22 - ,,Manchmal tun Menschen komische Dinge, wenn sie den anderen mögen."

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,Liability' ~ Lorde

CASPIAN

Der Beat aus der Stereoanlage war wahrscheinlich zu laut für mein Trommelfell, aber trotzdem zu leise für meine Gedanken. Das war der Vorteil daran, dass mein Zimmer das einzige hier oben unter dem Dach war – ich konnte hier ziemlich viel machen, ohne dass es jemand mitbekam.
Dazu gehörte auch, einfach auf dem Bett zu liegen, durch das Dachfenster in den klaren Himmel zu schauen und Bon Jovi den Takt bestimmen zu lassen. Ich bekam diese Szene nicht mehr aus meinem Kopf. Wie sie dastand und dieses Arschloch küsste. Ich fragte mich, ob es besser getan hätte, wenn ich ihm in diesem Moment eine reingehauen hätte. Aber leider gehörte ich nicht zu der Art von Männern, die einfach zuschlugen. Nein, ich war einer von den Feiglingen, die sich in solchen Augenblicken umdrehten und wegliefen. Ich wusste nicht, auf wen ich sauer sein sollte. Auf ihn – das wäre die einfachste Variante, nur war ich irgendwie zu nett dafür und hatte den klaren Gedanken, dass er ja nicht wissen konnte, dass es mich gab. Dann auf sie – irgendwie war ich das tatsächlich, aber ich verstand auch unglaublich gut, dass Graycen Probleme hatte, von denen sie nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte. Die Geschichte von ihrer Kindheit hatte mich schockiert und wütend gemacht und Mitleid empfinden lassen, einen Planeten voll Mitleid, sie verdiente jedes Verständnis dieser Welt. Nein, sie war nicht kaputt, wie sie es vielleicht selbst von sich dachte, sie war wahnsinnig stark und wusste es nur nicht.
Und wir hatten ja auch keinen Vertrag, der uns verbot, andere zu küssen. Ich wusste nur nicht mehr, wie ich auf ihre Abwehr reagieren sollte. Natürlich wollte ich sie nicht belästigen oder bedrängen, und sie hatte mir eigentlich klar und deutlich gesagt, dass sie keine Beziehung wollte und danach einen anderen geküsst, aber wir hatten auch grandiosen Sex gehabt und sie hatte mir von ihrer Kindheit erzählt und das hatte sie nicht leichtfertig getan. Was, wenn sie einfach nur sich selbst im Weg stand, weil sie Angst hatte? Ich wollte ihr helfen, sie glücklich machen, aber ich wusste nicht auf welchem Weg, ohne ihr dabei zu nahe zu treten und ohne sie allein zu lassen.
Schließlich gab es noch die Variante, auf mich selbst sauer zu sein, und das traf zu. Weil ich mir selbst im Weg stand. Ich fühlte mich wie ein Stern, der sich von einem Planeten umkreist um einen Massepunkt bewegt, immer im Kreis, und in Milliarden Jahren nicht im Stande ist, mit dem Planeten zu kollidieren.

Ich zuckte zusammen, als mich plötzlich etwas an der Schulter berührte.
„Casp?" Flory schaute mich aus großen blauen Augen an. Während ich an die Decke gestarrt hatte, hatte nicht gemerkt, dass sie ins Zimmer gekommen war und sich neben meinem Bett auf den Fußboden gehockt hatte. Ich setzte mich aufrecht hin und schnell ein freundlicheres Gesicht auf. Dann stand ich auf und stellte die Musik ab.
„Was ist denn los?", fragte ich.
„Ähm..." Die Rothaarige schien zu überlegen, was sie sagen sollte (was so gut wie nie vorkam). „Weißt du noch, dass ich dir mal von Christopher erzählt habe?" Das hatte sie erst gestern getan, wobei ich ihr nicht wirklich zugehört hatte, aber ich erinnerte mich an eine Geschichte von vor ein paar Tagen.
„Der Junge, der dich immer beim Fußball geärgert hat?"
„Genau der, aber er hat es nicht böse gemeint, hat er gesagt, und er hat gesagt, dass er mich mutig findet. Und dann habe ich ihn gefragt, ob er mein Freund sein will, aber er hat gesagt, dass er es blöde findet, mit Mädchen befreundet zu sein und... ich will aber gerne, dass er mein Freund ist. Mir hat noch kein Mädchen gesagt, dass ich mutig bin. Ich find' ihn ziemlich cool." Sie seufzte laut. Hatte meine siebenjährige Schwester gerade Gefühlsprobleme? Ich meine, mir war bewusst, dass sie später mal alle Blicke auf sich ziehen würde mit ihrem Schmollmund, den kupferfarbenen Locken und der Stupsnase, zumal sie auch noch jeden mit ihrer großen Klappe und ihrer Ehrlichkeit beeindrucken würde, aber dass sie jetzt schon damit anfing...
„Dann sag ihm das doch einfach", schlug ich vor. Ich war wirklich das beste Vorbild für diese Diskussion.
„Aber hab' ich doch schon! Er findet mich doof, aber er findet mich mutig – wie soll man das verstehen?"
„Weißt du, manchmal tun Menschen komische Dinge, wenn sie den anderen mögen. Dann trauen sie sich vielleicht aber einfach nicht, das zuzugeben, weil sie Angst haben, dass sie dann von dem anderen oder ihren Freunden komisch angeguckt werden.", erklärte ich. „Oder, weil die Situation einfach neu für sie ist."
„Merkwürdige Leute, diese Menschen. Und was mache ich dann jetzt?"
Ich überlegte.
„Vielleicht kannst du ihm ja irgendwie zeigen, dass es wirklich cool ist, mit dir befreundet zu sein?"
Sie dachte nach, das sah ich ihr an, und sie fand den Vorschlag gar nicht so doof.
„Und wie?"
„Na, du könntest zum Beispiel etwas mit ihm zusammen machen, dann merkt er, wie toll du bist. Zeit verbringen ist immer wichtig für eine Freundschaft." Okay, das Letzte hatte ich eigentlich mal in Bezug auf Beziehungen gehört, aber es traf bestimmt auch so zu.
„Und ich schreib ihm einen Brief! Ich wollte schon immer einen Brief schreiben..." Plötzlich strahlte sie wieder wie immer. Ich hoffte, sie würde noch lange so sorglos bleiben können.
„Kannst du den dann mal lesen?", fragte sie und sprang auf.
Ich lächelte. „Klar."
Sie streckte mir eine Ghettofaust entgegen und ich schlug ein. Dann verschwand sie wieder aus dem Zimmer. Ich stand auf und schloss die Tür hinter ihr, ging zurück in den Raum und setzte mich immer noch nachdenklich auf meinen drehbaren Schreibtischstuhl. Vielleicht sollte ich anfangen, auf meine eigenen Ratschläge zu hören. Trotzdem – sie hatte Nein gesagt und ich wollte mich ihr nicht aufdrängen. Aber ich will sie nicht loslassen. Nicht ohne alles versucht zu haben. Es sollte nicht so zu Ende sein. Dafür war viel zu viel passiert, wir hatten zu viel erlebt und zu viel miteinander geteilt. Sie war nicht einfach irgendeine Frau. Sie war die Frau, in die ich mich verliebt hatte. Mir schnürte es die Kehle zu bei dem Gedanken, es könnte jetzt vorbei sein; ich war kein Stern, ich spürte kein Leuchten, keine Energie.

Aber ich musste es noch einmal versuchen. Graycen würde wissen, dass ich sie nicht sexuell belästigen wollte, sondern, dass ich sie einfach nicht aufgeben wollte. Und ich musste es irgendwie unaufdringlich machen. Ich musste ihr einen Brief schreiben.

***

Die Treppe knarrte, als ich nach unten ging, den Brief in der Hand, bereit, ihn in Camden in den Briefkasten zu werfen. Ich hoffte, er war gut, mit der richtigen Balance. Tatsächlich hatte ich die letzten zwei Stunden damit verbracht, daran zu feilen, und Satz um Satz wieder durchgestrichen und neu geschrieben. Wen überraschte es, Deutsch war nicht mein bestes Fach gewesen.
Ich fühlte mich erleichtert, etwas tun zu können, denn die Wände dieses Hauses schienen die ganze Zeit auf mich zuzukommen und mich mit Erinnerungen, Fragen und Problemen erdrücken zu wollen.

Ich zog mir im Flur eine dünne Jacke an und ging dann noch mal ins Wohnzimmer, um meiner Mutter Bescheid zu sagen, dass ich wegging. Die Tür zum Garten hinter dem Haus stand auf; Mama saß auf der Hollywoodschaukel und las eine Gartenzeitschrift, so wie ich es mir gedacht hatte. Ich setzte mich neben sie. Sie blickte nicht auf, schließlich wusste sie, dass ich es war und dass ich nur gekommen war, um ihr etwas zu sagen.
„Ich bin heute Abend nicht zu Hause."
„Wo willst du hin?"
„Zum Radiosender, die letzte Schicht für heute übernehmen." Von dem Brief sagte ich lieber nichts, sie hatte ja keine besonders gute Meinung von Gray, da wollte ich ihr das nicht unter die Nase reiben.
Jetzt hob sie den Kopf und blickte mir entgegen. Flory hatte die blauen Augen von meiner Mutter, aber diese hier strahlten nicht so sehr.
„Du hast morgen Uni!", sagte sie entrüstet.
Ich zuckte nur mit den Schultern. Wenn mich etwas beschäftigte, wurde ich gleichgültig für alles, worauf ich keine Lust hatte. Meine Mutter und die Uni gehörten gerade beide dazu. Erstere wegen ihrer ewigen Ernsthaftigkeit und Strenge, weil sie nie locker und ich nie offen sein konnte ihr gegenüber, vielleicht, weil ich ihre Reaktionen meist nicht mochte und sie trotzdem irgendwie liebte, weil sie meine Mama war und weil ich sie verstehen konnte wie jeden Menschen auf der Welt.
„Na und?"
„Ich möchte, dass du dieses Studium mit einem guten Abschluss machst, Caspian. Damit du noch eine Möglichkeit hast neben dem Radiosender."
Am liebsten hätte ich ihr ins Gesicht gesagt, dass ich dieses Studium nicht wollte und dass der Sender mein Traum war und sie da nicht mitzureden hatte. Aber dann sah ich in ihren Augen hinter der Kälte die Liebe und den Schmerz. Sie wollte wirklich nur das Beste. Und ich hatte nichts mitzureden dabei, wie sie mit dem Tod meines Vaters umging. Es war nur noch etwas über ein Jahr bis zum Abschluss, bis ich endlich die Hand nach diesem Traum ausstrecken konnte, den mein Vater in meinem Herzen gesät hatte, als ich zwölf war.
„Ich weiß.", zwang ich mich mit einem sanften Lächeln zu sagen. „Trotzdem, ich muss heute einfach mal raus und mich ablenken."

~1538 Wörter

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