Kapitel 6: Flucht vor dem Feind und zwei Chaoten

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Nach dem Essen ging ich in mein Zimmer um mich für die Stallarbeit umzuziehen. Doch als ich einen Streit zwischen Leo und Mrs. Hollingworth hörte blieb ich automatisch stehen. Ich wollte die beiden wirklich nicht belauschen, doch als mein Name fiel konnte ich überhaupt nicht anders. "Was habt ihr nur mit ihr? Sie wohnt bei uns im Haus? Mom, sie ist eine Angestellte!", schrie Leo wütend. "Leo, bitte. Du bist das ganze Jahr nicht zuhause, dann kann es dich doch kaum stören, dass sie hier bei uns lebt." "Doch, Mom, das tut es sehr wohl.", zischte Leo. Dann trat er plötzlich aus dem Zimmer. Wie vom Donner gerührt starrte ich ihn an. Natürlich hatte er sofort bemerkt, dass ich sie gehört hatte. "Was stehst du hier rum? Mach dich nützlich!", sagte Leo zu mir als er an mir vorbei ging. Ja, ich war hier vielleicht Angestellte, eines war jedoch auch klar, das würde ich mir nicht mehr lange gefallen lassen. Schnell ging ich in mein Zimmer und zog mir alte Jeans und ein Shirt über. Dann ging ich in den Stall und begann damit, die Boxen auszumisten. "Hey, ich bin Josh! Schön, dass wir uns endlich mal kennenlernen.", hörte ich plötzlich eine Stimme. Als ich mich umdrehte sah ich in die grünen Augen eines blonden Kerls. Er trug Gummistiefel und hatte ebenfalls eine Mistgabel in der Hand. "Roxy.", sagte ich lächelnd und schlug in seine ausgestreckte Hand ein. "Du wurdest hier also ursprünglich als Putze eingestellt?", fragte er neugierig. Ich nickte schlicht. "Wie kommt es, dass du bei den Hollingworths im Haupthaus wohnen darfst? Kennst du sie?" Wieso war es denn so ein Thema, dass ich im Haus wohnte? "Nein, wieso denn?", fragte ich und zeigte meine Verwirrung offen. "Naja, wir wohnen dort drüben, bei den Koppeln.", er nickte mit dem Kopf in eine Richtung. "Bei den Koppeln?", fragte ich. Dort hatte ich mich noch überhaupt nicht umgesehen. "Ja, Luke und ich. Wir haben da eine kleine Hütte. Auch unsere Vorgänger haben dort gewohnt. Im Haupthaus wohnen eigentlich keine Angestellten.", erklärte er mir. Der Gedanke ebenfalls in der Hütte zu wohnen gefiel mir. Dann wäre ich nicht mehr in Leos Nähe und er müsste sich nicht mehr so furchtbar über meine Anwesenheit ärgern.

Nachdem ich alle Boxen ausgemistet hatte, suchte ich sofort Richard. Er war in der Reithalle und gab einer Schülerin Reitunterricht. "Richard, kann ich dich kurz sprechen?", sagte ich schnell als er den Unterricht beendet hatte. Lächelnd nickte er. "Ich habe heute Morgen mitbekommen wie sehr Leo sich darüber aufgeregt hat, dass ich bei euch im Haus wohne. Wenn es für dich ok wäre, würde ich ganz gerne zu Josh und Luke umziehen.", sagte ich schnell und sah ihn nun abwartend an. "Nimm Leo nicht so ernst. Er ist sowieso bald wieder weg." "Nein, ich möchte nicht anders behandelt werden als die anderen Angestellten." "Roxy, bist du dir sicher, dass du mit zwei Jungs in einer Hütte leben willst? Josh und Luke sind Chaoten." Ich lachte auf. "Keine Sorge, mit Chaoten komm ich klar!" "Ich bin wirklich nicht begeistert davon, doch wenn du unbedingt möchtest werde ich dich nicht davon abhalten." "Danke, Richard.", sagte ich und ging dann zum Haupthaus um meine Sachen zu holen. Schnell schmiss ich meine Klamotten in den Koffer und zog dann die Schlafzimmertür hinter mir zu. "Wohin gehst du?", hörte ich plötzlich Leos Stimme hinter mir. "Ich ziehe aus.", sagte ich kühl und musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. "Warum?", seine Stimme klang nicht weniger kühl. "Weil ich keine Lust habe mit einem verwöhnten, eingebildeten und reichen Pinkel wie dir unter einem Dach zu wohnen!", gab ich bissig zurück und reckte dabei kampflustig mein Kinn nach vorne. Leo dagegen zuckte nur mit den Schultern.  "Dann verzieh dich doch!", sagte er und wollte gerade an mir vorbei laufen. "Ja, das mache ich jetzt auch!" "Schön, Tschüss dann." "Ja, Tschüss!", dieser Kerl würde noch dafür sorgen, dass ich vor lauter Wut überschnappen würde. Ich rempelte ihn grob mit meinem Koffer an ehe ich die Treppen nach unten ging und das Haus verließ.

 "Hey Leute! Ich wohne jetzt bei euch!", sagte ich als ich die Hütte von Josh und Luke betreten hatte. Die beiden saßen auf einem Sofa und schauten fern.  "Hi Roxy. Hast du dich schlecht benommen und bist geflogen oder was?", lachte Josh und stand auf um mir meinen Koffer abzunehmen. "Nein, ich konnte nur einfach den Sohn der Hollingworths nicht ertragen.", sagte ich und grinste Josh dabei an. "Hi, ich bin Luke!", stellte sich nun der braunhaarige Kerl vor. Ihn hatte ich bisher auf dem Hof noch überhaupt nicht gesehen. Das Gelände war ja auch groß genug, da musste man sich ja nicht zwangsläufig über den Weg laufen. "Du kannst da hinten in dem Zimmer schlafen. Das ist gerade sowieso frei.", erklärte Josh und öffnete eine Tür. "Perfekt, Dankeschön!", sagte ich und trat ein. Hier gab es alles, was ich brauchte, ein Bett, einen Schrank und ein kleiner Tisch. Das reichte mir völlig aus. "Leo also, hm?", sagte Luke vielsagend und musterte mich prüfend. Meine Miene verdunkelte sich und ich nickte. "Er war schon immer so ein Arsch. Dem haben Mami und Papi zu viel Goldpuder in den Arsch geblasen!", Luke grinste mich an und ich musste lachen. Doch ich musste zugeben, wo Luke recht hatte, hatte er recht. "Übrigens ist es echt geil, dass wir jetzt ne Frau im Haus haben.", begann Josh. Fragend zog ich meine Augenbrauen hoch. "Na, du kannst jetzt immer kochen. Bei uns gab es eigentlich immer nur Pizza!" Luke und Josh brachen in schallendes Gelächter aus und gaben sich ein High-Five. "Träumt mal weiter Jungs!", sagte ich augenverdrehend und verschwand in meinem Zimmer um den Koffer wieder auszupacken.

 Josh und Luke hatten sich schnell damit arrangiert, dass ich jetzt bei ihnen lebte. Die beiden waren wirklich schwer in Ordnung. Es war zwar anstrengend, sich mit zwei Kerlen das Bad zu teilen doch es war mir lieber als unter einem Dach mit Leo zu wohnen. Tagsüber erledigten wir gemeinsam die Stallarbeit. Luke ritt einige der Pferde während Josh, ebenso wie ich, auf dem Boden blieb. Mit dem Kochen wechselten wir uns ab. Wenn Luke oder Josh kochten gab es Pizza. Doch das störte mich überhaupt nicht, ich war nicht anspruchsvoll. Natürlich hatten auch sie mich direkt am zweiten Abend gefragt, ob ich nicht reiten würde. Doch auch ihnen hatte ich nichts verraten. Es sollte hier einfach keiner wissen. Danielle war etwas sauer auf mich gewesen, dass ich Hals über Kopf ohne ihr etwas zu sagen einfach ausgezogen war. Doch nach drei Tagen hatte sie sich wieder eingekriegt und verhielt sich mir gegenüber wie immer. Leo ging ich so gut es ging aus dem Weg. Da er sich sowieso nicht in den Ställen aufhielt war dies auch kein Problem. Er war die meiste Zeit unterwegs. Immer erst spät abends hörte ich sein Auto die Auffahrt hinauffahren. Ich schaute jeden Tag bei Embassy vorbei um sie zu misten und zu füttern. Anfangs stand sie immer mit angelegten Ohren in ihrer Box während ich sauber machte. Doch inzwischen hatte sie sich an mich gewöhnt und schaute mir aufmerksam dabei zu wie ich mein Lied summend ihre Box ausmistete. Jeden Tag, wenn ich damit fertig war, ging ich zu ihr und streichelte sie eine Weile. Anfangs hatte sie das überhaupt nicht gut gefunden, doch inzwischen ließ sie es zu und stand still. Seitdem ich in der Hütte wohnte hatte ich Richard kaum noch gesehen. Tagsüber war er meist unterwegs und da wir nicht mehr zusammen aßen bekam ich auch nicht mehr mit, was auf dem Hof los war. Ich wusste nicht einmal, was Graces Eltern wegen Embassy gesagt hatten. Die Stute stand noch immer hier, also war sie jedenfalls noch nicht verkauft worden. Zwei Wochen nach dem Turnier, an dem Grace gestürzt war, tauchte sie im Stall auf. Sie sah noch etwas blass um die Nasenspitze aus, hatte jedoch ihren alten Ihr-könnt-mir-alle-nichts-denn-ich-bin-so-toll-Gesichtsausdruck aufgesetzt. Ich war gerade dabei zusammen mit Luke den Hof zu fegen als ihr teurer Porsche die Einfahrt hochgefahren kam. Sie parkte ihn neben den Stallungen und stieg aus. Mrs. Hollinworth führte gerade eines der Verkaufspferde aus der Reithalle über den Hof. Sogar nach dem Reiten sahen ihre Stiefel wie frisch poliert aus. Ich schwor, dass ich herausfinden würde, wie sie das machte. Hatte sie etwa ein Poliertuch in ihrer Hosentasche? "Grace, wie schön dich zu sehen. Geht es dir besser?", fragte Mrs. Hollingworth erfreut. Sie drückte ihr Pferd Luke in die Hand und umarmte Grace herzlich. "Ja, danke Carol.", antwortete Grace und folgte Mrs. Hollingworth in den großen Stalltrakt. Luke warf mir noch einen genervten Blick zu ehe er das Pferd in den Stall führte um es zu versorgen. Schnell fegte ich den letzten Rest zusammen und lief dann ebenfalls in den Stall. Ich wollte unbedingt hören über was Mrs. Hollingworth und Grace sich unterhielten. Ich machte mir am Futterwagen zu schaffen und hörte den beiden zu. "Ja, ich denke nächste Woche könnte sie abgeholt werden. Ich werde sie jedenfalls nicht mehr reiten.", erklärte Grace und trat an Embassys Box. Die Stute schnaubte nervös und verkroch sich wieder an die hintere Wand der Box. "Das halte ich für eine gute und auch vernünftige Entscheidung.", meinte Mrs. Hollingworth. "Daddy meint, einen Käufer finden wir für sie sowieso nicht mehr und mit dem Schlachtpreis ist er mehr als zufrieden."

Schlachtpreis? Sie würden die Stute vom Schlachter abholen lassen? Sie war doch höchstens sechs Jahre alt.

Mein weiter Weg zurückWhere stories live. Discover now