Genesis

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Meine Hände lagen verkrampft in meinem Schoss und spielten nervös mit dem dünnen Schlauch, durch welchen eine klare Lösung in meinen Körper tröpfelte. Die leichte Decke, die über meine Beine gelegt worden war, verbarg kaum mein Zittern und ich wusste nicht, wohin ich kucken sollte. Als ich meine Augen durch das Zimmer schweifen liess, vermied ich es, Ihn anzusehen. Ich spürte Seinen Blick, als ich die in einem verzweifelten Versuch, diesen Ort fröhlicher aussehen zu lassen, mit grünen Mustern bemalte Wand fixierte. Ich spürte Seinen Blick, als ich weiter über die Wand zum Fenster wanderte und einen Wolkenfetzen am Himmel verfolgte. Ich wusste, was Er wollte. Er wollte die Wahrheit. Neben mir hörte ich ihn tief einatmen. Der Monitor piepste leise. „Erzähl mir alles. Die ganze Geschichte, Joelle", sagte er, seinen Blick weiter in meinen ihm abgewendeten Hinterkopf gebohrt. Meine Hände liessen den Schlauch los und ich schlug die Augen nieder.

~

Als ich krank wurde, sagte mir niemand, was mich erwartete. Alle sprachen davon, dass ich tapfer bleiben sollte, dass ich es schaffen würde, wenn ich nur daran glaubte. Alle sprachen davon, dass ich stark wäre, dass ich kämpfen müsste. Sie sagten kein Wort darüber, wie schwierig das Kämpfen werden würde. Aus heutiger Sicht macht mich das wütend, denn ich hätte gerne gewusst, auf was ich mich einliess, als ich damals aus dem Krankenhaus trat, die Diagnose noch im Kopf nachhallend, und keinen Gedanken daran verschwendete, gleich aufzugeben. Für mein damaliges Ich war es aber besser so.
Als ich krank wurde, war ich vierzehn. Anfangs wusste ich noch nicht, dass ich krank war, dieses Bewusstsein kam erst mit der Zeit. Um ehrlich zu sein, kam es erst, als ich die Diagnose schon lange hatte. Das war ein halbes Jahr nach dem Unfall. Ein ganzes halbes Jahr.
Bei der Diagnose selbst hatte ich vorher noch nie in meinem Leben diese vier Buchstaben gehört. Sie waren mir fremd, ich vergass sie mehrere Male, bis ich die Infos fand, die mir die Krankheit ins Gehirn einbrannten. CRPS – The Suicide Disease. 40% Chance, bleibende Schäden zu behalten. Möglichkeit, die Funktion meines Armes komplett zu verlieren. Mehrere Jahre bis zur Besserung. Mörderische Schmerzen, die sich immer weiter ausbreiten.
Bis zu diesem Punkt war ich immer davon ausgegangen, dass es noch diese Verletzung war, die nicht aufhören wollte, mich zu plagen, aber auf einmal war alles anders. Ich hatte mir eine unrealistische Vorstellung nach der anderen zuammengereimt. Allesamt absolut undenkbare Szenarien, die vielleicht aus einem anderen Blickwinkel als meinem hätten lustig sein können. Meine Realität war alles andere als lustig.
Unkontrollierbares Zittern und Zucken am Arm. Unmöglichkeit, etwas zu halten, das schwerer als ein Glas war. Unfähigkeit, länger als fünf Minuten am Stück zu schreiben. Ich konnte den Arm nicht mehr strecken. Keine Faust mehr zudrücken. Die Finger nicht mehr spreizen. Schmerzen. Damals noch nicht so quälend, aber stark.
Die Diagnose war aber kein Schock, sondern eine Erleichterung. Endlich ein Stück Papier, das Wort eines Arztes, das bewies, dass ich nicht verrückt oder wehleidig war. Was hatte ich damals schon gewusst. Ganz sicher nicht, wie schnell es mir bald schon so viel schlechter gehen würde, als es mir sowieso schon ging. Dass es nur noch eine Frage von Monaten sein würde, bis die Nervenkrankheit meinen ganzen Arm verschluckte, dann den Rücken, dann den andern Arm. Dass es insgesamt nur noch ein weiteres Jahr gehen würde, bis ich mich auch auf meine Beine nicht mehr voll verlassen könnte. Bis die Schmerzen so schlimm wären, dass ich bisweilen dreimal am Tag fürchten musste, umzukippen, wenn ich mich nicht auf der Stelle hinlegen würde.
Elf Monate, bis es einem besser ging, hatte ich damals gelesen. Elf Monate. Und wo war ich jetzt, zwei Jahre später? Gefangen in einem Körper, der mich von morgens bis abends am liebsten auf dem Boden sehen würde.
Als ich krank wurde, musste ich meine grösste Leidenschaft aufgeben. Von einem Tag auf den anderen hiess es, ich könnte nicht mehr reiten, es wäre zu fahrlässig, ich wäre nicht in der Lage, ein durchgehendes Pferd zu halten. Der Schock darüber, dass sie mir das einzige, was ich wirklich liebte, wegnehmen wollten, war zu gross, um mich auch nur im Geringsten zu widersetzen.
Wochenlang fasste ich kein Pferd an, bis ich es irgendwann nicht mehr aushielt. In der Zeit zwischen dem Unfall und der Diagnose war ich weiterhin geritten, zwar nur noch gemütlich, aber ich hatte mich durchgesetzt. Ruhige Dressurarbeit, einhändig, auf den einfachsten Pferden, die der Stall zu bieten hatte. Doch dann war alles anders. Ich schrieb Linda nicht einmal mehr eine Nachricht und beschloss, nie wieder dorthin zu gehen. Warum, wenn ich sowieso nicht wieder richtig reiten konnte? Was hatte es dann noch für einen Sinn?
Als ich kränker wurde, immer kränker und kränker, wuchs in mir aber, genau wie die Krankheit wuchs, auch immer mehr die Reue. Warum hatte ich es aufgegeben? Warum hatte ich auf die Ärzte gehört? Warum hatte ich nicht um meinen Traum gekämpft, so wie ich jetzt um mein altes Leben kämpfen musste? Zu viele Fragen, die ich mir selbst nicht beantworten konnte.

Keep Dreaming - Ich werde reitenWhere stories live. Discover now