinbarte Jessica den Treffpunkt. "Abgemacht." ich beendete das seltsame Telefonat und zog mir meine braunen Stiefel an. "Wo willst du plötzlich hin?" ertönte Spencer's Stimme hinter mir, woraufhin ich mich ein wenig erschrocken umdrehte. "Was ist los, Case?" fragte er besorgt. "Ich hab einen Anruf bekommen. Es geht um meinen Vater und ich will wissen, was dahinter steckt." erklärte ich kurz. Spencer schaute mich verständnislos an. "Mach dir keinen Kopf, Spence. Ich liebe dich und bin später mit Abendessen zurück." fuhr ich fort. "Mit wem hast du telefoniert?" "Wir reden, wenn ich wieder da bin." entgegnete ich und gab Alison und ihm einen Kuss, ehe ich aus dem Haus stürmte. Eisiger Wind schlug mir um die Ohren, während die verfärbten Blätter umherflogen. Ich schüttelte mich vor Kälte, weshalb ich mir auf dem Weg zum Wagen meine Lederjacke überzog. "In einer halben Stunde beim Washinton Monument." hallten Jessica's Worte in meinen Gedanken wieder. Unsicher startete ich den Motor. "Ich muss wissen, wer sie ist und in welcher Verbindung sie zu meinem Vater steht." 

Immer wieder schaute ich auf den Display meines Handys. Ich war nervös und gute zehn Minuten zu früh. Mein Blick glitt derweil über die Parkanlage, welche hauptsächlich von Touristen besucht war. Erst als eine junge Frau mit großen Schritten näher kam, hellte sich meine ernste Miene etwas auf. Sie schien unsicher zu sein, sah sich mehrfach um. "Wurde die Unbekannte verfolgt? War mein Vater womöglich​ derjenige, vor dem sie floh?" So viele Gedanken, die mich in den Wahnsinn trieben. "Ca-Casey?" stotterte die junge Frau als sie wenige Meter vor mir zum Stehen kam. Ich nickte bloß stumm, den Blick fast schon arrogant auf Jessica gerichtet. Sie wirkte noch eingeschüchterter als zuvor, doch war mir das Recht. Ich würde nicht diejenige sein, die einen auf Freundin macht und ihr blind vertraut. "Wer bist du?" fragte ich schroff. Jessica schluckte schwer. "Ich verängstige sie wirklich." dachte ich und bereute mein kühles Verhalten ihr gegenüber. "Es tut mir leid." entschuldigte ich mich, wobei ich mir überfordert durch meine blonden Haare fuhr. "Es ist nicht meine Art so eine Zicke zu sein, aber ich bekomme nicht alle Tage so einen Anruf, der dann noch dieses sensible Thema betrifft." fügte ich etwas kleinlaut hinzu. Jessica nickte verständnisvoll. Es schien nicht  als wäre ihr Verständnis vorgetäuscht. Sie schien es wirklich nachzuvollziehen, was mich erneut nachdenklich werden ließ. Es waren die blauen Augen, die mir vertraut waren und mich dennoch beruhigten. "Ich habe das Gefühl dich zu kennen." bemerkte ich ruhig. Jessica's Körperhaltung entspannte sich langsam, jedoch zitterten ihre Hände und ich hätte wetten können, dass es nicht an der kalten Oktoberluft lag. "Wir haben uns noch nie gesehen." antwortete die junge Frau und wickelte eine ihrer blonden Haarsträhnen, die bis über ihre Schultern reichten, nervös um den Finger. "Aber du kennst Paul Evans." sprach sie kaum hörbar weiter, woraufhin ich nickte. "Er ist mein Vater." "Und das einzige, was uns verbindet." entgegnete Jessica mit einem sanften Lächeln. "Inwiefern?" fragte ich ohne das Lächeln zu erwidern. Jessica atmete tief durch. "Du bist meine Halbschwester." "Was?" fragte ich und schüttelte den Kopf. "Das kann nicht sein. Ich habe keine Geschwister. Ich bin Einzelkind." platzte es aus mir heraus. Ich konnte die Tränen, die sich gebildet hatten, bereits an meinen Wangen hinunterlaufen spüren. "Das stimmt nicht." versuchte ich zu lachen. "Du lügst!" fügte ich hinzu, doch Jessica verneinte. "Lass es mich erklären. Ich habe es auch erst vor ein paar Tagen erfahren und auch nur durch unseren Vater." "Vielleicht ist er dein Vater, aber mir war er nie einer und wird es auch nicht mehr sein!" fuhr ich die junge Frau an, welche daraufhin zusammenzuckte und mich mit ihren großen, blauen Augen, die vor Tränen glänzten, ansah. "Er ist tot." brachte Jessica wimmernd hervor. Abermals verschlug es mir die Sprache. Es waren zu viele Nachrichten auf einmal. Nachrichten, die ich nicht einfach verarbeiten konnte. "Er hat sich vor drei Tagen das Leben genommen." begann Jessica leise. Ich hätte wahrscheinlich weinen sollen oder Mitleid haben müssen, aber ich fühlte nichts. Keinerlei Emotionen. "Macht mich das zu einem schlechten Menschen? Einer schlechten Tochter? Zweiteres mit Sicherheit, doch war er mir nie ein Vater. Also aus welchem Grund, sollte ich nun um ihn trauern? Er war mir gegenüber ein Monster und hat nie eingesehen, was er mir oder meiner Mum angetan hat. Dieser Mann hat meine Trauer und mein Mitleid nicht verdient, denn ich habe ihm genauso wenig bedeutet. Oder? Schließlich hat er sich nicht gekümmert, ob mein Leben durch ihn die Hölle war und wie ich mich fühle oder ob er mir Schmerzen zufügt. Schmerzen. Körperlich, aber vor allem seelisch. Nach so vielen Jahren kämpfe ich immer noch mit den Erinnerungen, die er hinterlassen hatte. Vielleicht bin ich grausam oder es macht mich ebenfalls zu einem Monster, wie er es war, aber meines Erachtens hat er es nicht anders gewollt. Hätte er ein anderes Leben gewollt, hätte er sich ändern können, aber das ist nicht geschehen. Möglicherweise hätte ich ihm verziehen, wenn er einen Neuanfang begonnen und es auch so gemeint hätte. Meine Mum hat es schließlich auch geschafft. Ich habe ihr verziehen und liebe sie mehr als je zuvor. Sie ist mein Beweis, dass sich Menschen ändern können." ging es mir durch den schmerzenden Kopf. "Es ist zu viel für mich." schluchzte ich und sank auf den kühlen Asphalt. Mein Gesicht glühte als hätte ich Fieber und mein Körper zitterte stark. Es war beinah ein Beben. Heiße Tränen liefen mir über die Wangen. Ich spürte die Blicke der vorbeilaufenden Passanten auf mir. Sie verurteilten mich, dachten sicherlich, dass ich verrückt sei. Ich begann noch schneller zu atmen, dennoch kam es mir vor als würde ich keine Luft bekommen. Angst erfüllte mich und übernahm die Oberhand. Ich geriet in völlige Panik, wusste nicht mehr, wie ich mich kontrollieren konnte. Mein Mund war ausgetrocknet und es fühlte sich an als würde mir jemand die Kehle zu schnüren. Ich konnte so hektisch atmen, wie ich wollte. Mir blieb die Luft weg. Ich wollte schreien. Hilfe rufen und mich irgendwie mitteilen, aber bekam ich kein Wort heraus. Es flossen bloß weitere Tränen. Mit ihnen verlor ich immer mehr an Kraft. Ich konnte nicht mehr gegen meine Panikattacke ankämpfen. Es war zu viel. Eine Schwester, der Tod meines Vaters und die vielen Menschen um mich herum, die neugierig dabei zusahen, wie ich vor ihnen zusammenbreche. Denn genau das tat ich in diesem Augenblick. Mein Körper hatte so viel Kraft aufgewendet und dennoch war es nicht genug. Ich hielt mir die Ohren zu. Die Stimmen, der vielen Menschen lösten ein schrilles Piepen aus. Es waren zu viele Eindrücke und Gefühle auf einmal. Mir wurde schlecht und meine Sicht verschwamm. Ich wollte rufen. Ich wollte nach Spencer rufen. Aber ich blieb stumm, zumindest fast. Ein hektisches Atmen und lautes Geschluchze, waren die einzigen Laute, die ich von mir gab. Meine Augen verloren den Fokus, der zuvor auf meine Umgebung gerichtet war. Ich verlor endgültig den Halt. Alles fing an sich zu drehen, bis mir schließlich schwarz vor Augen wurde und ich das Bewusstsein verlor.

Crave you// criminal mindsWhere stories live. Discover now