4. Abschied

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Thomas wartete schon auf uns. Als ich die Tür zum Korridor öffnete, drehte er sich um, sah, dass ich Newt bei mir hatte und nickte, als hätte er damit gerechnet.
Schweigend schlichen wir die dunklen Korridore entlang, zu den Gedächtniskammern, wo Gally in einem Nebenzimmer untergebracht war. Ich machte mir kurzzeitig Gedanken, was passieren würde, wenn wir erwischt wurden, verdrängte diese dann aber, da ich ganz andere Sachen im Kopf hatte.
Als Thomas vor einer unscheinbaren Tür stehen blieb, biss ich mir auf die Unterlippe. Ich war nervös, hatte Angst vor Gallys Reaktion und vor allem vor dem Abschied. Aber da musste ich jetzt durch. Ich musste meinen besten Freund noch ein letztes Mal sehen und ihn in den Arm nehmen.
„Bereit?", fragte Thomas mich und ich nickte.
Als er mich noch einmal prüfend ansah, sagte ich: „Mach schon auf, Tommy."
Und da klickte es und die Tür ging auf. Im nächsten Moment sah ich, wie etwas oder viel mehr jemand sich gegen eben diese stürzte und mit einem Kampfschrei Thomas, der noch dahinter gestanden hatte, zu Boden riss.
Er begann, auf ihn einzuschlagen und schrie: „Wo ist sie, du Wichser? Wo ist sie? Ich muss sie noch einmal sehen, lass mich zu ihr!"
Newt stürzte auf die beiden Jungen zu und versuchte vergeblich, Gally von Thomas herunter zu bekommen, was ihm einen Schlag gegen die Brust einbrachte.
„Ich bin hier! Gally, ich bin hier!", rief ich und abrupt hielt er inne.
Er sah hoch, erblickte mich und ließ sofort von Thomas ab. Schnell sprang er auf und stürzte die letzten zwei Meter förmlich auf mich zu, um mich in eine stürmische Umarmung zu schließen. Ich drückte ihn an mich und vergaß kurz alles um uns herum.
Doch da spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.
„Kommt schon, wir müssen vom Gang runter, schnell, rein in das Zimmer!", zischte Thomas direkt neben mir und gemeinsam gingen wir schnell in den Raum und schlossen die Tür hinter uns.
Thomas setzte sich auf das kleine Bett in der Ecke und rieb sich das Kinn. Seine Lippe war aufgeplatzt und er sah nicht besonders gut aus. Ich sah ihn besorgt an.
„Alles in Ordnung, Tommy?", fragte ich.
Er nickte. „Schon okay, kann ihn ja verstehen. Hätte wahrscheinlich ähnlich reagiert."
Da fiel Newt mir ein. Ich sah zu ihm, der er in einer Ecke lehnte. Er winkte ab. Mit ihm schien alles gut zu sein. Also wendete ich mich wieder Gally zu.
„Gally! Es tut mir so leid, Janson hat es mir vor ein paar Tagen gesagt, aber ich wollte uns unsere letzten Tage nicht versauen. Ich konnte es dir einfach nicht sagen! Thomas hat mir geholfen dich noch einmal zu sehen, damit wir uns verabschieden können. Und Newt..." Ich wusste nicht, wie ich das nun erklären sollte.
Gally sah von mir, die er immer noch im Arm hatte, zu Thomas und dann zu Newt, der bisher noch nichts gesagt hatte. Dann nickte er langsam.
„Tut mir leid, dass ich euch eine verpasst habe. Ist meine Art. Außerdem war ich ziemlich sauer."
„Ist schon gut, nichts passiert", entgegnete Newt, an dem Gallys Blick hängen geblieben war.
„Du bist also dieser Neue? Ich hoffe, du machst meiner Kleinen keinen Ärger."
Thomas räusperte sich. „Ich will euch wirklich nicht unterbrechen, aber euch dürfte klar sein, dass das, was wir hier gerade machen, alles andere als erlaubt ist. Wir sollten nach dem Geschrei eben nicht riskieren zu lange hier zu bleiben. Tut mir wirklich leid, Anna."
Ich nickte. Ich verstand, was er meinte. Dennoch – mir fiel dieser Abschied so schwer.
„Okay, hör zu, Kleine. Du musst auf dich aufpassen. Lass dich nicht unterkriegen. Versuch nicht aufzufallen, so wie ich" – er lachte ein schiefes Lachen – „und bleib hier, wo es sicher ist. Versuch nicht ins Labyrinth zu kommen! Und du, Einstein, versprich mir, dass du alles tust, damit sie in keins dieser Dinger geschickt wird, verstanden?"
Er sah nun Thomas an. Der nickte. Er würde es nicht versprechen können, aber ich wusste, dass er alles dafür tun würde.
„Und du", jetzt sah er Newt an und plötzlich veränderte sich seine Stimme, wurde weicher, fast brüchig. „Pass auf sie auf, klar? Pass auf, dass sie ihr nichts tun."
Newt nickte. „Ich verspreche es", sagte er und seine Augen trafen meine.
Wieder spürte ich dieses Kribbeln im Bauch. Thomas stand auf und ging Richtung Tür, um zu schauen, ob die Luft rein war.
„Also gut, verabschiedet euch, wir müssen hier verschwinden. Dauert nicht mehr lange und die Nachtwache kommt."
Ich sah wieder Gally an, versuchte mir sein Gesicht einzuprägen, damit ich ihn nicht vergaß. Aber das war das kleinste Übel, ob ich vergaß, wie seine Nase aussah, oder welchen grün-Ton seine Augen hatten. Denn ich würde ihn nicht vergessen. Er würde mich vergessen.
„Gally, ich...", begann ich, wischte mir ein paar Tränen weg und fing dann noch einmal an. „Ich weiß, dass du mich vergessen wirst... aber bitte pass auf dich auf. Versuch bitte einfach, nicht zu sterben oder verletzt zu werden, ja? Halt dich ein bisschen zurück, dann werden die Anderen gut mit dir auskommen. Du bist ein toller Mensch. Und du bist mein bester Freund. Ich werde immer an dich denken. Du bist hier drin" – ich deutete auf mein Herz – „und ich bin immer bei dir – hier drin." Mit diesen Worten deutete ich auf sein Herz.
Er schluckte und ich sah, dass sein Gesicht schmerzverzerrt war. Er nickte, wischte sich ebenfalls eine Träne von der Wange und küsste mich dann auf die Stirn.
Dann nahm er mich in eine letzte, feste Umarmung und flüsterte: „Ich hab dich lieb, Kleine. Und ich werde dich nicht vergessen. Vielleicht, wie du aussiehst oder wie du riechst, aber niemals, dass es dich gibt."
Mit diesen letzten Worten, die ich garantiert niemals vergessen würde, schob er mich sanft zur Tür hinaus und ließ mich dann endgültig los.
„Ich hab dich auch lieb", flüsterte ich und stellte mich auf die Zehenspitzen um ihn auf die Wange zu küssen.
Bevor Thomas die Tür schloss, konnte ich noch einen letzten Blick auf Gally erhaschen und sah nichts als unendlichen Schmerz und Trauer in seinem Gesicht. Mein Herz fühlte sich an, als würde es zerbrechen und ich musste mich an der Wand festhalten, um nicht umzukippen. Völlig blind vor Tränen sank ich auf den Boden und schluchzte auf. Ich hörte nicht, wie Schritte in unsere Richtung kamen und auch nicht, wie Thomas fluchte und sagte, dass wir sofort verschwinden mussten. Ich nahm kaum wahr, wie mich jemand behutsam hoch hob und schnell fort trug. Ich spürte die Wärme meines Trägers und roch, dass er gut roch, aber ich verstand all das nicht. Durch den Schleier aus Tränen, der über meinen Augen lag, verstand ich nicht, dass wir gerade auf Umwegen zu unseren Zimmern liefen, auf der Flucht vor einer Nachtwache, die uns beinahe erwischt hatte.
Erst, als ich auf meinem Bett abgesetzt wurde, realisierte ich, dass es Newt war, der mich da getragen hatte und dass wir uns bereits vor einigen Korridoren von Thomas getrennt hatten. Jetzt stand Newt unschlüssig mitten in dem kleinen Raum und sah von meinem Bett zu Gallys – zu seinem. Er schien nicht zu wissen, ob er sich wieder zu mir legen sollte, wie eben, oder ob ich lieber alleine sein wollte und er sich auf sein neues Bett legen sollte.
„Newt?", fragte ich.
Er sah auf und unsere Blicke trafen sich. Der Trauerschleier, der eben noch über meinem Sichtfeld gelegen hatte, war plötzlich wie weggeblasen und ich konnte wieder klar sehen, sah seine dunklen Augen und spürte, wie mein Herz ungewollt einen Hüpfer machte und sich wieder dieses Gefühl von tausend Schmetterlingen in mir breit machte. Was passierte nur mit mir?
„Ja?", fragte er, nachdem ich geschwiegen hatte.
„Würdest du dich vielleicht zu mir legen? Ich möchte nicht alleine sein..." Ich spürte, wie ich ohne es zu wollen leicht rote Wangen bekam.
Was zum...?
Ich sah, wie Newts Augen zu leuchten begannen und fragte mich, ob er sich so fühlte wie ich. Ich war vollkommen überwältigt, so wie bei ihm hatte ich mich noch nie gefühlt. Und ich war mit so vielen Jungen aufgewachsen, hatte so viele Nächte mit Gally in diesem Zimmer verbracht, oft in einem Bett, weil wir uns noch bis spät in die Nacht unterhalten hatten, oder wir einfach nicht alleine sein wollten mit unseren stillen Gedanken. Und doch hatte ich ein derartiges Gefühl noch nie gespürt.
Er kam zu mir herüber, streifte seine Schuhe ab, legte sich neben mich und zog meine Decke über uns. Ich spürte seine Wärme und fühlte mich gleich viel besser, als er einen Arm schützend um mich legte. Vorsichtig legte ich meinen Kopf an seine Brust, schloss die Augen und hörte seinem Herzen zu.
Ich spürte, dass ich wegdämmerte, beruhigt durch seine Nähe, doch wurde plötzlich von einem Gedanken wieder wach.
„Newt?", fragte ich abermals.
„Hmm?"
„Wo kommst du eigentlich her? Wie bist du her gekommen?"
Mir war eingefallen, dass ich gar nichts über ihn wusste. Trotzdem fühlte ich mich ihm so nah.
Er zögerte kurz, begann dann aber zu sprechen. „Ich habe mit meinen Eltern und meiner kleinen Schwester in unserem Keller gelebt, um uns vor den Cranks zu verstecken. Vor ein paar Tagen kamen fremde Männer und wollten meine Schwester mitnehmen. Wollten sie angeblich retten. Sie trugen dieses WICKED-Logo und sahen alles andere als vertrauenswürdig aus. Mein Dad wollte nicht, dass sie sie mitnahmen, es war ihm nicht geheuer, dass sie nur sie mitnehmen wollten und nicht uns beide. Daraufhin haben sie Mum und Dad erschossen... und uns mitgenommen." Er stockte und ich hörte, wie er schlucken musste.
„Oh, Newt, das tut mir so leid!"
Ich wusste nicht, was ich sonst noch sagen sollte. Instinktiv schlang ich meine Arme um ihn und drückte ihn an mich. Er erwiderte die Umarmung und niemand von uns sagte mehr etwas. Wir hielten uns einfach nur in den Armen, bis wir einschliefen, beide Tränen in den Augen.
Zwei gebrochene Menschen in einer kaputten Welt, die einander festhielten, um nicht völlig zu zerbrechen.
Das war das letzte, was ich dachte, bevor ich in einen unruhigen Schlaf fiel.

From The WICKED Start | A Maze Runner Story Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt