9 - ,,Er ist ein Freund. Wenn überhaupt."

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‚Dinner and Diatribes' – Hozier

GRAYCEN

„AH!"

Erschrocken fuhr ich hoch. Ich war vor ein paar Minuten aufgewacht und hatte entschieden, noch ein wenig weiter zu schlafen bis dieser Schrei vermutlich die ganze Nachbarschaft geweckt hatte. Es war ein Schrei von der Sorte ‚Hoch und Laut – heute im Doppelpack zum halben Preis'.
Bevor ich der Sache auf den Grund gehen konnte (Mein Kopf malte sich schon die schlimmsten Szenarien aus), wurde die Tür aufgerissen und Ruth kam herein, bekleidet mit einem Handtuch, die nassen Haare zu einem Dutt hoch gebunden. Sie schlug die Tür hinter sich zu und ließ sich dagegen sinken. Gestern war sie mit mir in den Club gekommen und hatte sich nach Ende meiner Schicht wie so oft mit in meinem Bett einquartiert.

„Was ist los? Wer wurde abgestochen?", fragte ich.
Sie stutzte. „Abgestochen? Niemand. Hoffe ich..."
„Wer hat geschrien, als wäre er abgestochen worden?"
„Ich. Und so laut war das doch gar nicht. Ich habe mich nur ein winziges bisschen erschrocken."
„Wovor? Das Schreckgespenst dieses Hauses sitzt vor dir", witzelte ich.
„Vor deinem Bruder! Deinem. Nackten. Bruder."
Ich zog die Augenbrauen hoch. „Hattet ihr Sex? Also klar, er ist jetzt keine Sahneschnitte, aber dass er so schlimm aussieht..."
„Nein!" Sie ließ sich neben mir auf die Bettdecke fallen. „Wir hatten keinen Sex! Kein Sex, verstehst du, du hormongesteuertes Monster?" Ruth wedelte so heftig mit dem Kopf, dass mir schwindelig wurde.
„Ist ja gut."
„Ich war duschen. Und als ich aus dem Badezimmer komme, spaziert er durch den Flur. Nackt. Völlig nackt."
Ich fing an zu lachen. Die Vorstellung von Nathan wie er denkt, ich wäre diejenige, die da die Tür aufschließen würde, und Ruth, die ihn einen Moment nur anstarrt, dann schreit und flüchtet, war schon sehr komisch.
„Sei nicht so verkrampft, Ruth! Du hast wirklich bisher zu wenig Männer nackt gesehen", kicherte ich.
„Und du eindeutig zu viele, Gray. In einem Nachtclub zu arbeiten tut dir wirklich nicht gut."
„Kann ja nicht jeder so vorbildlich sein und eine Ausbildung zur Physiotherapeutin machen. Außerdem bin ich auf Entzug. Ich weiß nicht, was mit den Männern los ist, aber irgendwie kommt mir kein gescheiter mehr unter."
„Vielleicht, weil du alle mit deinem Caspian vergleichst?" Sie zwinkerte mir aufdringlich zu. 

Ich erinnerte mich noch lebhaft daran, wie sie die ganze Woche lang versucht hatte, mich zu überreden, ihm eine Nachricht zu schicken: Er hat dir nicht umsonst seine Nummer da gelassen, Gray. Er will, dass du ihm schreibst!
Erst hatte ich mich vehement gewehrt, doch dann hatte mich ihre Neugier dermaßen angesteckt, dass ich es Donnerstagnacht doch getan hatte. Davon wusste sie jedoch noch nichts, denn ich hatte die Zeit, wo wir nicht über Caspian gesprochen hatten, gestern wirklich genossen. Jetzt würde ich ihr wohl oder übel sagen müssen, dass ich mich nachher mit ihm treffen würde.

„Er ist nicht mein Caspian. Und... ich bin heute mit ihm verabredet."
„Was?" Ihre Augen vergrößerten sich mindestens um das Doppelte. „Du hast ihm doch geschrieben? Und er hat dich nach einem Date gefragt?"
„Das ist kein Date! Es ist vormittags. Und er will mir nur irgendetwas zeigen. Warte mal... Wie spät ist es eigentlich?"
Ruth suchte nach ihrem Handy. „Viertel vor elf", meinte sie, als sie es gefunden hatte. „Wann seid ihr denn verabredet?"
„Shit!" Ich sprang aus dem Bett. „In einer viertel Stunde! An der Charing Cross, das heißt ich brauche fast eine halbe Stunde, bis ich da bin."

Bevor Ruth etwas sagen konnte, war ich aus dem Zimmer geflüchtet und ins Bad geflitzt. So schnell es ging zog ich mir den Pyjama aus (diesmal Hello Kitty) und stellte mich unter die Dusche. Das Wasser war noch nicht warm, aber das war es fast nie, also war ich daran gewöhnt. Ich hätte mir wirklich einen Wecker stellen sollen. Sonst war es fast immer egal, wann ich aufwachte, deswegen hatte ich einfach nicht daran gedacht.

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