1 - ,,Das Opfer steht noch nicht fest."

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'The Night We Met' - Lord Huron

GRAYCEN

Der Regen tropfte aus meinen Haaren, die Welt war furchtbar still und meine Gedanken mal wieder viel zu laut.
„Nate?", fragte ich in unsere Wohnung hinein und schloss die Tür hinter mir. Als ich mir die pitschnassen Sneaker auszog und mich fragte, warum ich bei diesem Wetter hier nicht einfach immer nur mit Gummistiefeln und Regencape raus ging, kam nur Oli schwanzwedelnd auf mich zu. Der große Weimaraner schaute mich mit seinen treuen, glänzenden Augen bettelnd an und mir war fast klar, dass mein Bruder ihn mal wieder nur in den kleinen Garten hinter dem Haus gelassen hatte und nicht noch einmal mit ihm eine große Runde Spazieren gewesen war. Nathan hatte diesen Hund vor zwei Jahren einmal angeschleppt, als wir gerade hier eingezogen waren und Oli noch ein Welpe gewesen war. Wir brauchten ja unbedingt noch einen Hund und hatten nicht schon genug Schwierigkeiten, über die Runden zu kommen. Damals war ich auch noch zur Schule gegangen. Naja - dieses Problem gab es ja jetzt nicht mehr. Es war klar, dass Nate überhaupt nicht der Richtige war, um einen Hund zu halten, doch ich konnte ihm den Welpen nicht mehr ausreden. Und wer war es dann, der Hundefutter kaufte, Oli erzog und große Runden mit ihm spazieren ging?

„Schwesterherz!" Jetzt kam auch mein drei Jahre älterer Bruder Nate aus dem Badezimmer spaziert. „Du gehst doch heute noch mit Oli raus, oder?" Er nahm sich nicht einmal die Zeit, mich bei der Bitte anzusehen, geschweige denn zu lächeln. Stattdessen griff er nach seiner Lederjacke, die an der Garderobe neben mir hing.

„Nein, Nathan! Ich muss arbeiten, schon vergessen?"

„Ach stimmt - die kleine Graycen hat ja jetzt einen richtigen Job." Er gab dem Wort richtig so einen ironischen Tonfall, weil er nicht meine Meinung teilte, dass die Arbeit in einem Club zu richtigen Jobs gehörte. Außerdem hielt er nicht viel von jenen.

„Besser als zu versuchen, über irgendwelche krummen Geschäfte Kohle zu bekommen und dabei fast im Gefängnis zu landen! Ich habe übrigens noch nicht wirklich einen Erfolg deiner Aktionen erkennen können."

„Hab Vertrauen, Schwesterherz, hab Vertrauen." Ich hasste es, wenn er mich so nannte und das tat er ständig. Dabei meinte er es nicht einmal so.

Wütend schnaubte ich. „Vertrauen muss man sich verdammt noch mal verdienen. Und wie gesagt, ich muss bis zwölf arbeiten. Also sieh zu, wie du das mit Oli regelst!"

„Ich hab leider Termine, Oli", sagte er zu seinem Hund. „und die sind wichtiger als du." Meine Wut erreichte ihren Höhepunkt, als er sich daraufhin abwandte und zur Tür hinaus entschwand.

"Du bist so ein Arschloch, Nathaniel Duvereux!", brüllte ich ihm hinterher, doch ich bezweifelte, dass er es gehört hatte. Und wenn doch, dann war es ihm wohl völlig schnuppe.
Mein Bruder hatte schon immer ein viel zu großes Talent, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Mit 17 hatte ihn das sogar schon einmal ein halbes Jahr Jugendknast gekostet. Doch jetzt - mit 21 - schien er auch nicht viel aus seinen Fehlern gelernt zu haben. Es schien einfach nicht in sein Erbsenhirn hinein zu gehen, dass Geld nicht einfach so auf einen zuflog, sondern verdient werden musste. Seine Aktionen, die von Wetten über verbotene Autorennen vermutlich auch bis zu Diebstahl reichten, scheiterten nicht immer. Aber irgendwo gab es meistens Schulden oder Leute, bei denen doch noch eine Rechnung offen war.

Eigentlich war Nate Künstler. Seine Bilder verkauften sich wirklich großartig, ich musste schon sagen...
Es war gar nicht so, dass seine Kunst schlecht war, nein, malen konnte er wirklich wunderschön. Nur brauchte man als freischaffender Künstler erst einmal einen Namen und sich den zu machen, war schwer.

Oli schaute mich immer noch bettelnd mit riesigen Augen an. "Oh, es tut mir leid, Maus, aber ich brauche diesen Job. Ich brauche ihn wirklich. Sonst gibt's bald kein Futter mehr für dich."

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