18. Kapitel

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18. Kapitel

Liebe mich dann, wenn ich es am wenigsten verdient habe, denn dann brauche ich es am meisten.

-Anonym

Es gibt nichts Schöneres, als geliebt zu werden, geliebt um seiner selbst willen oder vielmehr trotz seiner selbst.

-Victor Hugo

An diesem Morgen war es nicht die Sonne, welche mich weckte. Es war der stetige Atem meiner Schwester. Heiße Luft, die über meine nackte Haut strich. Ihre Haare umrandeten ihr Gesicht und kitzelten mich an der Schulter. Sie schlief friedlich, was mich wunderte. Wie kam es, dass sie plötzlich durchschlief, ohne jegliche Albträume? Zu gerne hätte ich geglaubt dass es an mir lag, doch wir schliefen nicht zum ersten Mal im selben Bett, auch wenn es sich so anfühlte. Seit gestern hatte ich das Gefühl, dass alles anders war. Sie, ich, wir. Meine Wahrnehmung war was sie betraf, war nach Annas Tod stark geschärft worden, doch jetzt ... es kam mir vor, als würde meine Welt ausschließlich aus ihr bestehen. Was kitschig klang. Falsch. Verrückt.

Dennoch strich meine Hand stetig durch ihre Haare, spielten mit einer Strähne, fuhr ihr Schulterblatt entlang. Irgendwann wachte Lil auf. Sie blinzelte einige Male, stützte ihr Kinn auf meine Brust und schaute mich an. Meine Finger glitten widerstandslos durch ihre Haare, als ich sie aus ihrem Gesicht entfernte.

„Du bist so schön", murmelte ich.

Ihre Augen blitzten kurz auf. Am Liebsten hätte ich mir an die Stirn geschlagen, für meine Dummheit.

„Tut mir Leid", flüsterte ich und wollte aufstehen.

Sie drückte mich sanft zurück in die Laken und betete erneut ihren Kopf.

„Sag das nicht", sagte sie leise.

Verwirrt sah ich sie an. Es fühlte sich an, als hätte ich eine gespaltene Persönlichkeit. Eine wollte an den Gefühlen, die ich zu entwickeln schien festhalten, eine hasste sich dafür und eine wollte einfach nur ihr Bruder sein. Dazwischen existierten noch hundert andere, welche gerade die Oberhand hatte, vermochte ich nicht zu sagen.

„Was machen wir hier?", fragte ich.

Lil drehte sich von mir runter. Ihr Kopf ruhte weiter an meiner Schulter, ihr rechtes Bein berührte auf der ganzen länge mein linkes. Ihre Finger suchten meine. Wir verschränkten sie ineinander. Gestresst fuhr sie sich durch die Haare.

„Keine Ahnung."

„Du bist meine Schwester. Aber was ich fühle, was da gestern passiert ist, das war ..."

„Anders", beendete sie meinen Satz.

Ich hob ihre Hand an meine Lippen und küsste sie auf die Knöchel. Lil sah mich an, streckte den Zeigefinger aus und fuhr über meine Unterlippe. Spielerisch biss ich in ihre Fingerspitze. Meine Augen fixierten die ganze Zeit über ihre. Ihr Blick klebte förmlich an mir. Es kam mir vor, als würden wir beide Grenzen austesten. Die Grenzen unserer Beziehung, unserer Gefühle, unseres Handelns.

Sie drehte sich wieder auf die Seite. Ihr Gesicht näherte sich meinem. Ich gab ihre Hand frei. Sie fuhr über meinen Unterkieferknochen, folgte mit den Augen ihrer eigenen Bewegung, blieb an meinen Lippen hängen.

‚Verdammt', dachte ich.

Sie machte es mir so unglaublich schwer stark zu bleiben und meinen Fehler von gestern nicht zu wiederholen.

Als sie noch wenige Zentimeter von mir entfernt war, schloss Lil die Augen. Ihre zarten Lippen streiften meine, als sie plötzlich stoppte.

„Shit!", fluchte sie und sprang auf.

Jetzt hörte ich es auch. Lautes Poltern aus dem Wohnbereich. Lil öffnete dir Tür einen Spalt breit und lugte hinaus.

„Geh, geh, geh", befahl sie mir.

Schnell schlüpfte ich aus ihrem Zimmer und hinüber in meines. Kaum das die Tür hinter mir ins Schloss fiel, lief ich in mein Bad. Schwer atmend fuhr ich mir übers Gesicht. Was zur Hölle ging hier vor?

Vorwurfsvoll sah mich mein Spiegelbild an.

„Was?", fragte ich es.

Es hätte mich nicht gewundert, wenn es mir zur Antwort die Augenbraue hochgezogen und mich gefragt hätte, ob ich noch ganz bei Trost war meine kleine Schwester zu verführen. Meine noch immer Minderjährige kleine Schwester.

Das Adrenalin in meinen Adern brannte, das Rasen meines Herzens trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Schnell drehte ich die Dusche auf und stieg darunter. Eiskaltes Wasser prallte auf meine Haut. Ich atmete tief ein, probierte Atemtechniken aus, die uns beim Militär beigebracht worden waren. Langsam, sehr langsam, kam ich zur Ruhe. Allerdings dauerte es fast zwanzig Minuten und kostete etliche viele Liter Wasser. Als ich fertig war schlang ich mir ein Handtuch um die Hüften und lief zu meinem Schrank. Eine Weile schaute ich auf meine Klamotten, ohne sie wirklich zusehen, hing einfach nur meinen verwirrenden Gedanken nach. Auch wenn verwirrt meinen Zustand nicht ansatzweise erfasste.

Schließlich war ich angezogen und schlich regelrecht in die Küche. Die Anspannung kehrte zurück, kaum das ich ihre Stimme hörte. Ihr Anblick gab mir den Rest. Sie stand an der Kaffeemaschine und goss Wasser ein. Mein Dad stand neben ihr und fragte sie, wie unser Abend gewesen war. Nervös knackte ich mit meinen Fingern. Ich fürchtete mich vor ihrer Antwort, warum auch immer.

Mein Dad bekam es nicht mit, meine Schwester schon. Sie wandte kurz den Kopf in meine Richtung, dann sagte sie:

„Gut. Hanna war mittags da und später haben wir einen Film gesehen. Also im Grunde war alles wie immer", als sie endete schaute sie mich wieder an.

Erleichtert atmete ich aus. Lil beobachtete meine Reaktion sehr genau. Dad hatte uns den Rücken zugedreht, sodass ich sie fragend anschaute. Sie hob eine Augenbraue und wandte sich dann von mir ab. Es war offensichtlich, dass sie nicht begeistert war. Stellte sich die Frage nach dem warum. Wo lag das Problem? War sie verletzt, weil ich mir nicht sicher war, was sie sagen würde? Woher sollte ich es denn wissen?

„Ah, Leo. Ich hab mich schon gefragt, wo du bleibst. Hast du dich im Dreck gewälzt oder warum hast du solange geduscht?", fragte mein Vater scherzend.

‚So was in der Art', dachte ich und schämte mich sofort dafür.

„Ich brauchte das einfach mal", meinte ich lahm mit einem fahlen Beigeschmack und stellte mich zu meiner Schwester, die gerade den Kaffee einschenkte.

Ich hielt ihr meine Tasse hin. Sie schaute mich an, dann die Tasse. Polternd stellte sie die Kanne einfach auf den Tresen und ging zum Kühlschrank. Verwirrt schaute Dad uns an.

„Ist alles in Ordnung?", fragte er.

„Keine Ahnung. Lil?", provozierte ich sie.

Ich wollte keinen Streit mit ihr, aber wenn sie sich kindisch verhielt, konnte sie gerne die Quittung dafür haben.

Lilly erstarrte in ihrer Bewegung, atmete kurz durch und schaute uns dann mit einem falschen Lächeln an.

„Natürlich. Leo, kann ich kurz mit dir reden?"

Ich nahm einen Schluck Kaffee und drückte meinem Dad die Tasse in die Hand. Der schaute uns verwundert nach, als wir raus in den Garten gingen. Kaum das sie die Terrassentür hinter sich geschlossen hatte, fragte ich:

„Was ist denn los?"

„Was los ist? Sag mal spinnst du? Was dachtest du denn was ich sage? Das du mich geküsst hast und wir uns später trotzdem ein Bett geteilt haben? Das wir heute morgen ...", sie brach ab und fuhr sich durch die Haare.

Einen Moment lang starrte ich sie an, bevor ich laut ausatmete, sie am Arm packte und in eine Umarmung zog. Sie versuchte kurz mich wegzuschieben, gab jedoch schnell auf und erwiderte es.

„Natürlich nicht. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist", murmelte ich.

„Da haben wir was gemeinsam", nuschelte sie an meiner Schulter.


Forbidden Touch (TNM-#0.5)Where stories live. Discover now