26 - »Anruf für Hazim«

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Murrend werde ich von meinem Wecker geweckt. Blind will ich nach ihm abtasten, schmeiße es aber letztendlich um. Ist mir recht. Ich dreh Lichter anderen Seite und versuche weiter zu schlafen. Ich weite meine Augen schreckhaft auf. Mein Wecker hat schon zum fünften Mal geklingelt! Sofort setze ich mich auf und suche nach meinem Handy und muss verpeilt feststellen, dass ich verschlafen habe. Ich stehe hektisch auf, mir wird wie immer schwarz vor Augen, trotzdem renne ich los. Im Bad versuche ich das Nötigste zu erledigen, nehme vom Stuhl eine Hose, die zu sauber für die Waschmaschine aber auch zu dreckig für den Schrank ist. Ich seh mich um Spiegel an und könnte wieder einen Nervenzusammenbruch bekommen. Ich band meine roten Locken in einen Dutt, suchte in den Schubladen nach einem Abdeckstift, der diesen Pickel auf meiner Stirn kaschieren soll. Als ich dann den verdreckten, womöglich auch abgelaufenen Concealer, gefunden habe drücke ich es planlos gegen diesen roten Punkt in der Mitte, in der Hoffnung es würde etwas bringen. Ich will in den Spiegel schlagen und anfangen loszuschreien, da es nur schlimmer aussieht. Ich schaue auf die Uhr. Ich werde sowas von zu spät kommen. Unter Zeitdruck wische ich über den Concealer, weil ich zu dumm fürs verblenden bin. Ich schultere meine Tasche und reiße die Tür auf. Rasend galoppiere ich die Treppen unseres Hauses runter will an allen anderen vorbeilaufen, doch stelle verwundert fest, das Hazim seelenruhig auf dem Esstisch mit Semra und Babo sitzt.

„Wieso bist du nicht in der Schule?", fragte ich ihn schon fast hysterisch. Seine grünen Augen blitzen zu mir rüber, er erblickt meine Situation und fängt an zu lachen. Mein Vater schaut von seiner Zeitung hoch und zieht seine Brille von der Nase.

„Wir haben Samtag, Liebes.", antwortet Semra für Hazim, da er gerade damit beschäftigt ist mich auszulachen. Ich puste aufgebracht die Luft aus meinen Nasenlöchern und schmeiße nahezu aggressiv meine Tasche gegen die Wand.

„Wie, wir haben Samstag?!", frage ich verwirrt und schaue allen abwechselnd ins Gesicht. Sowas kann auch nur mir passieren. „Habt ihr nicht mein Trampeln gehört?"

„Setz dich doch.", spricht mein Vater und deutet auf den freien Platz. Glücklich, dass ich nicht zur Schule muss, nehme ich Platz und fange an Nutella auf mein Brot zu schmieren. Ich beiße vom Brot auf und versuche ein genüssliches Stöhnen zu unterdrücken. Es schmeckt so unglaublich gut. Dieser süße Geschmack schmilzt auf meiner Zunge. Dann fällt mir ein, dass zu viel Zucker enthält. Ich schaue runter auf meine Beine und bilde mir ein, dass sie fetter geworden sind. Vorsichtig lege ich mein Brot auf den Teller zurück und trinke drei kräftige Schlücke Wasser. Das Haustelefon fing an zu klingeln. Ich wollte aufstehen, doch Semra hielt mich davon ab und stand für mich auf.

„Hazim?", Semra kommt unsicher in die Küche rein. Er zieht seine Augenbrauen zusammen und schluckt sein Gekautes runter.

„Das Gefängnis von deinem Vater will dich sprechen.", spricht sie weiter. Sie wirkt traurig und hat Tränen in den Augen. Ich schaue zu meinem Vater, der selbst nicht versteht was passiert ist. Hazim steht sofort auf und reißt ihr das Telefon aus der Hand. Er geht mit einem gedämpften „Hallo?" ran.

„Was?", fragt er jetzt lauter nach. Ich schlucke schwer und denke nicht mehr daran zu essen. Selbst mein Vater hat sein Besteck weggelegt.

„Sie verarschen mich doch, oder?", er bekommt Tränen in den Augen. Ohne noch etwas dazuzusagen legt er auf und stürmt aus der Küche. Er kickt alles weg, reißt die Bilderrahmen von der Wand und schmeißt sie auf den Boden. Die Vase auf dem Tresen schmeißt er um und packt sich verzweifelt an den Haaren.

„Hazim!", ruft mein Vater. „Was ist los? Was wurde dir gesagt?!", mein Vater packt ihn an den Schultern und rüttelt leicht an diesen, damit er wieder zu sich kommt.

„Mein Vater ist tot!", brüllt Hazim seine Seele aus dem Leib und fängt bitterlich an zu weinen. Erschrocken halte ich meine Hand vors Gesicht und schaue unglaubwürdig zu Semra, die ihre Augen schließt.

„Er ist tot, Babo, er ist tot!", schreit er, mein Vater nimmt ihn in den Armen und drückt ihn fest gegen sich. Sein Blick landet in meine Richtung, die ganzen Erinnerungen von meiner Mutter und mir kommen wieder zurück. Ich kriege Tränen in den Augen, da ich die Schmerzen von Hazim hundertprozentig nachempfinden kann. Staunend dass er meinen Vater dennoch Babo nennt, finde ich bewundernswert. Das könnte ich niemals. Ich könnte niemals zu Semra Mama sagen. Es würde sich so anfühlen, als würde ich sie verraten. Egal was meine Mutter uns in der Vergangenheit angetan hat, ich kann sie niemals ersetzen. Sie war meine Mutter. Meine beste Freundin. Meine Seele. Ich gehe näher an Hazim ran, er schaut mich mit roten Augen an. Verweint verzieht er sein Gesicht, ich verziehe mein Gesicht auch. Es ist schwer nicht zu weinen. Sofort umarme ich ihn, er erwidert diese Umarmung sofort. Fest drückt er sich gegen mich. Wenn ich könnte würde ich ihm diese Schmerzen entnehmen. An der Tür klingelt es. Alle schauen zur Tür, Semra läuft auf sie hinzu. Schluchzend schaut Hazim zur Tür. Diese wird geöffnet. Innerlich setzt mein Herz aus. Mein Herz rast in der nächsten Sekunde als wäre ich ein Marathon gerannt. Seine bernsteinbraune Iris leuchten neben den roten Augen. Hazim löst sich von mir und läuft auf Baran zu, der versteinert vor der Tür steht. Hazim schließ Baran in seine Arme und fängt laut an aufzuschluchzen. Noch stärker als davor. Ich sehe wie Baran seine Arme beschützend um seinen Bruder umschließt und ihn auf den Kopf küsst. Mein Herz teilt sich in Stücke bei dem Anblick. Beide haben ihren Vater verloren.

„Er ist tot.", murmelt Hazim schluchzend zu Baran der versucht sich zusammenzureißen.

„Wir alle werden sterben.", kommt es satt und kalt von ihm. Als hätte er sich nur darauf vorbeireitet. Dennoch presst er seine Augen zusammen und lässt stumm eine Träne aus seinem Auge fließen. Ich schaue weg. Das will ich nicht sehen. Baran hat mir immer die Tränen vom Gesicht gewischt, damals. Damals war er der, der mich beruhigt und glücklich gemacht hat. Ich erblicke Semra in der Küche, die einen Punkt in der Luft anstarrt. Ich stelle mich zu ihr, traue mich aber nicht zu reden.

„Egal wie schlimm er war, er hat Hazim viel zu früh verlassen.", kommt es kratzig aus ihrem Mund, weshalb sie aus ihrem Mund.

„Ich bin nicht traurig über seinen Tod. Er ist schon lange für mich gestorben.", fügt sie hinzu und schaut jetzt in meine Augen.

„Es tötet mich aber Hazim so zu sehen.", sagt sie und schaut wieder raus zu Hazim. Mittlerweile hat mein Vater beide beruhigt.

„Ich weiß, dass ich seine Schmerzen nicht nehmen kann. Ich habe auch so gefühlt, aber jetzt ist kein Platz mehr für so einen Menschen in mir drin.", sagt sie klar und überzeugt. Sie spricht anders über ihn. Nicht negativ, aber auch nicht positiv.

„Aber es war Hazims Vater. Natürlich liebt er ihn.", meint sie und verschreckt ihre Arme ineinander. Sie fühlt anders, Hazim fühlt anders. Ich schaue zu Baran, der sich übers Gesicht fährt. Er hat keinen mehr. Nur noch seine Tante und Mariam. Mein Vater legt seine Hand auf seiner Schulter ab, als er anfängt zu reden.

„Natürlich darf er für seinen Vater trauern.", sagt Semra und zieht mich zu sich.

„Egal was Eltern einen angetan haben, die Liebe zu ihnen ist anders. Es ist kein Knopf dass man An- und Ausstellen kann.", kommt es von ihr und drückt mir ein Kuss auf die Stirn. Ich glaub das braucht sie gerade. Ich lege meine Arme um sie und drücke sie fest an mich. Sie erwidert erst nach einer Weile meine Umarmung, da sie anscheinend nicht damit gerechnet hat.

Egal was Eltern einen angetan haben, die Liebe zu ihnen ist anders. Es ist kein Knopf dass man An- und Ausstellen kann

Ich brauch endlich wieder die Nähe meiner Mutter. Ich bilde mir ein, dass Semra meine Mutter ist und fange an zu schluchzen. Dieser Gedanke wird niemals in Erfüllung gehen. Sie ist weg.

Ruhe in Frieden Medina Delil und Farik Rashid.



Nicht korrigiert

Deine schönen Augen machen krankWhere stories live. Discover now