19. Kapitel

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19. Kapitel

Kämpfe werden stets ausgetragen. Manchmal werden sie gewonnen, manchmal gnadenlos verloren.

-K.M.

Die folgenden Tage waren voller Verwirrung, unausgesprochener Dinge und viel aus dem weg Geherei. Es war frustrierend, zum schreien und toben, doch keiner von uns tat es. Stattdessen schwiegen wir uns an, hielten uns selten länger als zwei Minuten in ein und demselben Raum auf. Unsere Eltern bekamen wie immer nichts davon mit. Wir hätten einfach verschwinden können und sie würden es erst Tage später bemerken. Jedenfalls kam es mir so vor. Am vierten Tag, eine Woche vor ihrem Geburtstag, zwei Wochen bevor ich zurück musste, ertrug ich es nicht mehr länger und flüchtete auf den Stützpunkt.

In meinem Zimmer fand ich Ryan vor, der mit feuchten Haaren auf seinem Bett lag und las. Die Tatsache, dass das Buch eins von Lilly war, sie hatte es ihm geliehen, als er zuletzt bei uns gewesen war, half nicht gerade dabei sie zu vergessen. Seufzend ließ ich mich an Ryans Fußende nieder. Dieser hörte auf, legte das Buch beiseite und schaute mich fragend an.

„Du siehst beschissen aus. Hat Melinda wieder einen vom Stapel gelassen?", fragte er.

„Schön wär's", murmelte ich und vergrub mein Gesicht in den Händen.

Mein bester Freund setzte sich auf und legte mir eine Hand auf die Schulter.

„Was ist denn los? Ist was mit Lilly?", fuhr er besorgt mit seinem Verhör fort.

„Nein. Ihr geht's gut. Es ist nur ... alles so verwirrend. Keine Ahnung."

„Was ist verwirrend?" hakte er unerbittlich nach.

„Das Leben? Die Liebe? Ich weiß auch nicht. Plötzlich sind da Gefühle, die nicht da sein sollten. Ich empfinde etwas für jemanden, für den ich nicht so empfinden sollte und das ist ... gefährlich. Ich meine, wenn das rauskommt, dann ..."

„Dann was?"

„Sagen wir es einfach so: Es wird nicht passieren. Niemals. Das kann es nicht", meinte ich und schaute ihn an.

Nachdenklich legte Ryan den Kopf zur Seite, was ein wenig seltsam aussah. Wie ein Welpe, der sich als ausgewachsener Kampfhund tarnte. Der Blick harmonierte einfach nicht mit seiner breiten Statur.

„Was genau versuchst du mir hier zu sagen?", fragte er.

Ich öffnete ein paar Mal den Mund, um es ihm zu erzählen, die ganze Wahrheit welche ich nicht einmal denken wollte, doch letzten Endes war alles was ich sagte:

„Nichts. Es spielt keine Rolle."

Mit einem Mal änderte sich sein Gesichtsausdruck. Ryan wurde wütend. Er sprang von seinem Bett auf und rannte zur Tür raus.

„Ryan was ...", rief ich ihm hinterher, doch seine Schritte entfernten sich bereits.

Das konnte doch alles nicht wahr sein. Warum lief er davon? Hatte ich etwas Falsches gesagt? Oder lag es daran, dass ich ihm nichts gesagt hatte? War er verletzt, weil ich mich ihm nicht anvertraute? Warum zum Teufel musste nur alles so kompliziert sein?

Innerlich zerrissen, warf ich mich auf sein Kissen und schrie lauthals hinein, bis ich nicht mehr konnte und Luft holen musste. Resigniert drehte ich mich auf den Rücken und starrte an die Decke. Ich wünschte meine Gedanken wären leer, doch leider war das Gegenteil der Fall: Sie tobten. Und immer endeten sie bei ein und derselben Person: Lil. Es waren nur noch sieben Tage bis zu ihrem Geburtstag. Ich wollte mich weder mit ihr streiten, noch einen Bogen um sie machen. Schon gar nicht jetzt. Ihr Geburtstag war ihr wichtig. Sie war einer der wenigen Menschen in unserer Familie, die es liebte älter zu werden. Sie mochte es, dass Hanna mit ihren Eltern kam, genau wie alle meine Kameraden mit deren Familien. Sie mochte diese Art der Familie, die wir alle waren. Für sie war ihr Geburtstag eine Gelegenheit, alle um sich herum zu haben, sie die liebte und ihr wichtig waren. Das wollte ich ihr nicht verderben. Es führte kein Weg daran vorbei: Ich musste mit ihr reden.

Ich schlug die Hände über dem Gesicht zusammen, fuhr darüber und atmete tief durch, ehe ich mich erhob um zu ihr zu fahren. In meinem Auto sah ich auf die Uhr und bemerkte dabei das Datum von heute. Sie würde nicht zu Hause sein. Auch nicht bei Hanna. Es gab nur einen Ort, an dem sie sich heute aufhalten würde: Am Strand, bei unserem alten Haus.

„Hey", sagte ich und stellte mich neben meine Schwester.

Sie stand direkt am Wasser, ihre nackten Füße hatten sich in den Sand gegraben und wurden immer wieder von Wellen umspült. Sie hatte die Arme verschränkt und starrte hinaus auf das Meer.

„Hallo", erwiderte sie, ohne ihren Blick abzuwenden.

„Wie geht es dir?", fragte ich vorsichtig, mit ruhiger Stimme, obwohl mein Herz einen Marathon zu laufen schien.

Lil reckte kurz das Kinn vor, ehe sie meinte:

„Keine Ahnung. Ich bin traurig, verletzt, verwirrt und ...", sie stoppte, hielt etwas zurück.

Es nagte an mir, wenn sie das tat und ich nicht erraten oder erahnen konnte, was sie dachte.

„Und?", hakte ich nach.

„Und ich bin wütend."

Ich merkte, dass es nur die halbe Wahrheit war, aber mehr würde ich nicht erfahren. Nicht so.

„Warum?"

Dieses Mal schaute sie mich an, als sie weiterredete:

„Warum? Die Trauer hat einen Grund, den du sehr gut kennst. Ich weiß, du bist es auch. Verletzt bin ich, weil du mich wie die Pest meidest und ich nicht einmal weiß, was ich dir getan habe. Ich bin selbst verwirrt, wegen ... wegen dem was da passiert ist. Und es macht mich unsagbar wütend, dass du ... das du so ein Feigling bist! Warum redest du nicht mit mir?!", ihre Stimme war immer lauter geworden und zu Schreien angeschwollen.

Sie schlug mit den Fäusten auf mich ein, ließ alles heraus was in ihr war. Es tat weh. Nicht nur in meinem Herzen, sondern auch auf meinem Körper. Sie hatte viel Kraft, durch ihr Training. Irgendwann ertrug ich es nicht mehr, schnappte ihre Handgelenke und zog sie an mich. Schwer atmend stand sie vor mir, das Gesicht mit Tränen überströmt. Sie weinte still, wie so oft.

„Ich hab Angst. Angst vor dem was passiert ist, Angst vor dem was ich für dich empfinde, Angst vor dem ... was ich wirklich will", flüsterte ich.

„Und was ist das?", fragte sie.

Ich schaute in ihre tiefen Augen, die eine alte Seele zu beherbergen schienen. Sie zog mich in ihren Bann, egal was ich tat oder nicht tat. Ich kam nicht von ihr los, dass war mir jetzt klar. Statt ihr etwas zu sagen oder das Richtige zu tun, mich abzuwenden und ihr zusagen dass es so nicht weitergehen konnte, küsste ich sie.

Es war anders als beim ersten Mal. Wir näherten uns langsam. Auf halbem Weg wartete ich darauf, was sie tun würde. Ein Teil von mir fürchtete, sie würde sich losmachen, ein Anderer wünschte es sich. Aber sie tat es nicht. Stattdessen schloss sie die Augen und überwand den letzten Abstand. Ihre Lippen legten sich sanft und weich auf meine. Ich schloss selbst die Augen, ließ ihre Hände los und umfasste stattdessen behutsam ihr Gesicht. Es fühlte sich gut an, zu gut. Doch es war mir egal. Wir küssten uns lange, erst die Lippen, dann den Kiefer entlang runter zum Hals und zurück zu den Lippen, zu einem innigeren Kuss. Meine Gedanken verschwanden, gemeinsam mit dem Gefühl der Falschheit und den Zweifeln.

Lil drückte ihren Körper enger an mich, stellte sich auf die Zehnspitzen, schlang die Arme um meinen Hals. Es war, als würden wir wieder zu der Einheit verschmelzen, die wir immer gewesen waren. Es war... wunderschön.

Als wir uns lösten, um nach Luft zu ringen, lehnte meine Stirn an ihre. Keiner ließ den Andere los. Wir verharrten einfach nah beieinander. Die Gefahr entdeckt zu werden war gering. An einem Tag wie diesem, würde sich niemand auf ein privates Strandgrundstück wagen.

Ihre Augen sahen in meine und sie lächelte leicht, als sie flüsterte:

„Wir sind so was von am Arsch."


Forbidden Touch (TNM-#0.5)Where stories live. Discover now