Alte Bekannte

1.3K 95 3
                                    

Den nächsten Teil des  M*-Springens verbrachte ich damit, an der Bande zu lehnen und ins Nichts  zu starren. Meine Ohren waren wie mit Watte zugestopft und um mich herum schien eine Mauer aus Taubheit erbaut zu werden. Ich spürte nicht mehr  den Regen, die Kälte, die Nässe, in mir drin war nur noch dieses dumpfe  Gefühl, das ich nicht deuten konnte.
Dann kam der Schmerz.  Schubweise. Wie Wehen. Erst hatte ich das Gefühl, nicht mehr stehen zu können. Dann das Gefühl, nicht mehr denken zu können. Dann nicht mehr  blinzeln, dann nicht einmal mehr atmen.
Ich entschuldigte mich von den andern, mit der Ausrede, dass ich eine Toilette suchen gehen würde.
Die erstbeste Tür, die  mir in die Quere kam, öffnete ich und stolperte hinein. Dort blieb ich. Minuten. Sass auf dem Boden des Waschraums, oder was auch immer es war, in dem trocknende  Schabracken auf Haltern hingen, den Rücken an einen Zuber gelehnt, und  versuchte einfach nur, meine Brust weiter rhythmisch zu heben und zu senken. Einatmen, ausatmen. Doch jeder Atemzug kam flacher als der letzte, bis ich nach wenigen Sekunden schon meine krampfend verkrümmten Hände nicht mehr spüren konnte und vor meinen Augen helle Punkte  tanzten.
Während dem ich mich  zusammenreissen musste, keinen Mucks von mir zu geben, rief ich in meinem Kopf die Erinnerungen an eine meiner Sitzungen bei Frau Lehmann  auf. „Wenn es ganz schlimm ist, musst du ruhig atmen. Ruhig und tief, in den Bauch hinein", hörte ich ihre Stimme. Rasselnd sog ich Luft ein und stiess sie viel zu harsch wieder durch die Nase aus. In meinen Ohren pfiff es.
Eine weitere Welle aus  Schmerz überspülte mich und ich sank flach zu Boden, das Gesicht zu  einer Grimasse verzerrt. „Verdammte scheisse!", fluchte ich stumm und schlug einmal mit der krampfenden Hand auf den Boden. Ich spürte nichts. Noch einmal. Und noch einmal.
Wie lange ich am Ende  dort gelegen war, wusste ich nicht. Aber als der Schmerz soweit  zurückgegangen war, dass ich immerhin wieder auf meine Beine kam, zur Tür wanken und sie öffnen konnte, zerstreuten sich die Leute gerade.
Aus der Richtung des  Springplatzes konnte ich meinen Namen hören, deshalb humpelte ich erst einmal nicht dorthin. Ich konnte noch nicht unbehelligt genug gehen oder sprechen, um mich so Ludger Beerbaum zu präsentieren. Er würde merken, dass etwas nicht stimmte. Meine Finger sahen immer noch aus wie Krallen und bewegen konnte ich sie auch noch nicht.

Also schleppte ich mich  in die entgegengesetzte Richtung, dorthin, wo meinen Erinnerungen nach die Ställe waren. Mein Blick war auf den Boden gerichtet, zu  konzentriert darauf, zu kontrollieren, ob meine Füsse ihren Job wirklich erledigten, weshalb ich nicht bemerkte, wie unachtsam ich lief, bis ich in jemanden hineinkrachte.
Das letzte Mal, als das  passiert war, war es Ludger Beerbaum gewesen, weshalb ich eigentlich gar  nicht hochschauen, sondern nur weitergehen wollte. Ausserdem löste der Zusammenprall ein weiteres Aufflammen von Schmerz in meinem Oberkörper  aus, das mir beinahe ein leises Wimmern entlockt hätte.
„Kannst du nicht... Warte mal, Joelle?" Die Stimme kam mir eigenartig bekannt vor, weshalb ich mich trotzdem dazu überwand, hochzusehen. Tatsächlich, ich kannte die Person, die gerade vor mir stand. Es war niemand geringeres als  Linda Vermeulen. Meine ehemalige Reittrainerin.
Sie trug gewöhnliche  Kleidung und ihre typische weinrote Stalljacke, die sie auch damals, als ich noch bei ihr geritten war, immer getragen hatte.
„L...Linda?", stammelte ich verlegen, unsicher, ob ich nicht einfach umdrehen und weglaufen  sollte. Die Situation war mehr als peinlich. Immerhin hatte ich ihr damals nicht einmal mehr eine Nachricht hinterlassen. Ich war einfach  von einem Tag auf den andern nicht mehr gekommen.
In diesem Augenblick  wollte ich nur noch im Boden versinken. Mein Oberkörper brannte wieder wie Feuer und vor mir stand die Person, der ich gerade bis auf Sereina Pignatelli wohl am wenigsten gerne begegnet wäre. Möglichst unauffällig faltete ich meine Hände hinter dem Rücken, damit Linda nicht sehen  konnte, wie sie zuckten und sich verkrümmten.
Die Frau schob ihre rostbraunen Haare zurück unter die Kapuze, unter der sie bei unserem Zusammenstoss hervorgefallen waren. „Was für eine Überraschung, dich hier zu sehen! Seit vorletztem Frühling habe ich nichts mehr von dir  gehört, ich dachte, du seist weggezogen!", meinte sie, den Kopf schiefgestellt. War da ein leichter Vorwurf in ihrer Stimme?
„Aha", erwiderte ich hohl. Nachdem sie unsicher geblinzelt hatte, wurde mir klar, dass ich noch etwas hinzufügen musste, also sagte ich: „Nein, ich bin nicht weggezogen. Wohne immer noch in Birgte."
Linda nickte. „Ich habe jedenfalls gehört, wie sich das mit deinem Arm entwickelt hat. Schlimm. Deshalb war ich auch sehr überrascht, deinen Namen aus Ludgers Mund zu  hören. Du bist ja jetzt bei ihm in der Trainingsgruppe. Geht denn das überhaupt? Ich meine, nach einer zweijährigen Pause und mit dieser Einschränkung?"
Zuerst wusste ich nicht,  was ich sagen sollte. Ihre Miene war misstrauisch und ich kannte Linda nur zu gut. Sie ging nicht gerne Risiken ein, weder auf dem Pferd, noch mit ihren Schülern. Wenn es Anlass zur Beunruhigung gab, wählte sie den sichereren Weg. Deshalb konnte ich Gift darauf nehmen, dass sie sofort zu Ludger rennen und beantragen würde, dass ich noch vor dem ersten Training rausgeschmissen wurde, wenn ich ihr Anlass zur Beunruhigung gab.
„Was meinst du? Aha, das! Nein, das ist schon länger wieder gut. Ich bin gesund und ehrgeizig, das wieder aufzuholen, was ich verpasst habe!", erwiderte ich  mit überzeugter Stimme, vielleicht zu überzeugt. Linda schien nicht voll zufrieden zu sein, fragte jedoch nicht weiter nach.
„Ich...ähm...muss zurück  zu den andern. Sie suchen mich bestimmt schon!", redete ich mich raus  und hoffte so, dem Gespräch zu entkommen. „Okay! Man sieht sich! Ich komme die Tage sicher einmal in die Ludger Beerbaum Stables! Bis dann!",  verabschiedete sich Linda.
Erleichtert log ich, dass ich mich darüber freuen würde, und machte mich dann zügig zurück  zum Sandplatz. Charlotte winkte mir von weitem.
„Mann, Joelle, wo warst  du? Wir dachten schon, jemand hätte dich entführt!", schnaubte sie und  schob mich mit sich. Martin hatte die Hände in die Taschen seiner  Jogginghosen gesteckt und Alessia sah mir beinahe etwas finster  entgegen. Ludger schien froh zu sein, mich zu sehen. „Gott sei Dank, da bist du ja endlich!", stöhnte er, die Hand an der Stirn. „Sorry, hab mich verlaufen", nuschelte ich, meine Arme immer noch hinter dem Rücken.

Ludger fuhr uns zurück  zu den LB Stables und lud uns noch zu einem kurzen Snack im Reiterstübchen der grossen Halle ein. Er hätte noch Wichtiges mit uns zu besprechen. Wir waren schon ganz durchgefroren, als er uns ins Innere des geheizten Räumchens lotste und uns bat, uns zu setzen.
Jeder bekam ein Glas  Wasser und die Aufforderung, sich an den Keksen in der Mitte des  Tischchens zu bedienen. Martin und Charlotte griffen zu, ohne dass man sie zweimal darum bitten musste, ich und Alessia jedoch hielten uns  zurück. Mir war immer noch ganz flau von der Attacke vorhin und Alessia  fixierte mich nach wie vor düster. Warum wusste ich nicht, also versuchte ich, es zu ignorieren.
Ludger begann, zu  sprechen. „Also. Heute waren wir in Laggenbeck, weil ich euch zeigen  wollte, was in wenigen Wochen unser Alltag sein wird. Ich trainiere euch hier in Riesenbeck, um aus euch die Champions von Morgen zu machen, damit nächstes Jahr ihr dieses Springen gewinnen werdet. Ganz  grundlegend – morgen will ich, obwohl Sonntag ist, dass ihr alle pünktlich um neun Uhr hier steht. Die erste Trainingsstunde werden alle  zusammen absolvieren, danach wird je nach Möglichkeit geschaut, ob ihr alleine oder mit andern zusammen Springstunden habt. Diese werden ich, Linda Vermeulen oder mein geschätzter Philipp Weishaupt führen. Abwesenheit wird sich direkt in den Resultaten der Turniere zeigen, die ihr reitet. Am 23. Mai findet in Herford ein L-Springturnier statt,  sozusagen als Einstieg. Dieses wird das erste sein, das ihr reitet. Als eine Art Zwischenprüfung habe ich die Hagen Future Champions am 16. Juni vorgesehen, ein M**-Springen. Einige der besten Reiter Deutschlands  werden dort teilnehmen, also will ich bis dahin hart trainieren, um gute Platzierungen zu holen. In Hagen werden jedoch nur Joelle und Alessia starten können, da nur sie zwei das Reitabzeichen 2 besitzen. Charlotte und Martin werden dieses in nützlicher Frist auch machen müssen, bis dahin könnt ihr nur die Springen bis Niveau L reiten. Ist soweit alles klar?"
Wir alle drei nickten. Die Hagen Future Champions. Davon hatte ich schon gehört. Es war ein kniffliges Turnier, an dem die  Nachwuchselite Deutschlands um Ruhm und Anerkennung bei den wichtigsten  Trainern des Landes buhlten.
Und Herford am 23. Mai. Das war bereits in einem Monat. L war überhaupt nicht schwierig, ich war bereits mehrere solcher  Turniere geritten. Aber nach zwei Jahren Pause? Würde ich das hinkriegen? Würde ich überhaupt so lange durchhalten, ohne dass Ludger irgendwie Verdacht schöpfte?

Nachdem Ludger uns entlassen hatte, wurde ich von Alessia noch zur Seite gezogen. Ihr  Ausdruck war noch so finster wie vor einer guten halben Stunde, den  Grund dafür kannte ich immer noch nicht.
Sie sah mir über die Schulter, um zu sehen, ob jemand zuhörte, dann wandte sie sich an mich. „Hör zu,  Joelle, ich kenne dich kaum und ich will, dass dir eines klar ist. Du scheinst in Ordnung zu sein, aber ich kann es nicht ausstehen, wenn  Leute auf Vorteile aus sind. Und jetzt mal ehrlich, es ist offensichtlich, dass Ludger dich jetzt schon bevorzugt. Woran liegt das?", murrte sie. Ihre graublauen Augen fixierten mich kalt und mich fröstelte es.
„Was meinst du? Wie bevorzugen?", erwiderte ich wahrheitsgemäss verwirrt. Alessia schien genervt zu sein. „Weshalb zum  Beispiel warst du am Donnerstag schon hier und bist geritten? Das würde ich nicht Chancengleichheit nennen, was du praktizierst. Ich will dich wirklich nicht wütend machen und es ist ja noch nicht so viel gewesen, aber ich warne dich einfach. Das kommt bei mir nicht gut an und bei den andern tut es das bestimmt auch nicht."
Mir fiel der Groschen. Das meinte sie also. Ich atmete tief ein und wieder aus. „Ach, Alessia. Ich  war nur hier, weil ich nach Zidane sehen wollte. Der Braune, der beim  Zeitspringen wegen Sereina gestürzt ist. Er hat sich den Vorderlauf verstaucht und ich habe mir Sorgen gemacht. Dann hat Ludger mich  gefragt, ob ich nicht reiten wolle. Sei ehrlich, wenn er dich das gefragt hätte, hättest du doch auch ja gesagt, oder?", erklärte ich. Ich  verstand sie schon, im umgekehrten Fall wäre ich auch misstrauisch geworden. Gerade deshalb war es mir wichtig, das Ganze aufzuklären.
Das  Mädchen verzog das Gesicht. „Oh, tut mir Leid, das wusste ich nicht.  Ich wollte dich nicht verurteilen", entschuldigte sie sich etwas missmutig, aber ehrlich. „Schon gut!", winkte ich ab.

Während dem ich auf  meinen Vater wartete, schrieb ich eine Nachricht an Ronja. Sie hatte  mich direkt nach dem Turnier kontaktiert und gefragt, wie es mir so ging  und ob ich Lust hätte, mal mit ihr ausreiten zu gehen. Ich sagte zu und  fragte sie auch, wie es ihr so ging. Dann schrieb ich noch etwas Aufmunterndes wegen ihrer schlechten Runde in Laggenbeck.
Die Antwort  kam postwendend zurück. Ronja freute sich darauf, mich wieder einmal zu  treffen. Das entlockte mir ein Lächeln. Irgendwie schienen all die  Personen aus meinem alten Leben jetzt wieder zu mir zurückzufinden. Sereina, Ronja, Linda... All die alten Bekannten.

Keep Dreaming - Ich werde reitenWhere stories live. Discover now