10 - ,,Ich mag windige Tage"

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‚Hold on, we're going home' – Sons of the east

CASPIAN

Die Sonne schien durch das Glasdach der U-Bahn-Station. Ich beobachtete die Menschen um mich herum. Jetzt war für Londoner Verhältnisse wenig los. In der Woche zur Rush Hour konnte man manchmal keinen Schritt tun ohne mit jemandem zusammen zu stoßen.

Eine Familie mit zwei kleinen Kindern lief an mir vorbei. Für eine Sekunde schaute ich in ihre Gesichter, dann waren sie weiter gegangen. Ich bekam mit, wie der Junge sich beschwerte, dass er seine Pokemón-Figuren nicht hatte mitnehmen dürfen. Es war ihr Universum. Die Dinge, die sie verbanden, die gemeinsamen Erlebnisse, das, was nur sie voneinander wussten, formten sich zu einer Blase, in der sie eingeschlossen waren. Ich hatte ebenfalls eine. Jeder hatte sie, manche teilten ihre mit anderen, manche behielten sie für sich.

Unsere – die der Familie und meine – hatten sich kurz überschnitten, als ich ihre Gespräche gehört und die Vorfreude in ihren Gesichtern gesehen hatte, aber das hatte nichts zu bedeuten. Es gab so viel, was nichts zu bedeuten hatte. Aber das wusste man nicht im ersten Moment. Vielleicht fand ich jetzt, dass diese Familie keine Bedeutung hatte und morgen würde meine Mutter sie zum Tee einladen und sie mir als lange verstrittene Verwandte vorstellen. Hätte ich vor ein paar Wochen – an dem Abend, an dem ich sie kennengelernt hatte - gedacht, dass Graycen kein schnell vergessener One-Night-Stand sein würde, sondern gerade dabei war, eine Freundin zu werden?

Ich hoffte, dass sie dabei war, eine zu werden. Ich kannte noch nicht viel von ihr, aber ich wollte mehr sehen, ich wollte sie kennenlernen. Sie war speziell, das hatte ich gemerkt. Das waren wir alle, und bei ihr gab es so viele Dinge, die noch keinen Sinn ergaben. So viele Kanten, an denen ich hoffte, mich nicht zu stoßen.

Mein Blick glitt von meinen Füßen wieder nach oben zum Glasdach und wieder zurück. Stopp. Am oberen Fuß der Rolltreppe zu den Gleisen stand eine junge Frau mit einer schwarzen Regenjacke, enganliegenden Jeans, die ihre langen Beine betonten und einer dunklen Mütze auf dem Kopf. Eine schöne Frau, begleitet von einem großen, schlanken Hund mit silbrig glänzendem Fell.

***

Die letzte Stunde war witzig gewesen. Es hatte Graycen großartig gefallen, einen Radiosender von innen zu betreten, wahrscheinlich hatte ich sie mit meiner Begeisterung angesteckt. Oder sie hatte nur so getan, weil ich vorher so einen Wirbel darum gemacht hatte und sie mich nicht enttäuschen wollte. Wenn, dann war sie eine sehr gute Schauspielerin.

Nachdem ich sie mit ein paar meiner Kollegen bekannt gemacht hatte, waren wir in den Aufnahmeraum gegangen, ich hatte ihr Kopfhörer in die Hand gedrückt und auch mir selbst welche aufgesetzt. Steve war gerade wieder auf Sendung gewesen, wir hatten ihn kurz abgelöst damit er Mittagspause machen konnte. Nach den 12-Uhr-Nachrichten hatte ich Graycen, die alles wahnsinnig spannend fand, gefragt, ob sie sich einen Song wünschen wollte. Zuerst wollte sie es nicht glauben, dass ich es ernst meinte. Und plötzlich fing sie an Bedingungen zu stellen: „Aber nur, wenn ich diesen Song ansagen darf!" Dann hatte sie die Arme vor der Brust verschränkt und mich angeschaut wie ein Kind, das genau eine bestimmte Barbiepuppe haben wollte. Gott, dieses Mädchen war manchmal so unglaublich kindisch.

Sie hatte sich „We don't need each other" von Marthagunn gewünscht. Ich hatte die Band bisher nicht gekannt, aber ich war sehr froh, dass Gray mir dieses Lied gezeigt hatte. Die Frontsängerin hatte eine geniale Stimme und der Gitarrist konnte mit seiner E-Gitarre wirklich umgehen. Ich liebte ja sowieso alles, was mit Rock zu tun hatte und das war... Richtig gut.

Wir waren noch eine Weile da geblieben und hatten uns gegenseitig Songs gezeigt, die wir gut fanden, und sie ganz London hören lassen.

Jetzt – fast eine Stunde später und wieder an der frischen Luft – überlegte ich, ob wir uns verabschieden sollten oder ob ich Graycen noch zum Essen einladen sollte. Sie lächelte mich von unten herauf an. Auch wenn sie nicht klein war, war ich trotzdem noch größer als sie. Dann setzte sie dazu an, etwas zu sagen, doch sie wurde unterbrochen. Von einem lauten Knurren. Und das stammte nicht von Oli, der die ganze Zeit über ganz brav unter Graycens Stuhl gelegen hatte und uns jetzt mit seinen hellen Augen beobachtete.

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