Ich fühl was, was du nicht fühlst?

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Vorab - die Entstehung von Emotionen ist ein derartig komplexer Vorgang, dass ich gar nicht versuchen möchte ihn zu erklären - ich verstehe ihn ja auch selber nicht.

Im Jahr 2006 konnte ich in einem Vortrag von Prof. Dr. Florentin Wörgötter (Computational Neuroscience Group, Georg-August-Universität Göttingen) bewundern, wie ein Roboter mit fünf Sensoren (drei Kollisionssensoren, zwei optische Sensoren) und mit nur zwei Neuronen (für »Steuern« und für »Bremsen«) innerhalb kurzer Zeit gelernt hat, kollisionsfrei zwischen Hindernissen hindurchzufahren. 

Natürlich musste man vorgeben, dass die Kollision etwas ist, was der Roboter vermeiden sollte

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Natürlich musste man vorgeben, dass die Kollision etwas ist, was der Roboter vermeiden sollte. Aber nur zwei Neuronen! Das ist Wahnsinn! Diese Neuronen verarbeiten die Signale der Sensoren und senden Steuersignale an die beiden Motoren. Dabei lernt der Roboter, in dem er die Verschaltung der Neuronen im Zusammenspiel mit den eingegangenen Signalen verändert(*1).

In einer TED Rede zeigt Michael Dickinson, welche unglaubliche Leistungen kleine Fliegen mit ihrem winzigen Gehirn vollbringen können:

Wie ungemein komplexer ist da das menschliche Gehirn? Wir sprechen hier von 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen) und 100 Billionen Schaltstellen (Synapsen) die ein neuronales Netz(*2) bilden! Welche Strukturen sind dabei vererbt bzw. genetisch bedingt? Und wie viele haben sich individuell entwickelt?

Es ist allgemein bekannt, dass »Erlebnisse« das Denken und Fühlen (und damit das ganze Leben) enorm verändern können. »Schlimme Erlebnisse« können »Wunden« hinterlassen - »schöne Erlebnisse« können uns stärken und beflügeln oder auch »alte Wunden« heilen lassen.

Seitdem wir bereits ein kleiner Zellhaufen sind, beeinflussen uns äußere Umstände, z. B. die Stresshormone der werdenden Mutter. Immer mehr zeigt sich, welch beachtlich Einfluss die »Erlebnisse«, der Eltern und die vorgeburtliche Entwicklung auf unserer späteres Leben haben. Stichwort Epigenetik. Dinge, die nicht allein auf die Geninformationen unserer DNA zurückgeführt werden können. Traumatische Erlebnisse können auf vielfältige Weisen an Nachkommen weitergegeben werden.

Sobald die ersten »Sensoren« anfangen zu arbeiten, beginnen wir zu lernen. Finnische Forscher haben 2013 nachgewiesen, dass Babys schon vor der Geburt Melodien lernen, erkennen und sie Monate lang behalten können. Dazu kommen Erfahrungen in der frühsten Kindheit, im Kindergarten, in der Schule bis hin zum hohen Alter. Sie verändern uns ständig - bewusst oder auch unbewusst. Die Aussage »Man lernt nie aus« erhält in diesem Zusammenhang eine ganz neue Bedeutung(*3). Das neuronale Netz, welches unsere Emotionen steuert, dürfte so unvorstellbar komplex (und durch individuelle »zufällige« Erlebnisse unterschiedlich »gewichtet« worden sein), dass es schlicht weg unmöglich ist, die Gefühlswelt zweier Menschen zu vergleichen. Dies geht nur näherungsweise!

Alex Todorov (Princeton) hat eine Studie gemacht: Die Gesichter politischer Kandidaten wurden nach einer Sekunde Betrachtungsdauer beurteilt. Es zeigte sich, dass dieses Urteil 70% des US-Senats-Ausgangs und zudem das Rennen um das Gouverneursamt voraussagten. Nach einer Sekunde! Und es wurden nur Bilder gezeigt! Keine Wörter, kein Wahlprogramm --- nur die Gesichter.

Wenn wir jemanden zum ersten Mal begegnen, dann kann dieser Mensch uns auch »spontan« sympathisch oder unsympathisch sein - ohne, dass er ein Wort gesagt hat oder durch eine Handlung seinen Charakter offenbart hat. Warum? Weil in den unendlichen Tiefen unseres neuronalen Netzes uns bewusste und unbewusste (unter umständen rein visuelle) Reize zu diesem Schluss führen. So wie bei der Studie mit den Gesichtern.

Es ist zwecklos zu fragen, warum wir unterschiedlich empfinden. Die uns prägenden Erlebnisse sind uns auch nur teilweise bewusst. Selbst wenn wir alle kennen würden, so gibt es innere Verarbeitungsprozesse, die wir nicht vollständig erfassen. Die Frage, warum ich jetzt genau so oder so empfinde, lässt sich individuell oft nur schwer und allgemein unmöglich beantworten. Abgesehen von einfachen Reiz-Reaktions-Emotionen (z. B. Wunde → Schmerz)... Man könnte jetzt einschränkend sagen, dass wir als Menschen doch alle zumindest bei grundlegenden Erfahrungen vergleichbare Emotionen empfinden. Ja, aber es gibt dennoch Unterschiede. Kleine, z. B. wie man im Alltag mit Misserfolgen umgeht, oder auch große, weil man doch ganz anders tickt, als die Mitmenschen. Extreme Beispiele wären Sadisten, die sich am Leid anderer erfreuen oder Masochisten, die einen Lustgewinn durch das Erleiden von Schmerz oder Demütigung erfahren.

Fußnoten:

*1: Im Prinzip läuft es darauf hinaus, dass der Roboter folgendes lernt: Wenn es an einem optischen Sensor dunkel wird, dann droht eine Kollision, die zu vermeiden ist!

*2: Ein neuronales Netz ist eine Anzahl miteinander verknüpfter Neuronen, die Nervensignale verarbeiten. Wir Menschen haben ein gewaltiges neuronales Netz. Der Vergleich hingt etwas, aber das Gehirn ist wie der Hauptprozessor eines Computers.

*3: Normalerweise wird dieses Sprichwort auf kognitive und bewusste Lernvorgänge bezogen.

Die undurchdringliche Blase (Psychologie, Kommunikation)Donde viven las historias. Descúbrelo ahora