Erinnerungen an Tage, die nie hätten passieren sollen

1.3K 93 3
                                    

Ich sehe die Erinnerungen an jenen Tag so deutlich vor mir, als wäre es ein Film, den ich gezwungen bin, zu schauen.
Ich fahre mit meinem Fahrrad über die Landstrasse in Richtung Riesenbeck. Bin wieder zehn Jahre alt, die dünnen Beine in ein Paar zu grosse schwarz-rote Reithosen gesteckt, die dunkelbraunen Haare zu zwei süssen Zöpfchen geflochten. Höre den Helm im Korb hinter mir klackern und spüre die kalte Zugluft auf meinem Gesicht. Meine Nase und Wangen sind von der winterlichen Brise dieses Dezembermittags schon ganz glänzend und taub.
Es ist Samstag, oder Sonntag, ich weiss es nicht genau. In der Ferne läutet eine Glocke zwölf Uhr. Ich bin zu spät, aber das macht mir nichts aus. Die Freude auf die bevorstehende Reitstunde bei Linda ist zu gross.

Das Bild flackert und verändert sich.

Ich sitze nicht länger auf einem Fahrrad, sondern auf dem Rücken eines Ponys. Die Reitstunde ist zu Ende und ich sehe eine kindliche Sereina neben mir, auf einem Pferd. Arango. Auf ihrem Gesicht, das viel jünger ist, als es heute aussieht, steht ein breites Strahlen, das ihre Sommersprossen hüpfen lässt.
Ich erinnere mich. Heute ist der letzte Tag, an dem Arango Lindas Pferd ist. Schon morgen wird er Sereinas Pferd sein. Ein ganzes Jahr schon hat sie ihn geritten. Ist mit ihm besser geworden, über ihre ersten Hindernisse gesprungen, hat ihre ersten E-Turniere absolviert. Ist gestürzt und wieder aufgestiegen, hat Hochs und Tiefs erlebt. Das Glück muss man ihr nicht einmal aus den glitzernden Augen ablesen, es ist so offensichtlich, dass sie in eben diesem Moment der fröhlichste Mensch auf Erden ist.
In meiner Miene ist Missmut zu lesen. Ich weiss, tief in mir drin, dass ich mich für sie freuen sollte, aber ich tue es nicht. Ich kann meinen Blick nicht von Arango abwenden, den Gedanken daran nicht lassen, wie es wohl wäre, wenn er morgen mein Pferd wäre und nicht Sereinas.
Meine Eltern dachten nicht einmal daran, mir ein Pferd zu kaufen, auch kein Pony. Zu teuer. Zu wenig Zeit. Zu aufwändig.
Als Linda uns eine kurze Runde im Gelände zum Trockenreiten erlaubt, schiebe ich die Unterlippe vor und beobachte den dunklen Wallach, wie er unter Sereina vom leicht gefrorenen Platz schreitet. Ich folge ihr.

Das Bild flackert erneut, verändert sich wieder.

Wir stehen auf einem Feldweg, neben uns der Wald. Quer über dem Weg liegt ein Baumstamm, vermutlich umgestürzt im Sturm vorletzte Nacht. Ich weiss nicht, was in mich fährt, als ich darauf zeige und höhnisch meine: „Wetten, dass du es nicht da rüberschaffst?"
Sereina kneifft leicht die Augen zusammen, erkennt aber meinen bitteren Unterton nicht. In ihrer Miene liegt immer noch die unschuldige kindliche Freude. „Sicher könnte ich das! Ich und Arango sind unschlagbar!", versichert sie mir voller Zuversicht.
Mein Blick fällt wieder auf den dunklen Wallach. Ich bin ihn einmal geritten. Einmal. Ich mag ihn nicht einmal. Aber dass er morgen Sereina gehören soll, versetzt mir einen Stich. „Beweis es!", fordere ich.
Sereina zieht die Augenbrauen verdutzt hoch. „A...aber Linda hat gesagt, nur noch trockenreiten!", protestiert sie zögerlich. Ihre selbstbewusste, glückliche Fassade wackelt etwas. Ich schnaube.
„Weichei!" Die Gefühle, von denen ich genau weiss, dass sie böse sind, dass sie schlecht sind und dass ich sie nicht haben sollte, werden davon noch mehr angestachelt.
Damit habe ich sie. „Pah! Von wegen Weichei! Sieh zu und lerne!", krakeelt Sereina und wendet Arango, um Anlauf zu holen. Zufrieden gehe ich mit meinem Pony aus dem Weg.
Als Sereina das Pferd, ihr Pferd, angaloppiert, beginnt sie wieder zu strahlen. Sie strahlt noch, als Arango zögerlich die Ohren anlegt, noch als sie ihn mehr vorwärtstreiben muss. Sie strahlt noch, als ich bereits die tückisch glitzernden Schlieren auf dem Schnee entdecke, sie strahlt noch, als ich im Sattel erstarre und plötzlich weiss, warum der Boden unter Sereina plötzlich zu knacken beginnt. Sie strahlt noch, als Arango die Vorderhufe zum Sprung hebt und gleichzeitig mit den Hinterhufen auf dem gefrorenen Grund ausrutscht, und sie strahlt noch, als der Wallach mit den Röhrbeinen den Baumstamm schrammt und sich seine Hinterhand über den Rest seines Körpers hebt.
Dann erklingt ein Schrei. Ein Wiehern. Ein Knall und ein Knacken. Ich merke erst, dass ich die Augen geschlossen habe, als ich sie wieder öffne und sehe, wie Arango sich schnaubend und schwerfällig vom Boden erhebt. Ich merke erst, dass ich die Luft angehalten habe, als Sereina stöhnt und Arango auf drei Beinen über das Feld davongaloppiert. Ich merke erst, was gerade passiert ist, als das Mädchen, welches ich eben noch beneidet habe, sich nicht mehr bewegt. Und ich merke erst, wohin Arango dreibeinig rennt, als es schon zu spät ist.
Wie eine verdammte Idiotin sitze ich da und starre auf die reglose Gestalt im Schnee hinab, aus meinem Mund kommen silberne Atemwolken. Einatmen, ausatmen. In der Ferne knallt es erneut, doch ich höre es kaum. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Ich bewege mich nicht.

Keuchend schreckte ich hoch und setzte mich kerzengerade in meinem Bett auf. Nachdem meine Sinne nach und nach zurückgekehrt waren, nahm ich wahr, dass mein Rücken schweissnass war und mein Atem schwer ging. Mein ganzer Körper zitterte wie nach einem Stromschlag.
Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich im Schlaf gesprochen oder gar geschrien hatte, also lauschte ich prüfend, doch ich hörte keine Schritte auf der Treppe, keine leisen Stimmen im Gang. Alles ruhig dort draussen.
Auf einmal hatte ich das Gefühl, zu ersticken, und eilte zum Fenster. Hastig riss ich es auf und sog mit einem gierigen Zug die kühle Nachtluft ein. Am Himmel verdeckten Wolken die Sterne, aber durch ein Loch in der Decke konnte ich den Mond schimmern sehen. Er brachte wie mit einem fahlen Pinsel das Wasser auf der schmalen Quartierstrasse unter mir zum Glänzen und sagte mir, dass es wohl geregnet hatte.
Ein leises Stöhnen entfuhr mir, als ich mich auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch plumpsen liess und den Kopf auf den Händen abstützte. In meinem Kopf zuckten immer noch die Bilder des Traums umher, zeigten mir, was ich zu verdrängen versucht hatte. Die Geschehnisse eines einzigen Tages.
Kaum ein Tag, bis auf den Tag, an dem Herodot mir den Ellbogen ausgekugelt hatte, verfolgte mich bis heute so sehr. Sereina war danach nie wieder dieselbe gewesen. An diesem Tag hatte ich sie verloren, dort draussen auf dem Feld.
Nur ungern dachte ich darüber nach. Arango war damals nur wenige Meter von diesem Baumstamm entfernt panisch auf die Strasse gehumpelt und von einem PKW erfasst worden. Dreibeinig und in seiner Angst hatte er weder ausweichen, noch sonst irgendwie reagieren können. Mein Vater war hingegangen und hatte nur noch den sofortigen Tod des Wallachs feststellen können. Es hatte nichts mehr gegeben, was man für Arango hätte tun können.

Dieses Pferd zu verlieren, hatte Sereina von Grund auf verändert. Sie war von einem Tag auf den andern kalt geworden, abweisend.
Sie hatte mich nicht beschimpft. Mich nicht verflucht. Sie hatte mich einfach nicht mehr angesehen. Und das hatte noch viel mehr wehgetan, als es wütende Worte je hätten tun können. Ich wusste, dass es meine Schuld war, und ich wusste, dass sie sich dessen auch bewusst war.
Sie hatte körperlich keine bleibenden Schäden davongetragen, zumindest keine sichtbaren. Die Schäden, die sie erlitten hatte, sassen viel tiefer. Nach diesem Unfall war sie immer ehrgeiziger und fokussierter geritten, als könnte sie dadurch ihren Schmerz kanalisieren.
Sie hatte wortlos Sporen und scharfe Kandaren entgegengenommen, die ihr zur Verfügung gestellten Pferde konsequent über jedes noch so bunte, noch so furchteinflössende, noch so grosse Hindernis getrieben und war von Turnierplatz zu Turnierplatz gejagt wie eine Irre.
Als es Linda zu viel geworden war, war Sereina gegangen - Einhalt hatte man ihr schon lange keinen mehr bieten können. Zurück zum Hof ihres Vaters. Dort wurde klar, dass sie gerade erst angefangen hatte. Dass sie gerade erst am Entdecken war, was es noch so für Möglichkeiten gab, immer schneller immer höher zu klettern.
Seit Arangos Tod waren fast sechs Jahre vergangen und ich war mir sicher, dass sie immer noch an ihn dachte, wenn sie die Schleifen an die Zaumzeuge ihrer Springpferde heftete. Wie wäre es auch anders möglich? Alles andere wäre doch unmenschlich.
Ich musste doch auch immer noch daran denken. Nach sechs Jahren wollte es nicht aus meinem Kopf. Ich sah die beiden immer noch stürzen, genauso wie ich immer noch Herodot scheuen sah.
Es waren Erinnerungen an Tage, die nie hätten passieren sollen. Und genau deshalb konnte ich sie nicht vergessen.

Als ich wieder schlafen ging, liess ich das Fenster offen und lauschte dem leisen Wind.

Keep Dreaming - Ich werde reitenWhere stories live. Discover now