17. Kapitel

11.9K 614 43
                                    

17. Kapitel

Was es ist

Es ist Unsinn

sagt die Vernunft

Es ist was es ist

sagt die Liebe

Es ist Unglück

sagt die Berechnung

Es ist nichts als Schmerz

sagt die Angst

Es ist aussichtslos

sagt die Einsicht

Es ist was es ist

sagt die Liebe

Es ist lächerlich

sagt der Stolz

Es ist leichtsinnig

sagt die Vorsicht

Es ist unmöglich

sagt die Erfahrung

Es ist was es ist

sagt die Liebe

-Erich Fried

Meine Zunge strich über ihre Lippen, die sich öffneten. Ihr Körper schmiegte sich an meinen, ihre Hände vergruben sich in meinen Haaren. Es war nicht Leidenschaftlich, es war reine Wut. Wut auf mich, Wut auf sie, Wut auf alles und jeden. Ihre Erwiderung strotzte vor demselben Hass. Dennoch fühlte es sich gut an. Sie schmeckte nach Tomaten, roch nach Sonne. Ihre Finger fuhren meinen Nacken entlang. Einen Arm schlang sie um meinen Hals, schob sich falls möglich, noch näher an mich. Ich stieß mit den Oberschenkeln an den Tisch, bemerkte es aber kaum. Meine Hände verließen ihren Nacken, umfassten von unten ihre Schultern und hoben sie so auf die Zehnspitzen.

Das alles geschah so unglaublich schnell und doch kam es mir vor wie eine Ewigkeit. Als ich realisierte, was hier gerade passierte, schlug ich schockiert die Augen auf und stoppte in meinem Handeln. Meine Arme ließ ich hängen, meine Lippen lösten sich von ihren. Lil fuhr erschrocken von mir. Sie hob eine Hand an die zitternden und leicht geschwollenen Lippen. Tränen stiegen in ihre Augen. Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte aus der Haustür hinaus. Ich lief ihr hinterher, rief ihren Namen und das es mir Leid tat, aber sie sprintete immer weiter. Selbst wenn ich es versucht hätte, wäre ich nie bei ihr angekommen. Mein Vater und ich hatten sie zu gut trainiert. Sie war schneller und flinker, als ich es je sein würde.

„Verdammt!", brüllte ich und schlug mit der geballten Faust gegen die Wand neben der Tür.

Wütend und hilflos, ließ ich mich am Türrahmen zu Boden gleiten. Hatte Melinda am Ende Recht? Empfand ich etwa für meine kleine Schwester, dass ich nicht empfinden sollte? Oder hatten nur ihr Gerede und ihre bescheuerte Vermutung mich in Zweifel und dieses seltsame und widerwärtige Verhalten getrieben? Ich wusste es nicht und das machte mir eine scheiß Angst.

Eine Ewigkeit saß ich da und fragte mich, was los war und ob ich meine Schwester soeben für immer davon getrieben hatte. Vielleicht war sie weggelaufen. Zum nächsten Bahnhof oder Flughafen. Saß jetzt irgendwo auf dem Weg in ein neues Leben. Vermutlich war sie einfach zu Hanna gegangen. Ich dachte darüber nach, ob der Kuss ein letzter Versuch gewesen war sie wegzuschicken. Weg von unseren Eltern, weg von mir. Vielleicht hatte ich geglaubt, so ihre letzten Bande zu zerstören und es ihr zu erleichtern.

‚Super hinbekommen. Jetzt ist sie weg und kommt nie wieder. Du hast was du wolltest', dachte ich.

‚Warum fühl ich mich dann so schrecklich?', fragte ich mich selbst.

‚Warum tut es so unglaublich weh?'

Als die Sonne untergegangen und meine Hoffnung darauf, dass sie wiederkommen würde mit den letzten Strahlen hinter dem Horizont verschwunden war, erhob ich mich, schloss die Tür und lief am Esstisch mit dem kalten Essen vorbei in mein Zimmer. Ich schälte mich aus meinen Klamotten, ließ sie einfach auf dem Boden lieg und legte mich nur in Boxershorts auf mein Bett. Die Kraft mich zuzudecken, konnte ich nicht aufbringen. Endlos starrte ich an die Decke, die wie ein schwarzes Loch aussah und sich ebenso verhielt. Sie saugte alles auf: Meine Verzweiflung, meine Sorgen, meine Bedenken, meinen Selbsthass. Alles verschwand in einer unendlichen Leer und ließ mich nackt, alleine und stumpfsinnig zurück. Ein Körper, eine Hülle ohne Seele. Denn meine Seele, war vor Stunden aus der Tür gerannt und hatte nicht mehr zurückgeblickt.

Um drei Uhr nachts hörte ich wie die Tür ging. Ich erwartet, dass meine Eltern nach Hause gekommen waren, aber das Poltern welches sie verursacht hätten, blieb aus. Stattdessen drang kurz darauf der Laut einer Zimmertür an mein Ohr, welche näher lag als die meiner Eltern. Abrupt setzte ich mich auf.

„Lilly?", fragte ich leise und sehr ungläubig in die Leere meines Raumes hinein.

Ich drehte mich zu unserer Wand um, der die uns nur wenige Zentimeter trennte und horchte. Ein dumpfer Knall, gefolgt von Fluchen ertönte, dann nichts mehr. Vermutlich hatte sie sich wieder den Fuß an ihrem Bett angestoßen. Das passierte ihr in so regelmäßigen Abständen, dass ich ihr angeboten hatte es mit Schaumstoff zu ummanteln, doch sie war der Meinung, dass es dämlich aussah, wenn ihr Bett Schaumstoffbeine hätte.

Leise stand ich auf und schlich mich zu ihrer Tür. Ich zögerte. Wenn ich jetzt reingehen würde, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie direkt wieder weglief. Aber wenn ich es nicht tat, würde es ewig zwischen uns hängen und das wollte ich auf keinen Fall. Ich redete mir selbst Mut zu, fühlte mich, als wäre ich 17 statt 28 und öffnete schließlich die Tür. Ich schlich mich zu ihrem Bett, blieb auf der Seite stehen, auf der sie lag. Ich traute mich nicht, mich zu ihr zu setzten, deshalb hockte ich mich davor. Mein Gesicht war mit ihrem auf gleicher Höhe. Lil schaute mich an, wartete. Ihre Augen waren rot vom vielen Weinen, der Rest ihres Gesichtes war blass, dass war selbst im schwachen Schein des Mondes zu erkennen. Es zerriss mir das Herz sie so zu sehen und zu wissen, dass ich der Grund war. Ohne darüber nachzudenken, legte ich eine Hand auf ihre Wange und flüsterte voller Reue und Schmerz:

„Es tut mir unendlich Leid."

Sie schloss die Augen, biss sich auf die zitternde Lippe. Meine Hand verließ ihr Gesicht. Ich schaute auf den Boden und schämte mich noch mehr. Sie ertrug nicht einmal mehr meinen Anblick. Der Gedanke schmerzte, doch ich hatte es vermutlich verdient. Ich hatte es ganz bestimmt verdient. Ich wollte mich gerade erheben, um wieder in mein Bett zu kriechen, als sie unerwarteter Weise flüsterte:

„Komm einfach ins Bett, ja?"

Perplex sah ich Lil an, doch ihre Augen waren geschlossen. Hatte ich es mir eingebildet? Aus einem verzweifelten Wunsch heraus? Als sie schließlich die Decke hinter sich aufschlug, wurde mir klar, dass sie es tatsächlich gesagt hatte. Zweifel beschlichen mich, doch mein Verlangen ihr nah sein zu wollen, nachdem ich geglaubt hatte, sie wäre für immer fort, war stärker. Ich legte mich hinter sie und deckte mich zu. Lil drehte sich zu mir um und bettete wie immer ihren Kopf auf meine Brust. Aber dieses Mal fühlte es sich seltsam an. Anders. Dennoch legte ich einen Arm um sie, lauschte ihren gleichmäßigen Atemzügen und schlief letztlich darüber ein.


Forbidden Touch (TNM-#0.5)Onde histórias criam vida. Descubra agora