12 - ,,Ich hasse diese Anstandsgala."

35 5 23
                                    

‚Heroes' – David Bowie

CASPIAN

„Wer war dieses Mädchen?", fragte meine Mutter direkt, als ich am nächsten Morgen am Frühstückstisch in der Küche erschien. Graycen hatte gestern um elf noch darauf bestanden, nach Hause zu gehen. Eigentlich wollte sie die Tube nehmen, aber ich hatte dann im Gegenzug darauf beharrt, sie nach Hause zu fahren. Sie war sehr still gewesen gestern Abend, ich hatte gemerkt, dass sie etwas beschäftigte, aber auch, dass sie es lieber für sich behalten wollte.

„Hab ich dir doch erzählt. Sie heißt Gray und wir sind seit kurzem befreundet. Warum warst du gestern so... komisch?" Ich sprach von dem Moment, als Gray an der Tür erschienen war und der Blick meiner Mutter geradezu Geschütze aus Eis aufgefahren hatte.
„Sie stört uns um acht Uhr abends noch und tut dann als völlig Fremde so, als wäre sie hier zu Hause. Hätte ich sie umarmen und ihr ein Käsesandwich machen sollen?"
„Also bitte, Mum. Sie hat nicht so getan, als wäre sie hier zu Hause, sondern hat sich ganz normal wie ein Gast verhalten. Und dass sie so spät noch kam, war meine Idee." Letzteres stimmte nicht ganz, aber ich hatte ihrem Vorschlag bereitwillig zugestimmt.
„Ich mag sie nicht. Und vertrauen tue ich ihr erst recht nicht."
Ich verdrehte die Augen. Das war so typisch. „Und mit welcher Begründung? Du hast sie doch gar nicht kennengelernt."
„Hast du dir ihre Klamotten angeschaut? Und ihren Blick wie sie unser ja doch eher bescheidenes Haus angestarrt hat? Weißt du überhaupt, wo sie herkommt?"
„Was spielt das für eine Rolle?" Langsam wurde ich genervt. Ich kannte es von meiner Mutter schon, dass sie Fremde nicht mit offenen Armen begrüßte. Und auch, dass sie es genoss, ihre Nase hoch zu tragen.
„Caspian, Schatz, du kennst sie doch gar nicht richtig. Dieses Mädchen könnte dich sonst wie ausnutzen. Sie könnte uns beklauen oder-"
„Hör auf!", unterbrach ich sie scharf. „Du hast kein Recht, so über sie zu reden. Ja, ich kenne sie kaum. Aber ich weiß, dass sie nie jemanden ausnutzen würde und dass ihr das Wohl von anderen sehr am Herzen liegt. Und mir ist wirklich scheißegal, wo sie herkommt oder wie viel Geld ihre Eltern haben oder was sie für Schuhe trägt!"

Sie machte mich wütend. Ich versuchte es herunterzuschlucken, weil ich keinen Riesenstreit anzetteln wollte und weil ich wusste, dass sie auch anders sein konnte. Zumindest versuchte ich mir das einzureden. Ihr lag das Wohl ihrer Kinder sehr am Herzen. Und sie stellte auch alle anderen immer über sich selbst - vorausgesetzt, man verkehrte in den gleichen Kreisen wie sie. Aber manchmal stellte sie sich auch so hin, als wäre sie Mutter Teresa, mindestens. Vielleicht glaubte sie sich das sogar, aber, wenn man sie richtig kannte, wusste man, dass es nicht ganz stimmte. Natürlich war sie nachsichtig, liebevoll und freundlich. Aber nur, wenn man ihren Voraussetzungen entsprach. Wenn nicht, dann konnte sie unglaublich kalt, herrisch und arrogant sein. Ich verstand nicht, wie sie glauben konnte, dass manche Menschen ‚besser' waren als andere, nur, weil sie eine 1-A-Erziehung genossen hatten oder wirklich viel Kohle verdienten. Manchmal fragte ich mich, wie das zu ihrer anderen, netten Seite passte.

Mein Vater war da ganz anders gewesen: Charismatisch, ehrlich und lebhaft. Während meine Mutter ihre Nachmittage gern auf dem Sofa oder im Garten verbrachte, hatte er mich und meine Schwester mitgenommen auf Klettertouren oder Campingausflüge. Er hatte viel gelacht und ich hatte immer wieder dieses Bild im Kopf wie er Flory in seinen starken Armen durch die Luft wirbelte. Es war unglaublich ungerecht, dass diese Krankheit ausgerechnet ihn mitten aus dem Leben reißen musste. Er hatte Leukämie gehabt. Seit seinem Tod war meine Mutter nicht mehr dieselbe. Sie ging noch weniger raus als vorher schon und sah alles viel strenger.

Unsere Gespräche endeten so oft in Streit, dass ich nicht mehr zählte. Ich wusste, dass das natürlich nicht nur an ihr lag. Vielmehr daran, dass ich nicht mehr wusste, was ich mit ihr anfangen sollte. Ich war mit so vielen ihrer Handlungen und Denkweisen nicht einverstanden, dass mich schon die kleinste Uneinigkeit sauer machte. Und es war schwer, das immer herunterzuschlucken. Am Anfang, kurz nach Dads Tod vor einem Jahr, hatten wir uns gegenseitig wie rohe Eier behandelt. Aber im Gegensatz zu ihr war ich jetzt darüber hinweg. Ich vermisste ihn und der Schmerz würde nie ganz verschwinden, aber ich lebte wieder. Sie existierte nur, hatte ich das Gefühl. Sie war hinter einer Wand gefangen, ließ niemanden an sich heran und hatte jeglichen Spaß verloren. Ich wollte ihr helfen, ich wollte für sie da sein, aber ich wusste mittlerweile nicht mehr wie. Und das machte mich auch noch sauer auf mich selbst. Wenn ich hier in diesem Haus, bei meiner Familie war, dann war es immer ein bisschen, als wäre ich plötzlich in einer Welt, die sich langsamer drehte als der restliche Planet, eine Welt, die mit der Lautstärke da draußen nichts zu tun hatte, eine Welt, in der alle in Watte gepackt waren, damit sie nicht an den Problemen aneckten.

Just A Serious PlayWhere stories live. Discover now