Ich will reiten

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Kaum war ich zurück im sicheren Stall abgestiegen, packte Andrea meine Schultern und schüttelte mich. „Mensch, Joelle, das war der Wahnsinn! Sag mir noch einmal, dass du nicht springen kannst! Das war total irre!", jauchzte sie und liess mich wieder los.

Verwirrt trat ich zurück und rieb mir die Schulter. „Ach, ich habe mir vor Angst fast in die Hose gemacht", winkte ich leise ab. Mir war immer noch komisch zumute, in meinem Magen rumorte es. Andrea seufzte. „Mensch, Joelle, hast du das nicht gespürt? Du hast dort draussen Flügel bekommen!"

Ich runzelte die Augenbrauen. „Was willst du damit sagen...?", fragte ich zögerlich. Worauf wollte sie hinaus? Das dort draussen war gefährlich gewesen. Es hätte nicht passieren sollen und um ein Haar wäre alles schief gegangen. Wir hätten stürzen können. Das war nichts, auf was man stolz zu sein hatte. Das war etwas, was ich nie wieder erleben wollte.

Andrea raufte sich die Haare. „Weisst du was, geh rein und mach dir 'ne Tasse Tee, von mir aus kannst du auch Kekse aus dem Schrank nehmen. Ich mach die beiden Tropfteppiche hier fertig und komm nach", lenkte sie ab.

Erleichtert nahm ich das Angebot entgegen und humpelte auf steifen Beinen aus dem Stall hinaus, durch den Regen und ins warme Haus hinein. Mir schlug der altbekannte Duft von Lavendelkissen, altem Holz und Apfelringen entgegen. „Hallo!", rief jemand von oben herab. Bestimmt Simon, der keine Lust hatte, aus dem Zimmer rauszukommen. Ich rief etwas zurück und ging dann in die Küche.

Erst dort merkte ich, dass ich am ganzen Körper zitterte. Vor Kälte, vor Anspannung, vor Nervosität, vor Schwäche. Ich fühlte mich wie erschlagen, als hätte ich einen Marathon hinter mir.

Erschöpft setzte ich mich auf die Arbeitsplatte, nahm eine Pfanne, füllte Wasser hinein und stellte sie auf die Herdplatte. Mit etwas Geschick musste ich nicht einmal aufstehen, um eine Tasse aus dem Schrank zu holen und mir einen Teebeutel mit Geschmack Kirsche zu angeln.

Andrea kam ins Haus gestapft, als ich gerade einen Löffel Zucker in meinen Tee gab. „Da ist noch etwas heisses Wasser für dich übrig", bemerkte ich und rutschte von der Theke, um mit meiner Tasse zum Sofa zu gehen. Das Porzellan wurde schnell warm und ich genoss das Gefühl an meinen Fingern, doch dann wurde es zu heiss und ich musste sie auf der Sofalehne abstellen. Andrea murmelte etwas, das ich nicht verstand, nahm sich auch einen Beutel und füllte Wasser in eine Tasse. Dann kam sie zu mir rüber und setzte sich ebenfalls. Ihre kurzen karmesinroten Haare klebten ihr am Kopf und das Gesicht hatte sie zu einer nachdenklichen Grimasse verzogen.

„Hör zu, ich muss mit dir reden", begann sie beinahe zögerlich. So kannte ich sie gar nicht. Normalerweise war sie immer selbstbewusst und gerade heraus. Verdutzt zog ich die Knie an und nahm einen Schluck von meinem Tee. Zu heiss, ich verbrühte mir die Zunge. Dennoch nahm ich noch einen und achtete auf das Gefühl, als das kochende Getränk meinen Hals hinunterlief. Oben erklang Musik. Ja, definitiv Simon.

Andrea atmete tief ein. „Joelle, ich war schrecklich selbstsüchtig. Als ich dich dort im Krankenhaus überredet habe, wieder zu mir zu kommen. Das war nicht richtig. Ich hätte dir zureden und dich davon überzeugen sollen, bei Ludger Beerbaum zu bleiben", stellte sie fest.

Davon war ich mehr als überrascht. Was redete sie da? „A...aber Andrea, du hast mich gar nicht überredet! Es war schon vorentschieden und ich...ich hätte so oder so wieder zu dir wollen", stammelte ich. Meine Zunge verknotete sich selbst, weil ich so verwirrt war.

Andrea schüttelte den Kopf und klagte: „Nein, du hörst mir nicht zu, Joelle. Ich wollte doch, dass du wieder zu mir kommst! Ich habe darauf gewartet, dass du zu mir zurückkommst, seit du mir gesagt hast, dass du zu den LB Stables wechselst. Das war so selbstsüchtig, dass ich es selbst kaum fassen kann! Aber jetzt habe ich erkannt, wie falsch das war. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass du die Juniorengruppe verlässt. Du gehörst dorthin!"

Keep Dreaming - Ich werde reitenWhere stories live. Discover now