12. Kapitel

12.1K 597 13
                                    

12. Kapitel

Es schadet nichts, wenn einem Unrecht geschieht.

Man muss es nur vergessen können.

-Konfuzius

Alles verstehen heißt alles verzeihen.

-Anne Louise Germaine de Staël

Die nächste Person auf meiner Tour, war weder besonders überrascht, noch erfreut mich zu sehen. Obwohl das Sehen sich erstmal in Grenzen hielt. Um ehrlich zu sein, würdigte sie mich anfangs keines Blickes. Das Einzige, was ich zu hören bekam, war:

„Wenn du nicht hier bist um mir zu erzählen wie ein kleiner Österreicher es geschafft hat die ganze Welt ins Chaos zu stürzen, kannst du gleich wieder gehen."

Nach all den Jahren war ich immer noch überrascht, wie sie immer mit Sicherheit sagen konnte, wer gerade um sie herum war. Vermutlich war sie einfach aufmerksamer als andere Menschen. Die meisten Leute lebten vor sich her ohne sich umzusehen, während sie die Angewohnheit entwickelt hatte alles immer im Blick zu haben. Ob mit Spiegeln, Reflektierungen oder aus dem Augenwinkel, sie wusste was gerade passierte. Ob nun direkt vor ihrer Nase oder hinter ihrem Rücken.

„Vermutlich war sein übergroßes Ego daran Schuld", meinte ich und trat näher an ihren Schreibtisch, an dem sie saß und sich über ein halbes dutzend Bücher beugte, während sie auf einem Block Notizen machte.

Interessiert schaute ich über ihre Schulter. Seiten um Seiten hatten sich bereits mit ihrer klaren Handschrift geschmückt. Mir sagte sie immer, dass sie neidisch auf meine sei, dabei war es eher umgekehrt. Aufmerksam las ich die ersten Sätze durch, wurde jedoch davon unterbrochen, dass Lilly die Hand darauf legte, den Stift noch immer zwischen den schlanken Fingern und ausnahmsweise lackierten Nägeln.

„Was willst du?", fragte sie schneidend.

Ihr Ton tat mir weh. Ich hasste es mich mit ihr zu streiten. Verletzte ich sie, verletzte ich auch automatisch mich. Ich schätze das gehörte eben dazu, wenn man sich so nahe stand.

„Mich entschuldigen", gab ich zu.

Meine Schwester schmiss den Stift hin und drehte sich auf ihrem Stuhl zu mir um. Ich trat ein paar Schritte zurück, damit sie mich besser ansehen konnte.

„Weißt du überhaupt wofür?", fragte sie mit hochgezogener Augenbraue.

„Dafür, dass ich ein Arschloch war", antwortete ich.

„Warst du", stimmte sie mir zu, ohne eine Miene zu verziehen.

„Aber das ist nicht der Grund, warum ich so wütend auf dich bin", fuhr sie fort.

Erstaunt runzelte ich die Stirn.

„Nicht?"

„Nein. Nicht nur."

„Warum dann?", hakte ich nach, obwohl mir irgendwie schon da klar war, dass mir die Antwort nicht gefallen würde.

Seufzend fuhr sie sich mit der Hand über die Stirn, wobei einer ihrer Ringe im Sonnenlicht aufblitzte. Eindringlich schaute sie eine Weile in meine Augen, ehe sie sagte:

„Es ist nur ... ich kenne dich schon mein ganzes Leben. Ich hab einfach das Gefühl, dass es stimmt, was ich sage. Egal ob du es nun zugibst oder nicht."

Wut stieg in mir auf. Schon wieder. Natürlich hatte sie ein Recht auf ihre Meinung, aber ich ärgerte mich, dass sie mich nicht besser kannte. Wie konnte sie denn nur so etwas denken? Es war so abwegig.

„Tja, dann liegen heute wohl schon zwei Menschen falsch mit ihren Ansichten über mich", meinte ich Zähne knirschend und bereute meine Worte sofort.

Ich hatte ihr nicht davon erzählen wollen und jetzt würde ich es müssen, bloß weil ich meine Klappe nicht halten konnte.

„Wie meinst du das?", fragte sie auch sofort.

Als ich nicht antwortete, einfach weiter dastand und sie verärgert anstarrte, erhob sie sich, kam zu mir, stellte sich dicht vor mich und wiederholte ihre Frage:

„Leo: Wie meinst du das? Was hat Mel gesagt?"

Ich fuhr mir mit der Hand durch die kurzen Haare, wandte den Blick von ihr ab und zu einem der Fenster. Draußen war die Sonne mittlerweile weit den Himmel heraufgeklettert und brannte auf die Bewohner der Stadt herunter. Eigentlich das perfekte Wetter für einen Ausflug ins Schwimmbad oder um sich in den Garten unter einen Baum zu legen. Stattdessen standen wir hier und stritten uns. Was lief eigentlich falsch?

Plötzlich legten sich zwei Hände um mein Gesicht und drehten es in Lillys Richtung. Ernst schaute sie mich an. Ihr Zorn war noch nicht gänzlich verflogen, aber sie schien sich darauf zu konzentrieren, eine Antwort aus mir herauszubekommen, was ihn zumindest in den Hintergrund zu rücken schien.

Ich gab mich geschlagen, da ich ohnehin nicht darum herum kommen würde, setzte mich auf ihr Bett, stützte die Ellebogen auf den Knien ab und vergrub mein Gesicht in den Händen. Wenn ich das jetzt sagte, konnte ich sie unmöglich dabei ansehen.

„Sie hat gesagt, dass ich keinen Sex mehr mit ihr haben will, weil ich lieber dich vögeln wollen würde", murmelte ich.

Eine Zeit lang saß ich so da, schaute zu Boden und wartete auf eine Reaktion meiner Schwester. Als nichts kam und ich auch nicht hörte, wie sie sich regte oder zu mindest laut ausatmete oder irgendetwas in der Art, sah ich auf. Lilly stand einfach nur da und blickte zurück. Ich wollte fragen, ob sie nichts zu sagen hätte, als sie es bereits erahnen zu schein und schlichtweg meinte:

„Na und?"

Perplex öffnete ich mehrfach den Mund um etwas zu sagen, aber vor lauter Erstaunen, kam nichts heraus. Doch das hielt nicht lange an. Mit einem Mal platzte es aus mir heraus:

„Na und? Na und?! Sie hat mich beschuldigt auf dich zu stehen und mit dir Sex haben zu wollen! Wie kannst du das so abtun?!"

Ich sprang auf und stellte mich wieder vor sie, während ich sie anbrüllte. Vollkommen unbeeindruckt wartete sie ab, bis ich fertig war. Dann erwiderte sie:

„Ich kann das, weil schließlich nichts dran ist. Richtig?"

Forschend sah ich in ihre smaragdgrünen Augen und musste an ihr Geburtstagsgeschenk denken. Ein Gedanke, der vollkommen fehl am Platz war, aber trotzdem da war. Lillys Züge waren mit den Jahren so fein geworden, dass ich mich manchmal fragte, wie es sein konnte, dass sie nicht bei der kleinsten Berührung zerbrach. Ihr Blick war abwartend, ihr Zorn schien endgültig verraucht. Ich war froh darüber, aber ihre Frage verunsicherte mich. Wo die Antwort doch so einfach war:

„Richtig."


Forbidden Touch (TNM-#0.5)Where stories live. Discover now