5 - „Es ist wohl doch eine sehr romantische Beziehung."

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'Chasing Pavements' - Adele

GRAYCEN

Der Zeiger meiner Armbanduhr rückte auf die zwölf und kündigte endgültig meinen Feierabend an. An normalen Tagen hätte ich mich darüber gefreut, dass ich schon um Mitternacht gehen konnte, doch heute war Freitag. Caspian-Freitag. Und er war nicht aufgetaucht. Schon seit einer ganzen Weile hatte ich unauffällig Ausschau in der Menge gehalten, doch ich hatte ihn nicht entdecken können. Eigentlich war ich viel zu stolz, um mir einzugestehen, dass mich das tatsächlich enttäuschte, aber die kleine Faust, die mir in den Magen boxte, spürte ich trotzdem. Warum? Hatte er es vergessen? Hatte ich ihn mit meiner Art vertrieben? Aber außer meinem Wutausbruch hatte er ja noch nicht so viel von mir kennengelernt. Also konnte ich ihn ja auch nicht abgeschreckt haben.

Ich sollte verdammt noch mal aufhören mir so gigantisch viele Gedanken zu machen! Caspian war doch total unwichtig. Vor zwei Wochen hatte ich ihm quasi ins Gesicht gesagt, dass ich ihn nicht kennenlernen wollte und heute sehnte ich mich danach. Ich war so normal wie ein sprechender Kuchen.

Aber es hatte mich beeindruckt, dass er wiedergekommen war und ihm meine unbegründete Aggressivität egal gewesen war.

Was soll's - er war nicht hier und ich brauchte ihn nicht. Bis ich endlich mein Zeug aus dem Spind geholt hatte und über den Hinterhof nach draußen kam, hatte ich es geschafft, mir einzureden, dass es so doch besser war und dass ich mich ja nicht noch mehr von ihm enttäuschen lassen sollte. Ich brauchte ihn nicht. Punkt.

Er stand da. Im Schatten der Mauer gegenüber des Clubs. Halb wie ein Geist, halb unsichtbar. Gekleidet in ein Sweatshirt und eine Jeansjacke, den Rücken an die schmutzigen Ziegel gelehnt.
Mit bestimmten Schritten ging ich auf ihn zu. „Hey."
Er hob den Kopf und ich wartete auf das Lächeln. Es war höchstens ein Mundwinkelzucken. Er sah müde aus. Oder... traurig. Ich konnte es nicht unterscheiden. Sollte ich ihn fragen? Aber warum sollte er mit mir reden wollen? Einer völlig Fremden.
„Hallo. Wollen wir gehen?", fragte er und ich nickte.
Es herrschte plötzlich wieder diese Stille, die schon beim ersten Mal geherrscht hatte. Mir wurde bewusst, dass er sie diesmal nicht brechen würde. Auch wenn ich eigentlich gerne schwieg, hielt ich es plötzlich nicht mehr aus.
„Was ist los, Caspian?"
„Hm?"
„Letzte Woche hast du geredet wie ein Wasserfall und ich bin mir auch ziemlich sicher, dass das so deine Art ist und heute hast du noch nicht mal fünf Worte zu mir gesagt. Ganz zu schweigen davon, dass du ziemlich scheiße aussiehst." Das stimmte nicht. Er sah immer gut aus, egal ob müde oder traurig. Aber nicht auf diese Sixpack-markanter-Kiefer-Dolchblick-Art sondern auf die nette Art. Nicht übermäßig gutaussehend, sondern eigensinnig gutaussehend. Mit zerzausten, dunkelblonden Haaren, an den Wangen leicht geröteter, von einigen Muttermahlen übersäter Haut, funkelnden, braunen Augen und geschwungenen Lippen. Auf seinem Sweatshirt konnte ich das Symbol von Nirvana erkennen und er trug dieselben grünen Vans wie die letzten Wochen.
„Ach quatsch. Du übertreibst."
Ich holte tief Luft. „Ich heiße Graycen Duvereux, habe kroatische Wurzeln, bin 19 Jahre alt und ich arbeite in einem Nachtclub. Ich habe einen älteren Bruder und ich rede eigentlich nicht so gerne. Schon gar nicht mit Fremden über mich selbst. Aber - es ist ja nicht schlimm etwas über sich selbst zu erzählen." Wir merkten beide, dass ich seine Worte wiederholte. Er musste schmunzeln und ich lächelte ebenfalls.
„Was machst du gerne?"
Ich musste kurz nachdenken. „Nicht so viel. Ich gehe zur Arbeit, ich gehe nach Hause, ich sorge dafür, dass unsere Wohnung nicht verkommt-"
„Eure?"
„Mein Bruder und ich. Und Oli."
„Wer ist Oli?"
„Mein Freund", antwortete ich unschuldig.
„Ich dachte du bist eher so anti-romantische-Beziehung." Als ich in Caspians Gesicht sah, musste ich mir das Lachen wirklich verkneifen.
„Tja, so romantisch ist das gar nicht. Außer wenn wir abends im Bett kuscheln. Aber sonst... Weißt du, ich muss immer für ihn einkaufen und ihm sein Essen machen. Und er will so oft spazieren gehen, das nervt tierisch. Aber er hat so wundervolle blaue Augen und silbergraue Haare..." Ich geriet ins Schwärmen.
Caspian stutzte. „Wie alt ist er denn?"
„Zwei." Ich beschloss, ihn endlich zu erlösen. „Oli ist mein Hund!"
„Hey, du hast mich total vergackeiert!" Er verpasste mir einen leichten Schubs.
„Ich habe nur die Wahrheit gesagt. Obwohl ich das Spazierengehen eigentlich mag."
„Siehst du, das machst du gern. Silbergraue Haare, blaue Augen... Was ist das für eine Rasse?"
„Weimaraner. Eine sehr liebe Ausführung davon."
„Es ist wohl doch eine sehr romantische Beziehung."
Ich lachte. Es war angenehm mit Caspian zu reden. Er war ein bisschen wie Ruth, sie hatte denselben Humor, auch wenn sie wohl etwas direkter und pragmatischer war.

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