Die Überraschung

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Die Nacht war mehr als eine Tortur gewesen. Eigentlich konnte ich auf allem schlafen. Betten, Sofas, Matten, sogar Strohballen, wenn es sein musste. Aber Kleinbusse gehörten wohl nicht zu diesen Dingen.
Als es draussen endlich so hell war, dass ich aufstehen konnte, und ich mich aufsetzte, knackste es von allen Seiten und ich konnte mir ein Stöhnen nicht verkneifen. Andrea hatte darauf bestanden, dass wir die Nacht hier verbrachten, da Emilie gesagt hatte, sie hätte noch „eine kleine Überraschung" für uns. Da sie erst heute Zeit hatte, hatten wir wohl oder übel noch hier bleiben müssen. Ein weiterer Tag auf dem Gelände konnte schliesslich auch nicht schaden.
Andrea schien ähnlich erschlagen wie ich, denn sie murrte lautstark, als sie ihren Rücken durchstreckte. „War 'ne Scheissidee", nuschelte sie leise und rutschte mit der um die Schultern gewickelten Decke zur Hintertür des Wagens.
Hier drin war es schon kalt, aber der Luftzug, der uns entgegenwehte, als Andrea die Tür öffnete, war fast schon frostig. Froh, dass ich in meinen Kleidern übernachtet hatte und nicht in einem Pyjama, das ich jetzt sonst hätte ausziehen müssen, schwang ich meine Beine aus dem Kleinbus und packte mit der linken Hand meine blauen Vans.
„Ich hoffe für dich und Emilie, dass sie was Cooles auf Lager hat, sonst lynche ich euch persönlich", knurrte ich, während dem ich in die Schuhe schlüpfte. „Ne, das wird cool, wirst schon sehen!", versicherte Andrea und grinste verschmitzt. Sie zog eine blonde Augenbraue so weit hoch, dass eine karmesinrot gefärbte Haarsträhne darüberfiel und den Kontrast deutlicher sichtbar machte. Ich hatte ihr vorgeschlagen, die Augenbrauen auch noch zu färben, aber das hatte sie nicht gewollt. War ihre Entscheidung, sah einfach blöd aus. Natürlich sagte ich ihr das nicht.
Ich zuckte mit den Schultern und murmelte ein ‚Wenn du meinst'. Gähnend schnürte ich mir die Schuhe. Früh aufstehen war einfach nicht mein Ding. Schon gar nicht bei den Temperaturen und wenn ich vorher in einem Kleinbus geschlafen hatte. So toll es auch war, in Dortmund zu sein, ich freute mich jetzt schon darauf, wieder nach Hause zu kommen.
„Kannst du mir nicht einfach sagen, was es ist?", quengelte ich, während dem ich meine Arme in meine graue Schlabberjacke zwängte, an der noch die Reste von Stroh und grünem Pferdesabber hingen. „Dann wär's doch keine Überraschung mehr!" Andrea grinste, was in ihrem Gesicht die Fältchen erscheinen liess, die man sonst nicht sah. Andrea war Mittvierzigerin, aber keine dieser langweiligen Mittvierzigerinnen, sondern eine, die noch genauso viel Pepp hatte, wie eine Zwanzigjährige. Wahrscheinlich mochte ich sie deshalb so sehr.
Es waren glückliche Zufälle gewesen, die uns zusammengeführt hatten. Ihr siebenjähriger Sohn war wegen Verdacht auf juvenile Arthritis in der rheumatologischen Station gewesen und hatte sich ein wenig gefürchtet. Da ich im Warteraum neben den beiden gesessen hatte, hatte ich irgendetwas sagen müssen. Also hatte ich dem kleinen Simon davon erzählt, was die Ärzte vermutlich machen würden. Wie die Untersuchungen normalerweise abliefen, und dass keine der Methoden auch nur im Geringsten schmerzhaft oder gefährlich war.
„Siehst du, die junge Frau hat auch keine Angst!", hatte Andrea aufmunternd lächelnd zu ihrem Jungen gesagt. „Na ja, es ist okay, Angst zu haben, aber man muss sich selbst immer bei der Nase nehmen und die Zähne zusammenbeissen! Du bist sicher sehr mutig, Simon, deshalb denke ich, dass du das auch schaffst, richtig?" Der Junge hatte feierlich genickt, und dann hatte der Arzt auch schon seinen Kopf rausgestreckt und Kowalski gerufen. Andrea war mit ihrem Sohn reingegangen und, nachdem ich meine Routineuntersuchung gehabt hatte und mich nochmals setzen wollte, um auf den Bus zu warten, wieder rausgekommen.
Schon zum Gehen gewandt hatte sie sich umgedreht, mich gefragt, ob ich auch aus der Gegend sei und, kaum hatte ich mit Ja geantwortet, mir ihre Telefonnummer und Adresse zugesteckt und mich aufgefordert, sie einmal zu besuchen. Sie würde den besten Schokoladenkuchen backen, den man im ganzen Münsterland kriegen konnte. Das war der Beginn unserer Freundschaft gewesen.

Andreas Schwester Emilie stiess zu uns, als wir uns gerade hinter dem Kleinbus die Zähne putzten. Gleichzeitig versuchte ich, die Sabberspur an meiner linken Wange zu entfernen. „Hey, ihr beiden! Beeilt euch ein bisschen, sonst verpasst ihr die Überraschung!", bellte sie in ihrem üblichen strengen Ton. Dieser Ton verschaffte ihr sowohl bei Menschen, als auch bei Pferden immer den genügenden Respekt, den sie mit ihrer kleinen Körpergrösse sonst nicht bekommen würde.
„Aye, Sir!", erwiderte ich und salutierte. Tief drin war Emilie ein herzensguter Mensch, das wusste ich, aber die taffe Frau, die sie aussenrum war, überwiegte meistens. Unter ihren Augen sah ich Ringe, die mir sagten, dass sie gestern Abend wohl noch lange gefeiert haben musste. Als Pferdepflegerin des glücklichen Siegers von gestern Nachmittag war es ja beinahe Pflicht, mitzufeiern. „Was ist das denn jetzt für eine Überraschung?", fragte ich erneut und hoffte, diesmal eine Antwort zu bekommen. Emilie seufzte.
„Eine, die du ohne mich nie beschert bekommen hättest. Und jetzt nimm die Zahnbürste aus dem Mund und komm, Michael fährt in zwanzig Minuten los. Dann ist das Einzige, was du von ihm je aus der Nähe sehen wirst, der Staub von seinem Transporter und sein Gesicht im Fernsehen!" Mir klappte die Kinnlade runter. „Michael Jung? Der Michael Jung?", staunte ich ungläubig. Andrea grinste, Emilie nickte genervt. „Schon vergessen, für wen ich arbeite?"
Nur wenige Minuten später gingen wir zügigen Schrittes zwischen den seit gestern deutlich kleiner gewordenen Menschenmengen hindurch. Emilie lotste uns sicher über das Gelände, als wäre ihr jede Kurve vertraut. Sie schien hier in ihrem Element zu sein. Bereits nach kurzer Zeit schwirrte mir der Kopf und ich hatte keine Ahnung mehr, wo wir waren. Aber irgendwann kamen wir sicher bei einem riesigen Transporter an, der offenbar unser Ziel war.
In einer provisorisch eingezäunten kleinen Weide graste Chelsea, die braune Stute, mit der Michael Jung gestern noch den Grossen Preis gewonnen hatte. Als sie uns kommen hörte, hob sie den Kopf und wieherte leise. Emilie ging zum Zaun und tätschelte der Stute kurz den schlanken Hals. „Michael, bist du hier?", rief die junge Frau und stellte sich etwas auf die Zehenspitzen, als könnte sie so den Transporter besser überblicken. Es kam keine Antwort. „Ich gehe ihn kurz suchen, okay?", schlug Emilie vor und rümpfte die Nase. Mit dem typischen Stakkato ihres Ganges entfernte sie sich von uns und ging um den Transporter herum weg. Wir warteten, aber es vergingen die Minuten, ohne dass jemand zurückkam.
Schliesslich tat Andrea einen Schritt auf mich zu und meinte: „Hey, Joelle, wäre es okay, wenn ich kurz eine Toilette suchen würde? Dauert nur fünf Minuten!" Ein Stich fuhr durch meine Brust. Sie wollte mich hier alleine lassen? Ich zwang mich zu einem zögerlichen Nicken, obwohl es mir vollkommen widerstrebte, hier alleine stehen zu bleiben. Was, wenn jemand kam und mich fragte, was ich hier bei diesem zehntausende Dollar teuren Pferd machte? Was, wenn sie mich nicht mehr fand?
Chelsea hatte sich brummelnd wieder dem Gras zugewandt und beachtete Andrea gar nicht, als sie ebenfalls wegging. Mist. Ein klein wenig nervös wippte ich auf den Fussballen. Als eine kühle Brise meine dunkelbraunen Haare packte, fröstelte ich und schalt mich nun doch dafür, nicht die dickere Jacke mitgenommen zu haben. Um mich abzulenken, nahm ich mein Handy hervor und machte ein Foto von der fressenden Chelsea. Die Stute schnaubte, als hätte sie das bemerkt. Ich ging auf Instagram und postete das Foto.

joellehannah_engel.equestrian

Zweiter Tag beim CSI4 in Dortmund – habe gerade das Siegerpferd getroffen! 🐴 Vielleicht kommt der Reiter auch noch dazu

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Zweiter Tag beim CSI4 in Dortmund – habe gerade das Siegerpferd getroffen! 🐴 Vielleicht kommt der Reiter auch noch dazu. #luckyone #michaeljung
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soy_alma: Voll cool! Bist du drauf geritten? 😜

Eigentlich mochte ich Instagram nicht sonderlich, aber es war für mich ein tolles Mittel, meine Erinnerungen schön geordnet zu behalten. Ein Schussel wie ich verlor Fotos oder löschte sie sonst aus Versehen.
Gerade, als ich ein Bild meiner Schulfreundin Alma anschauen wollte, tippte mir jemand von hinten räuspernd auf die Schulter. Erschrocken fuhr ich herum und blickte in ein Gesicht, das ich eigentlich nie wieder hatte sehen wollen.

Keep Dreaming - Ich werde reitenWhere stories live. Discover now