10. Die Box

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„Und du denkst, das ist eine gute Idee?", fragte Thomas Teresa, als wir am selben Abend alle gemeinsam das Labor verließen und zum Speisesaal gingen.
Newt hatte meine Hand genommen und so liefen wir neben den anderen beiden her. Ich sah zu ihm herüber und blendete Thomas und Teresas Diskussion vollkommen aus. Ich hatte meine Entscheidung getroffen. In allem. Wie ich ihn so ansah merkte ich einmal mehr, wie viel ich für ihn empfand. Mein Herz fühlte sich in diesem Moment einfach riesig an, ein Gefühl, das man wohl nur verstand, wenn man es selber schon einmal gespürt hat. Ich wollte ihn einfach in den Arm nehmen und nicht mehr loslassen. Und ich wusste, dass ich ihn loslassen musste. Wir beide wussten es.
Noch drei Wochen und zwei Tage. Dann würden sie auch ihn holen und sein Gedächtnis löschen. Und alles was mir blieb war die Hoffnung, dass auch er sich erinnern konnte und Teresa unsere Abmachung wahr machen würde.
Und dann war da ja noch eine Sache. Würde ich mich an ihn erinnern? Würde ich mich an Gally erinnern? War ich dafür stark genug? Ich wusste es nicht.
Ich drückte Newts Hand ein wenig fester, als könnte ich ihn so für immer festhalten. Dann erreichten wir den Speisesaal. Thomas und Teresa waren sich wohl nicht einig geworden, denn sie bog vorher ab und verschwand in Richtung Schlafräume. Ich sah ihr nach und schaute dann Thomas fragend an. Der schien alles andere als glücklich zu sein.
Als wir uns unser Essen geholt hatten, wollte er aus Gewohnheit alleine zu seinem Stammtisch gehen, aber ich hielt ihn am Arm fest und deutete mit dem Kopf in Richtung meiner Freunde. Er zog eine Augenbraue hoch, als wenn er sich nicht sicher wäre, ob er dort erwünscht war, folgte Newt und mir dann allerdings.
Wir setzten uns gegenüber von Minho und Ben. Niemand sagte etwas dazu, dass wir Thomas mitgebracht hatten und Minho begrüßte ihn sogar. Ich spürte, dass Thomas damit überhaupt nicht gerechnet hatte und musste schmunzeln. Es schien ihm zu gefallen, hier bei uns zu sitzen und es dauerte gar nicht lange, da unterhielt er sich mit Minho und Ben, als wäre es das Normalste der Welt.
Nachdem ich aufgegessen hatte lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und hörte den Gesprächen zu. Newt unterhielt sich mittlerweile mit Zart über sein Leben draußen und beschrieb gerade ziemlich real einen Crank, den er einmal gemeinsam mit seiner Schwester gesehen hatte. Mich schauderte, als ich daran dachte, dass er sie seit er hier angekommen war nicht mehr gesehen hatte. Was sie wohl mit ihr gemacht hatten?
Minho, Ben und Thomas redeten über die Sportchecks, die erstere beiden oft über sich ergehen ließen, da sie laut WICKED besonders sportlich waren. Thomas erklärte ihnen gerade, was sie mit ihren Daten machten, während Minho und Ben gespannt zuhörten.
Als ich meinen Blick durch den Raum schweifen ließ, um zu schauen, wer sonst noch so da war, entdeckte ich einige Gesichter, die mir bekannt vorkamen, von denen ich aber keins zuordnen konnte. Plötzlich blieb mein Blick an Teresa hängen, die sich anscheinend doch noch entschieden hatte zum Essen zu kommen. Sie saß ganz alleine an ihrem Stammtisch und sah mich direkt an. Zuerst dachte ich, sie sei wütend auf mich, weil ich hier so neben Thomas saß und ihn einfach so zu meinen Freunden mitgenommen hatte, doch dann erkannte ich, dass sie überhaupt nicht wütend aussah. Sie sah mich einfach nur erwartungsvoll an, als wartete sie, dass ich sie bemerkte und zu ihr kam.
Ich richtete mich auf und nahm mein Tablett. Als ich sah, dass Newt ebenfalls sofort aufstehen wollte, als ich mich erhob, winkte ich ab.
„Bleib sitzen."
Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und fragte sofort: „Stimmt was nicht?"
Ich schüttelte nur den Kopf und lächelte ihn dann an.
„Es ist alles in Ordnung. Unterhalt dich ruhig noch. Ich wollte sowieso duschen gehen."
Schon ein paar Meter vom Tisch entfernt war hörte ich Zart laut fragen: „Und da nimmst du ihn nicht mit?"
Ich drehte mich zu ihm um, streckte ihm die Zunge heraus und sahnte lautes Gelächter ab. Dann brachte ich mein Tablett weg und drehte mich in Richtung Teresas Tisch. Doch der war leer. Ich stutzte. Hatte ich ihren Blick doch falsch gedeutet? Da sah ich sie in der Tür auf mich warten und herausgehen, als ich in ihre Richtung ging.
Was zum...?
Ich folgte ihr auf den Korridor, dann eine Treppe herunter und weitere drei Korridore entlang, die ganze Zeit mit Sicherheitsabstand. Als sie endlich stehen blieb waren wir irgendwo, wo ich noch nie gewesen war.
Ich erreichte sie außer Atem und fragte: „Wo sind wir?"
Sie antwortete mir nicht, sondern sah sich noch einmal um, um sicher zu gehen, dass wir alleine waren. Dann öffnete sie eine kleine unscheinbare Tür, indem sie ihre Karte durch ein Terminal zog. Sie hielt sie mir auf und wartete, bis ich drinnen war, um sie wieder zu schließen.
„Das hier ist die Box. Von hier aus fährt sie hoch ins Labyrinth. Hierher werden alle Probanden und alle Vorräte gebracht, bevor sie am Morgen auf die Lichtung hochfahren. Sie wird immer am Vortag vorbereitet und mit allem bestückt, was hoch soll. Sie kontrollieren sie immer das letzte Mal gegen 18 Uhr. Das ist also schon geschehen. Wenn kein Proband hochfährt, passiert hier morgen auch nichts mehr, außer dass sie eben hochgeschickt wird. Wir werden deine Nachricht für Gally bei dem Baumaterial verstecken, wie du schon vorgeschlagen hast. Du hast gut beobachtet, dass er zum Baumeister ernannt wurde. Hier sollte niemand außer ihm sie finden", sagte sie, während sie jetzt den Zettel aus ihrer Hosentasche holte und gut zwischen zwei Brettern versteckte.
„Wow, Teresa, danke...", sagte ich zögernd.
„Kein Problem. Es ist das Richtige. Ich helfe dir gerne. Jetzt bleibt abzuwarten, wie er reagieren wird."
Mit diesen Worten schob sie mich wieder zur Tür heraus, als ich eigentlich noch genauer schauen wollte, was den Jungs im Labyrinth so hoch geschickt wurde.
„Komm, wir müssen uns beeilen. Uns darf hier niemand erwischen. Eigentlich dürfte ich gar nicht wissen, dass die Box von hier aus hochfährt. Wir sollten sie lieber in dem Glauben lassen, dass ich es nicht tue."
Schnell bewegten wir uns in Richtung der Schlafräume und als wir vor ihrem ankamen konnte ich nicht anders, als sie zu umarmen.
„Ich danke dir für deine Hilfe, Teresa. Ich weiß, dass du das nicht tun müsstest und auch, dass es nicht ungefährlich für dich ist."
Sie war zuerst etwas erschrocken, erwiderte meine Umarmung dann aber.
„Da ist noch etwas, was ich dir sagen muss, Anna. Es geht um Newts Schwester..."
Sie zögerte und ich hielt die Luft an. Was würde sie mir jetzt sagen?
„Ich weiß, wo sie sie untergebracht haben. Habe ein wenig nachgeforscht. Sie ist in Nebentrakt C mit ein paar anderen Mädchen in ihrem Alter." Sie hielt mich am Arm fest, als wolle sie ihren Worten noch mehr Nachdruck verleihen. „Ich glaube zu wissen, wie Newt sie wieder sehen kann. Das ist allerdings etwas schwierig, denn er wird nicht mit ihr reden können. Aber ich weiß von einem Plan der Luftschächte und es gibt eine Verbindung zwischen denen hier und denen in Trakt C. Ich weiß nicht, ob ihm das hilft und ob es gut für ihn wäre, nach ihr zu sehen, aber wenn du der Meinung wärst, er sollte die Chance bekommen – dann kann ich euch diesen Plan besorgen."
Mit diesen Worten ließ sie mich los und ich nickte stumm. Ohne ein weiteres Wort verschwand sie in ihrem Zimmer. Ich ging die letzten Meter zu meinem und schloss mich dann sofort im Badezimmer ein. Newt war noch nicht zurück und ich wollte die Zeit nutzen um nachzudenken.
Schnell zog ich mich aus und stieg in die Dusche, wo ich das angenehme Wasser über meinen Kopf laufen ließ. Ich wusste, dass Newt seine Schwester sehr vermisste, aber ich wusste auch, dass es ihm genauso wehtun würde, sie nicht erreichen zu können. Trotzdem musste ich ihm davon erzählen. Das wusste ich, weil ich sofort an Gally denken musste. Half es mir nicht auch ein wenig zu sehen, dass es ihm gut ging, dass er wohl auf war und vor allem lebendig?
Ja, ich würde es Newt sagen und wir würden uns diesen Plan von Teresa besorgen. Und dann könnte er seine Schwester wenigstens sehen, wenn er das wollte.
Als ich hörte, wie jemand die Tür öffnete, stellte ich das Wasser ab und trocknete mich schnell ab. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich keine frischen Sachen mitgenommen hatte. Ich band mir meine Haare also zu einem Turban auf den Kopf und schlang mir mein Handtuch um, bevor ich vorsichtig die Tür öffnete und hinaus schlüpfte. Newt saß auf seinem Bett und sah mich neugierig an.
„Hey", flüsterte ich, mir sehr wohl bewusst, wie ich gerade herum lief.
„Hey", entgegnete er und strahlte mich an.
„Ich hatte vergessen, frische Sachen mitzunehmen...", erklärte ich und wurde etwas rot.
Schnell öffnete ich eine meiner Schubladen und holte mir Schlafsachen heraus, bevor ich zurück ins Bad huschte. Ich spürte seinen Blick die ganze Zeit auf mir und auch wenn es mir unangenehm war, wie ich gerade aussah, so mochte ich es doch, wenn er mich so ansah. Schnell zog ich mich an und bürstete meine nassen Haare, bevor ich sie zum Trocknen offen ließ.
Nachdem ich mir die Zähne geputzt hatte ging ich wieder zurück zu Newt und setzte mich ihm gegenüber auf mein Bett. Er schaute mich unverwandt an und ich sah, wie sich schon wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, das ich nur erwidern konnte.
Auffordernd streckte er eine Hand nach mir aus und ich stand auf und setzte mich neben ihn, wobei ich meine Arme um seinen Hals schlang und ihn umarmte. Er drückte mich fest an sich und küsste meine Haare. Am liebsten hätte ich diesen Moment einfach verstreichen lassen und wäre gleich in seinen Armen eingeschlafen, aber ich musste vorher mit ihm sprechen. Das hatte er verdient.
„Newt?", fragte ich leise und er antwortete mit einem „Hmm?", sein Gesicht immer noch in meinen Haaren.
„Ich muss mit dir reden", stellte ich fest und er löste sich nun etwas von mir, um mich ansehen zu können.
„Es geht um deine Schwester... Lizzy, richtig? - Du hast ihren Namen im Schlaf gesagt", erklärte ich, als er eine Augenbraue hochzog, weil ich ihren Namen kannte.
Jetzt, da er wusste, um was es ging, setzte er sich gerade hin und sah mich neugierig und ein wenig misstrauisch an.
„Teresa weiß, wo sie ist. Sie hatte eine Idee, wie du sie vielleicht wieder sehen könntest. Sie sprach von einem Luftschachtsystem, das von hier bis in ihren Trakt führt. Du könntest zwar nicht mit ihr reden, aber du könntest sie immerhin sehen, sehen dass es ihr gut geht..."
Ich hielt den Atem an, gespannt auf seine Reaktion. Was würde er sagen?
Zuerst sagte er gar nichts. Er sah mich einfach nur an, völlig ruhig, als müsste er das Gehörte erst noch verarbeiten. Nach einer gefühlten Ewigkeit begann er endlich zu sprechen, immer noch so ruhig.
„Ja, das würde ich gerne tun. Ich würde gerne nach ihr sehen."
Und mehr nicht. Das war alles, was er sagte. Er stellte weder Fragen, noch drängte er mich zum Handeln oder so etwas.
Stattdessen breitete er seine Arme aus und sagte: „Aber jetzt möchte ich, dass du herkommst. Du hattest einen aufregenden Tag. Und ich möchte genau jetzt nur bei dir sein."
Stumm und schon wieder mit Tränen in den Augen ließ ich mich von ihm in die Arme nehmen und schloss meine Augen. Was war das nur zwischen uns?
Als könnte er meine Gedanken lesen flüsterte Newt: „Ich möchte all die Zeit – und sei es auch noch so wenig – die wir haben mit dir verbringen. Ich weiß nicht, wie du all das siehst... Aber ich bin mir jetzt sicher, was das ist, was ich für dich empfinde."
Ich hielt den Atem an.
„Ich liebe dich."              
Und damit küsste er mich wieder, so wie er es beim ersten Mal gemacht hatte. Meine Gefühle überrollten mich und ich erwiderte den Kuss überglücklich. Es war vollkommen egal, wie lange wir uns kannten und unter welchen Umständen wir uns kennengelernt hatten. Was zählte war, was wir für einander empfanden und dass wir jetzt gerade zusammen waren. Denn auch ich wusste jetzt, was es war, was ich für ihn empfand.
Ich liebte Newt.
Überwältigt von meinen Gefühlen für ihn vergrub ich meine Hand in seinen weichen Haaren und wünschte mir, dass dieser Moment, dieser Kuss, niemals enden würde.

From The WICKED Start | A Maze Runner Story Where stories live. Discover now