Kapitel 1

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Ein kühler Wind fegte über das kahle Feld bis hin zu der großen Eiche auf dem Hügel und ließ die zarten,  bunten Blätter erzittern. Auch ich schauderte, als die kalte Herbstluft sacht über meine Haut strich. Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen, bis das Zittern aufhörte, dann öffnete ich sie wieder und blickte mit einem aufgeregten Funkeln in den Augen am Stamm des mächtigen Baumes hinauf. Die Eiche stand hier bereits, seit meine Familie und ich vor mittlerweile elf Jahren her gezogen waren und im Laufe der Zeit hatte sie ihre Äste immer weiter ausgebreitet, sodass sie nun einen Durchmesser von ungefähr zehn Metern erreicht hatte. Ich streckte meine Hand aus, griff nach dem nächstbesten Ast und zog mich an ihm hinauf. Da ich über die Jahre mindestens jede Woche einmal auf diesen Baum geklettert war, hatte ich schon jede Menge Erfahrung darin und brauchte so nur wenige Sekunden, bis ich die Spitze des Baumes erreicht hatte. Mit einer Sicherheit, wie wohl niemand anderes sie hätte aufweisen können, steckte ich meinen Fuß schließlich so in den Zwischenraum zweier Äste, dass ich nicht aus Versehen abrutschen konnte und drückte mich durch die letzte Blätterschicht nach oben. Der Ausblick war atemberaubend. Von hier oben konnte man das gesamte Tal überblicken. Mitten im Talkessel lag mein kleines Heimatdorf Hordington. Es war wirklich nicht groß. Keine hundert Einwohner. Aber dafür sehr idyllisch und harmonisch. Ganz besonders bei einem Sonnenuntergang wie diesem. Sobald die Sonne den Horizont berührt hatte, fiel das rote Licht ins Tal und ließ jedes Fenster aufleuchten, wie einen Stern am Nachthimmel. Ich seufzte zufrieden und ließ die letzten Strahlen der Herbstsonne auf mich herab scheinen. Wie ich solche Momente liebe, dachte ich und seufzte schwer. Zu schade, dass sie nicht ewig halten. Mit einem beinahe traurigen Blick wartete ich noch, bis die Sonne ganz hinter dem Horizont verschwunden war, kletterte dann wieder vom Baum und trat mit hängendem Kopf den Heimweg an. Zu Hause würde sicher schon mein Vater schnarchend und mit einer halbleeren Bierflasche in der Hand auf dem Sofa liegen. Wieder seufzte ich. Seitdem meine Mutter vor einem halben Jahr spurlos verschwunden war, ist mein Vater quasi dauerbetrunken. Aber ich kann es ihm auch nicht wirklich verübeln. Der Verlust von Mum hatte ihn wirklich schwer getroffen. Aber da war er nicht allein. Auch wenn er das immer behauptete.

Als ich schließlich zu Hause ankam, stand der Mond schon hoch am Himmel und die Straßenlaternen erleuchteten unsere Hausfassade. Vorsichtig trat ich an die Haustür und schloss sie auf. Im Haus brannte kein Licht, nur der Fernseher lief und zeigte irgendeine langweilige Kochshow. Auf Zehenspitzen schlich ich zu ihm und schaltete ihn mit einem Klacken aus. Bei dem Laut zuckte mein Vater auf der Couch zusammen und drehte sich stöhnend auf die Seite. Dabei verschüttete er einen Teil seines Bieres auf dem Boden. Ich seufzte und ging in die Küche, um einem Lappen zu holen, mit dem ich das Dilemma im Wohnzimmer beseitigen konnte. Nachdem ich das gemacht hatte, nahm ich meinem Vater noch die Bierflasche aus der Hand, um sicher zu gehen, dass er nicht noch mehr verschüttete und deckte ihn zu. Anschließend ging ich die Treppe hinauf in mein Zimmer, um mich selbst schlafen zu legen. Ab morgen würde eine anstrengende Zeit beginnen. Zumindest hatte das mein Dad gesagt. Mit Tante Katie ist nicht immer gut Kirschen essen. Aber was soll schon passieren?

Begabte - Götter in AusbildungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt