Kapitel 1: Erfolgschancen

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Es regnete in Strömen. Der Boden war total aufgeweicht und matschig. Schnellen Schrittes schlitterte ich in meinen Gummistiefeln über den Turnierplatz. Meine Kapuze hatte ich tief in mein Gesicht gezogen, doch gegen diese Wassermassen kam auch meine teure Regenjacke nicht an. Als ich endlich am Rande des Parcours angekommen war, zog ich die Kapuze etwas höher, um das Geschehen beobachten zu können. Heute war der Tag. Mein Tag.

Monatelang hatte ich auf diesen Tag hin gearbeitet. Ich hatte Unsummen ausgegeben, um bei einem der besten Trainer trainieren zu können. Auf mehreren Turnieren und mit einigen Siegen konnte ich die Aufmerksamkeit von Michael Schaffer auf mich ziehen. Und dann, nach endlosen Wochen des Wartens kam der erlösende Anruf: Ich war auf sein Sichtungsturnier eingeladen. Zusammen mit meinem Großvater, meiner Mutter, meiner Tante und deren Tochter hatten wir angestoßen auf den heutigen Tag und gefeiert. Meine Stute Daylight war in Topform. Nichts konnte uns aufhalten. Es war schon immer mein Traum gewesen in einem großen Sportstall meine Ausbildung zu machen. Ich wollte Springreiterin werden und mein Hobby zum Beruf machen.

Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.

"Bist du dir sicher, dass du bei diesem Wetter starten möchtest?", hörte ich meinen Großvater fragen. Ich drehte mich um, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Sofort sah ich eine Sorgenfalter auf seiner Stirn.

"Was soll ich tun, Pop? Noch so eine Chance werde ich nicht mehr bekommen."

Gerade war eine der ersten Starterinnen in der Bahn. Carly Crane. Ich hatte sie beobachtet. Sie und ihre Fuchsstute waren gut. Doch keine ernsthafte Konkurrenz für Daylight und mich. Schon beim ersten Hindernis fiel eine Stange. Ich sah mir noch fünf weitere Reiter an und musste leider feststellen, dass die Pferde auf dem aufgeweichten rutschigen Boden kaum Halt fanden. Sie rutschten und schlitterten durch den Parcours. Bisher gab es noch keinen Reiter, der sein Pferd ohne Fehler über die Hindernisse geritten hatte.

"Pop Fleming und die Enkelin Roxanne!", nahm ich plötzlich eine Stimme hinter uns wahr. Es war Michael Schaffer.

"Hallo Michael. Ziemliches Mistwetter heute, meinst du nicht?", begrüßte Pop Michael und schüttelte ihm freundschaftlich die Hand. Michael Schaffer zuckte mit den Schultern.

"Hier können die Großen ihr Talent unter Beweis stellen."

"Findest du es nicht zu riskant, ein Pferd von Daylights Kaliber als letztes starten zu lassen? Der Rasen wird bis zu Roxys Start eine einzige Rutschbahn sein."

Die Reihenfolge der Reiter war ausgelost worden. Daylight und ich waren die letzten Starter. Michael sah mich mit einer Hauch Arroganz an.

"Du musst nicht starten, Roxanne. Es liegt an dir!", meinte er und wandte sich dann ab um auf die Tribüne zu steigen. Er hätte mir auch gleich ins Gesicht sagen können, dass ich direkt mit meinem Gespann den Turnierplatz verlassen konnte. Mein Großvater sah mich fragend an.

"Nein, Pop, ich werde schon allen zeigen was Daylight kann. Es wird kein Problem für sie sein!", sagte ich entschlossen und reckte dabei mein Kinn nach vorne.

Um weiteren Diskussionen aus dem Weg zu gehen ging ich zu unserem Hänger in dem Daylight stand. Sie war eine wunderschöne großrahmige braune Stute mit einem Kämpferherz. Ich wusste, sie würde alles für mich tun, genauso wie ich alles für sie tun würde.

"Na, meine Süße! Was meinst du? Das schaffen wir doch mit links!", flüsterte ich ihr zu während ich ihre Nüstern kraulte. Zufrieden schnaubte sie und erbettelte sich eine kleine Leckerei.

"Sprung frei!", brüllte ich gegen Regen und Wind an, ehe ich auf den Steilsprung zu galoppierte und Daylight ihn fehlerfrei übersprang. Es waren noch zwei Reiter vor mir, dann war ich an der Reihe. Es gab nach wie vor noch keinen Ritt ohne Fehler. Das war wirklich Daylights und meine Chance. Ich war gerade dabei Daylight auf dem Abreiteplatz aufzuwärmen, als Pop mich zu sich rief.

"Was gibt's, Pop?", fragte ich und beugte mich zu ihm herunter. Er klopfte Daylights Hals.

"Sei vorsichtig da drin, geh kein Risiko ein!", warnte er mich und nickte in Richtung des Parcours.

"Schon gut, Daylight ist super drauf heute!", erklärte ich ihm und hörte auch schon, wie ich durch die Lautsprecher aufgerufen wurde.

In einem versammelten Galopp ritt ich in die Bahn ein. Von Rasen war hier nicht mehr viel zu erkennen, es war eine Fläche aus braunem Matsch mit bunten Hindernissen darin. Bei jedem Galoppsprung hörte ich Daylights Hufe im Matsch schmatzen. Ich hielt sie an und konzentrierte mich auf die Reihenfolge der Hindernisse. Dann galoppierte ich wieder an und steuerte auf das erste Hindernis zu. Daylight zog an, wir kamen passend, und sie drückte sich kraftvoll ab und schwebte über die bunten Stangen. Von Hindernis zu Hindernis wurden wir von dem saugenden, schmatzenden Geräusch der im Matsch versinkenden Hufe begleitet. Der Regen tropfte vorne von meinem Helm herunter und erschwerte mir die Sicht. Schon nach kurzer Zeit waren Daylights Flanken schweißnass und schaumbedeckt. Es war tierisch anstrengend für sie durch diesen Matsch zu gehen und die hohen Hindernisse zu überwinden, jeder einzelne Sprung kostete sie extrem viel Kraft, da sie ihren schweren Körper hinaus aus dem Matsch über die Hindernisse drücken musste. Nun waren es noch zwei Hindernisse und wir hätten es geschafft. Bisher waren wir ohne Fehler. Das zweitletzte Hindernis war eine Mauer. Auch hier zog Daylight an, sie stöhnte beim Absprung vor Anstrengung, doch sie überwand auch die Mauer ohne Fehler. Jetzt war es noch ein Sprung, dann hätten wir es geschafft. Ich spürte, dass Daylight am Ende ihrer Kräfte war. Es war gut, dass wir es gleich hinter uns hatten. Ich fixierte den mannshohen Doppelsprung. Mit klatschenden Galoppsprüngen näherten wir uns dem Hindernis. Daylight spitzte ihre Ohren und konzentrierte sich ganz auf den Absprung. Doch dann passierte es. Daylight drückte ihre Vorderbein vom Boden ab, im selben Moment spürte ich, wie ihr Hinterbein im Matsch wegrutschte. Doch sie dachte überhaupt nicht daran, noch eine Vollbremsung zu machen. Sie drückte sich mit dem anderen Hinterbein vom Boden ab, doch das Hindernis war zu hoch, ohne die nötige Kraft würde sie das es niemals überwinden können. Ich schrie auf, als ich die Holzstangen brechen hörte. Als nächstes spürte ich den Aufprall.

Ich war direkt neben dem zerstörten Hindernis im Matsch liegen geblieben. Panisch hob ich meinen Kopf da ich Daylight nicht neben mir sah. Als ich mich umdrehte sah ich sie ein paar Meter entfernt auf dem Boden liegen. Ich wollte schnell aufspringen und zu ihr rennen, doch ich rutschte im Matsch aus und fiel erneut hin. Als ich es endlich zu ihr geschafft hatte waren bereits Sanitäter und der Tierarzt bei ihr. Sie wälzte sich auf dem Boden und wollte aufstehen, doch ihr Bein gab immer wieder unter dem Gewicht ihres Körpers nach. Sie war über und über mit dem nassem Schlamm bedeckt.

"Nein! Nein! Daylight! Hilft ihr doch jemand!", schrie ich panisch und kniete mich neben sie. "Psst... Süße... ist ja gut, ich bin da.", weinte ich leise und streichelte dabei ihre Stirn. Endlich hörte sie auf zu zappeln.

"Oh mein Gott, Roxy!", das war mein Großvater, er kam gerade auf den Platz gerannt.

"Das Bein ist gebrochen!", sagte der Tierarzt, der ebenfalls neben Daylight im Matsch saß und ihr Bein betrachtete.

Es war wie in einem Film. Ich realisierte nicht, dass das hier gerade wirklich passierte. Wie in Trance streichelte ich weiterhin die Stirn meiner Stute, meines Lebens. Der Tierarzt redete mit Pop, dieser starrte den Tierarzt betroffen und schockiert an. Es hätten Minuten, Stunden, Tage vergehen können, ich hätte es nicht bemerkt. Es gab im Moment nur Daylight und mich. An diesem Tier hing mein Herz, ohne sie könnte ich nicht mehr leben. Erst als ich ihr gequältes Stöhnen vernahm, kam ich wieder zu mir.

"Oh nein, Oh meine Süße, es tut mir so leid. Niemals hätte ich mit dir in diesen Parcours reiten sollen!", weinte ich und streichelte unaufhörlich den Kopf meines Pferdes.

"Roxy, komm bitte, sie müssen Daylight in die Klinik bringen, sie muss aufstehen!", erklärte mir Pop vorsichtig. Widerstandslos ließ ich mich von ihm hochziehen und sah einigen Männern dabei zu, wie sie Daylight auf die Beine halfen. Sie brauchten einige Versuche, doch schließlich kam sie zitternd zum Stehen. Langsam und auf drei Beinen ließ sie sich vom Platz in einen extra tiefer gelegten Transporter führen. Drei Tierärzte operierten mehrere Stunden an Daylights Bein. Einige Tage danach sah es auch ganz gut aus. Doch die Wunde entzündete sich und Daylight wurde von Tag zu Tag schwächer. Ich verbrachte jeden Tag mehrere Stunden bei ihr in der Klinik. Ich betete und hoffte, so sehr wie ich in meinem Leben noch nie etwas gehofft hatte. Doch das Glück war nicht auf meiner Seite. Nach einer Woche und vielen Tränen gab ich sie frei. Sie hatte es nicht verdient so zu leiden. Ich ließ meine beste Freundin und Seelenverwandte gehen, und blieb allein zurück auf dieser gottverdammten ungerechten Welt.

Mein weiter Weg zurückWhere stories live. Discover now