Nur die Besten

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Es war der Samstag exakt zwei Wochen nach meinem Vorreiten in den LB Stables, an dem Charlotte mich bat, mit ihr zum zweiten Vorreiten zu kommen. Erst hatte ich mich strikt weigern wollen. Es würden zu viele Erinnerungen hochkommen, ich könnte nicht damit umgehen, es wäre zu schwierig und zu frustrierend für mich. Aber dann siegte doch die Neugierde. Welche Reiter waren noch übrig? Wie würde Charlotte sich schlagen?
„Ich hoffe wirklich, dass du mir wegen meinem Kommentar unter deinem Foto nicht böse bist. Ich dachte nicht, dass Paulina so heftig reagieren würde...", beteuerte Charlotte zum mindestens fünften Mal auf der Fahrt. Ihre Mutter, eine kleine, etwas dickliche Frau mit lustigen Locken, die ihrer Tochter kein bisschen ähnlich sah, schüttelte amüsiert den Kopf. „Komm, des hast du jetzt schon hundertmal gsagt!", tadelte sie, „Die Joelle hat's sicher auch beim ersten Mal schon verstande."
Hannelore Seidel war ursprünglich nicht aus der Gegend, hatte Charlotte mir erklärt, aber nicht, von wo sie kam. Man konnte ihr nur manchmal ein klein wenig anhören, dass ihr ein anderer Dialekt rausrutschte, aber meist versteckte sie ihn geschickt.
„Ja, es ist wirklich gut, Charlie. Es war nicht gerade lustig, aber Paulina hat schon dümmere Sachen gemacht. Sorg dich nicht mehr darum!", gab ich Frau Seidel recht. Wir bogen mit dem Auto vom Riedweg in den Prozessionsweg ein und fuhren wieder dieselbe Allee hoch, die ich auch schon mit meinem Vater hochgefahren war. In mir stieg ein seltsames Gefühl hoch.
Frau Seidel warf uns erstaunlicherweise nicht einfach bei der Biegung zum Hofgelände raus, sondern fuhr mit uns bis zum Innenhof und suchte dort einen Parkplatz. Sie würde ihre Tochter heute mit ihrer Anwesenheit unterstützen und uns danach wieder mitnehmen. Charlotte hatte vorgeschlagen, dass ich zu ihnen nach Hause kommen könnte, um dort zu Mittag zu essen, und ich hatte dankend angenommen. Die Familie Seidel gab mir immer das Gefühl, willkommen zu sein.
„So, Endstation, Mädels! Wir sind da!", verkündete Charlottes Mutter und öffnete auf ihrer Seite die Tür. Während dem ihre Tochter beinahe hyperventilierte, als sie sich abschnallte und ausstieg, war ich eher wehmütig. Ich sollte heute auch Reitklamotten tragen. Ich sollte heute auch aufgeregt sein. Ich sollte heute mit dem Wissen nach Hause gehen, dass ich mir den Trainingsplatz geschnappt hatte. Aber die Aussichten darauf waren mehr als schwarz.
Stattdessen stand ich hier, in meinen Jeans, Turnschuhen und einer dünnen roten Spooks-Jacke und würde mir mitansehen, wie andere Reiter mir diesen Trainingsplatz, auf den ich so hingefiebert hatte, wegnahmen. Hoffentlich würde wenigstens einer für Charlotte rausspringen, für sie könnte ich mich noch freuen.
„So, Charlotte. Es is' jetzt 8:30 Uhr. Du musst um neun wieder auf dem Platz sein, ich schlage vor, dass ihr jetzt zusammen die Nummer und die genaueren Daten abholt, ich besorg mir und Joelle schon mal was zu trinke. Treffen wir uns nachher wieder hier?", schlug Hannelore Seidel vor und wir nickten beide.

„Puh, ich bin noch aufgeregter, als vor zwei Wochen!", japste Charlotte, als wir uns auf den Meldestand zu bewegten – es war wieder Erika Roth, die dort sass, nur dass sie diesmal von wenigern Reitern umgeben war. Von viel wenigern Reitern.
„Guten Morgen, was kann ich für euch...", begann sie, dann blieb ihr Blick an mir heften und verdüsterte sich. „Hey, du! Du hast letztes Mal die Nummer nicht vom Zaumzeug genommen!", knurrte sie mich an. Erschrocken zog ich den Kopf ein wenig ein und lächelte entschuldigend.
Charlotte rettete die Situation. „Ähm, Charlotte Seidel, ich würde gerne..." Frau Roth unterbrach sie. „Ja, ja, ich weiss", murrte sie und drückte dem blonden Mädchen ein Blatt Papier und eine Nummer in die Hand. „Um spätestens viertel vor neun auf dem grossen Springplatz einreiten, um neun beginnt das Zeitspringen, auf Nachzügler wird nicht gewartet. Und nimm gefälligst die Nummer vom Zaumzeug, wenn du dein Pferd verräumst!"
Charlotte nickte und zog mich dann mit sich weg vom Stand. „Hast du wieder Concordis?", fragte ich. Wenn ja, dann hätte sie wirklich Pech gehabt. Das Rapppony hatte sie letztes Mal schon runterbocken wollen, im Zeitspringen konnte das verheerende Folgen haben. Aber das blonde Mädchen schüttelte grinsend den Kopf. „Ne, zum Glück nicht! Diesmal habe ich einen gewissen Solitaire. Ist hoffentlich braver als Concordis!", meinte sie.

Keep Dreaming - Ich werde reitenWhere stories live. Discover now