9. Kapitel

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9. Kapitel


Das Leben gehört dem Lebendigen an, und wer lebt, muss auf Wechsel gefasst sein.

-Johann Wolfgang von Goethe

Nicht die Dinge ändern sich; wir ändern uns.

-Henry David Thoreau


Man konnte erkennen, wie sie mit sich rang. Sie atmete tief durch, starrte an die Decke, rieb sich über die Arme und wollte im Grunde gar nicht darauf eingehen. Es war ihr unangenehm und ich fühlte mich schlecht, weil ich sie in diese Situation gebracht hatte. Aber weil sie ist wer sie ist, fragte sie schließlich doch ganz leise:

„Was tut dir Leid?", ganz so, als fürchtete sie sich vor der Antwort.

Ich konnte es ihr nicht einmal übelnehmen. Eigentlich wollte ich es selbst nicht wissen, geschweige denn aussprechen. Es kam mir schon immer so vor, dass wenn man etwas ausspricht, es schrecklich real wird und unwiderruflich etwas zerstörte. Denn einmal laut gesagt, konnte man es nicht zurücknehmen. Gedanken waren etwas persönliches, etwas dass man nur mit sich selbst teilt. Worte hingegen teilte man praktisch mit der ganzen Welt. Sie verschwanden nicht einfach, bloß weil man es sich ganz fest wünschte.

„Das ist mich so benehme. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist", erklärte ich letztendlich und schaute sie dabei direkt an.

Ich wollte ihre Reaktion sehen. Aus Angst dass sie mich möglicherweise belügen könnte, musste ich sie anschauen wenn wir miteinander sprachen. Sie war noch nie gut darin zu lügen, wenn sie jemand dabei beobachtete. Besonders wenn dieser Jemand sie gut kannte.

Irgendwie wirkte sie erleichtert. Was hatte sie denn erwartet? Das ich gehen und nicht wiederkommen würde und ihr deshalb so nah sein wollte? Wollte ich das überhaupt? Warum lag sie mir in letzter Zeit noch mehr am Herzen als sonst? Warum machte mich der Gedanke fast krank, dass sie bald 18 und damit so gut wie erwachsen sein würde? Wieso wurde ich wütend, wenn ich darüber nachdachte dass sie womöglich bald einen Freund hatte?

„Schon okay. Ich schätze wir brauchen alle mal jemanden. Niemand ist gerne alleine", murmelte sie und fuhr sich durch die im Sonnenlicht Bronzeschimmernden Haare.

Sie zögerte, als wollte sie noch etwas sagen, blieb aber stumm. Unruhig bewegte sie sich unter der Bettdecke. Lil schien um eine gemütlichere Position bemüht zu sein. Als sie sie nicht wirklich zu finden schien, drehte sie sich erneut in meine Richtung, schloss aber die Augen. Mir kam es vor als ertrüge sie meinen Anblick nicht, was mir einen Stich versetzte.

„Aber?", fragte ich sie.

Widerstrebend blickte sie mich an. Sie tippte mit dem Daumen an ihre Unterlippe, ehe sie kurz darauf biss und meinte:

„Aber ich finde, dass ich der falsche Mensch dafür bin", antwortete sie und hielt meinem Blick stand.

„Wieso? Du bist immerhin meine Schwester", stellte ich fest.

Musste ich mich wirklich vor ihr dafür rechtfertigen? Andererseits, fühlte ich mich schlecht deswegen, was der Grund war weshalb ich mich in erster Linie bei ihr entschuldigt hatte. Verärgert runzelte ich die Stirn. In meinem Kopf herrschte ein einziges Chaos. Es machte mich krank, dass ich scheinbar keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.

Unvermittelt legten sich warme Finger auf meine Stirn.

„Nicht. Das gibt nur Falten", flüsterte sie kaum hörbar und zog ihre Hand auch schon wieder unter die Bettdecke.

Forbidden Touch (TNM-#0.5)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt