16. Kapitel

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16. Kapitel

Kann Liebe falsch sein?

-K.M.

Ein wenig planlos hatte ich eine Paprika, Tomaten und Zwiebeln kleingeschnitten, eine Soße zusammengerührt und Nudeln gekocht. Zu mehr, fühlte ich mich gerade nicht in der Lage. Als das Essen dampfend auf dem Tisch stand, ging ich in den Garten, um die Mädels zu wecken. Hanna war jedoch schneller gewesen. Sie saß im Gras und streckte das Gesicht in die Sonne.

„Hey, isst du mit?", fragte ich halblaut, um meine Schwester nicht mit lautem Gerede zu wecken.

Das hasste sie wie die Pest.

„Nein, danke. Ich muss los. Aber ich komm gerne morgen wieder und futtere die Reste", meinte sie leise lachend.

„Wolltest du nicht abnehmen?", neckte ich sie.

„Ey, ihr habt gesagt, dass müsste ich nicht", meinte sie mit gespielter Empörung.

„Musst du auch nicht", gab ich zu.

Ich grinste und half ihr auf. Dankbar lächelte sie mich an und klopfte sich die Beine ab. Dann schlich sie sich zum Haus und hob noch kurz zum Abschied die Hand. Kaum dass sie verschwunden war, hockte ich mich neben meine Schwester und beobachtete einige Augenblicke lang, wie sich zuckend ihre Lieder bewegten. Scheinbar hatte sie einen recht lebhaften Traum. Da sich ihr Gesicht aber nicht verzog, nahm ich an dass es um etwas Schönes ging. Zu gerne hätte ich sie weiterschlafen lassen, aber aufgewärmtes Essen war weder ihr noch mein Ding.

„Lil", flüsterte ich neben ihrem Ohr.

Sie murrte leise, wandte sich von mir ab und döste weiter. Lächelnd beugte ich mich über ihre schmale Schulter, hinunter zu ihrem Gesicht.

„Lilly", flüsterte ich erneut und strich kurz über ihre Wange.

Erneut murrte sie nur und wedelte kurz mit der Hand, als wolle sie ein lästiges Insekt verscheuchen. Vermutlich war ich in diesem Moment auch genau das. Übel nahm ich es ihr nicht. Wer lag denn nicht gerne im Gras und schlief?

„Wach auf. Es gibt etwas zu essen. Oder willst du verhungern?", versuchte ich sie zu überzeugen.

„Was ich will, ist ...", murmelte sie leise, ließ aber die Augen geschlossen.

„Ja?", hakte ich nach.

„Das du mich überzeugst, dass es sich auch lohnt mich nur einen Zentimeter zu rühren", fuhr sie fort, doch ich wusste, dass sie etwas Anderes hatte sagen wollen.

Keine Ahnung woher, es war einfach ein Gefühl, tief in mir drin.

Nachdenklich legte ich mein Kinn auf ihrer Schulter ab.

„Es gibt Nudeln mit Tomatensoße. Ich hab auch extra für dich eine Paprika reingemacht", versuchte ich es.

„Nicht gut genug", meinte sie und öffnete die Augen.

Sie drehte ihren Kopf leicht in meine Richtung, schaute aber in den Himmel. Meine Augen wanderten von ihren, über die feinen Konturen ihrer Wange und blieben an ihren Lippen hängen. Sie waren leicht geöffnet, so wie immer wenn sie schlief oder gerade wachgeworden war. Der Grund war etwas medizinisches, doch im Moment fiel es mir schwer mich daran zu erinnern. Alles woran ich dachte, war ... war unsinnig und seltsam. Dennoch hob ich den Kopf und küsste sie auf die Wange. Meine Lippen verweilten einen Moment auf ihrer weichen Haut, ehe sie sich lösten. Mit der Nase an ihre Schläfe gelehnt, fragte ich leise:

„Gut genug?"

Sie schloss kurz die Augen und meinte dann viel zu laut:

„Ja."

Damit sprang sie auf und lief ins Haus. Vollkommen verwundert und auch etwas entsetzt über unser beider Verhalten, ging ich ihr hinterher. Was stimmte nur nicht mit mir? Hatte Melinda sich in meinen Kopf gebrannt und spielte weiter mit meinen Gedanken, obwohl ich sie aus meinem Leben verbannt hatte?

Lil saß am Tisch und füllte unsere beiden Teller. Früher hatte ich es gemacht, doch seit zwei Jahren, hatte sie das übernommen. Eine Kleinigkeit mehr, die mir zeigte, dass sie erwachsen war und mich nicht mehr brauchte.

„Woran denkst du?", riss mich Lilly aus meinen Gedanken.

Ich setzte mich ihr gegenüber und nahm den Teller entgegen, den sie mir hinhielt.

„Daran, dass du ohne mich klar kommst", antwortete ich wahrheitsgemäß.

„Das ist nicht wahr", widersprach sie.

Sie sah mich dabei nicht an, sondern auf ihre Gabel auf welcher sich Nudeln türmte. Sie pustete einige Male, ehe sie sie in den Mund schob und genüsslich zu kauen anfing.

„Doch. Ich hab dich immer mehr gebraucht, als du mich. Das haben wir alle. Und ich könnte bei dem Gedanken schreien", redete ich weiter, obwohl es offensichtlich war, dass meine Schwester nicht darüber sprechen wollte.

Doch ich musste es. Sie musste endlich wissen, wie Leid mir alles tat und wie sehr ich mir wünschte, ihr Leben wäre anders verlaufen. Es gab sogar Tage, an denen ich mir wünschte, dass sie ein Leben weit weg von uns allen beginnen und nie mehr zurückschauen würde. Es würde mir mit Sicherheit das Herz brechen sie zu verlieren, aber für sie wäre es besser und das war wichtiger als mein eigenes Herz.

„Red doch nicht so einen Unsinn", murmelte sie in eine weitere Gabel Nudeln.

„Es ist kein Unsinn. Es ist die Wahrheit. Du gehst hier zu Grunde. Wir zerstören dich. Jeder von uns. Vermutlich ginge es dir besser, wenn du irgendwo anders wärst. Ohne uns", sprach ich ehrlich meine Gedanken aus.

Lilly stockte in ihrer Bewegung, hielt kurz inne, warf die Gabel auf ihren Teller und stand auf. Ich glaubte dass sie davon laufen würde. Stattdessen baute sie sich vor beziehungsweise neben mir auf.

„Sag mal spinnst du?! Wie kannst du nur so etwas sagen?! Wie kannst du glauben, dass ich ohne dich besser dran wäre?! Als ob ich ohne dich vollständig sein könnte!", schrie sie mich an.

Ich erhob mich. Polternd fiel mein Stuhl um. Es kümmerte mich nicht im Geringsten.

„Natürlich ginge es dir besser! Lil, merkst du nicht, wie dir diese Familie tagtäglich zusetzt?! Warum kannst du nicht verstehen, dass ein Neuanfang das Beste für dich wäre?! In einer anderen Stadt, Herr Gott noch mal, am besten in einem anderen Bundesstaat!", fuhr ich sie an.

Ihr heißer Atem prallte auf meinen Hals, als sie schwer atmend nach Worten suchte. Sie war wütend. Ihre Augen funkelten mich an, voller Vorwürfe und unausgesprochener Gedanken.

„Natürlich weiß ich das! Ich war nicht zum Spaß im Krankenhaus! Aber ... aber wie kannst du ernsthaft glauben, dass ich dich hier zurücklassen würde?! Das ich dich zurücklassen könnte?!"

„WARUM DENN NICH?!"

„WEIL DU MEIN BRUDER BIST! WEIL ICH DICH VERDAMMT NOCHMAL LIEBE, DU IDIOT!"

Einen Moment lang passierte gar nichts. Die Welt hörte auf sich zu drehen. Nur unsere Atemzüge waren zu hören. Unsere Augen forschten in denen den jeweils Anderen. Wir standen so nah, dass sie ihren Kopf in den Nacken legen musste, um den Blickkontakt halten zu können und wir uns beinah beim einatmen berührten. Dann passierte das Unmögliche: In meiner ganzen Wut und voller Rage, legten sich meine Hände in ihren Nacken, zogen sie endgültig zu mir ran. Meine Lippen trafen hart auf ihre. Ich küsste meine Schwester.


Forbidden Touch (TNM-#0.5)حيث تعيش القصص. اكتشف الآن