Das gibt's doch nicht!

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Ich konnte kaum fassen, wie gross mein Pech sein musste, als zwei vorwurfsvolle Augen aus einem mir nur allzu bekannten Gesicht hinabschauten. Ludger Beerbaum. Schon wieder. In mir stieg das Bedürfnis auf, mich noch auf der Stelle zu vergraben.
„Entschuldige, aber was machst du hier?" fragte der Springreiter misstrauisch und für einen Moment hoffte ich, dass er sich nicht mehr an mich erinnerte. Aber dann wurde sein Blick eigenartig nachdenklich und mir wurde klar, dass sich meine Hoffnungen soeben in Luft aufgelöst hatten. „Warte mal, bist du nicht das Hot-Dog-Mädchen von gestern?", lachte er verwirrt und kratzte sich an den kurzen silbernen Locken. „Das Hot-Dog-Mädchen", echote ich niedergeschlagen. „Ja, ich fürchte, das bin ich."
Als Ludgers Blick zu Chelsea zuckte, fügte ich hastig hinzu: „I...ich bin keine Pferdediebin oder so, ich gehöre eigentlich zu zwei andern. Emilie Winters und Andrea, Emilie arbeitet bei Michael Jung, deshalb..." Ludger nickte. „Ja, verstehe. Keine Pferdediebin also."
Nach einer peinlichen Pause hielt er mir schliesslich etwas zögerlich seine Hand hin. „Tut mir leid, dass ich so unfreundlich war, Ludger Beerbaum!", stellte er sich vor. Ich ergriff die Hand mit zitternden Knien und wollte zuerst Ich weiss genau, wer Sie sind! sagen, entschied mich dann aber dafür, dass das mehr als seltsam wäre und erwiderte: „Joelle Engel, ich bin ein Riesen-Fan!" In mir drin hörte ich das Geräusch von jemandem, der sich mit der flachen Hand auf die Stirn klatscht. Na ja, immerhin hatte ich ihn nicht angekreischt, oder? Aber die Begegnung mit meinem grössten Vorbild hatte ich mir - schon wieder - etwas anders vorgestellt. Der Springreiter grinste verlegen. „Das glaube ich dir auf's Wort, es passiert nicht alle Tage, dass jemand sich so hartnäckig an mich hält!" Ich spürte, wie meine Wangen puterrrot wurden. „Nein, nein! So ist das nicht, das war mehr Zufall!", beteuerte ich hastig. Das Letzte, was ich wollte, war, dass mein Idol glaubte, ich würde ihn stalken. Ludger wehrte lachend ab. „Schon gut, das war ein Witz!"
Nervös versuchte ich ebenfalls, zu lachen, aber es gelang mir nicht so richtig. Um das Thema zu wechseln, fragte ich: „Sie sind gestern nicht geritten?" Ludger schüttelte den Kopf. „Nein, ich war nur hier, um meinen Landsmännern zuzuschauen und vielleicht ein wenig Glück zu bringen." „Sie reiten in letzter Zeit immer seltener bei Turnieren mit, oder?", bohrte ich nach. Ich hoffte jedes Mal, wenn ein Turnier ausgestrahlt wurde, egal ob in Deutschland oder irgendwo sonst auf der Welt, dass er mitritt. In letzter Zeit wurde ich immer öfters enttäuscht. Kurz sah der Springreiter in den Himmel hoch und ich fürchtete, ihm irgendwie auf die Füsse getreten zu sein. Aber er antwortete in komplett lässigem Ton: „Das hast du gut beobachtet, denn es stimmt. Interessierst du dich für den Springsport?" Meine Hände wurden kalt und ein heisses Kribbeln stieg meinen rechten Arm hoch, wie immer, wenn ich daran erinnert wurde. Ein Kloss machte sich in meinem Hals breit, als ich versuchte, Worte zu finden, die nicht seltsam klangen. „Ja, sehr!", presste ich schliesslich hervor. In meinem Kopf erschienen Bilder. Ein Hindernis, das ich zwischen den Ohren eines Pferdes sah. Mein strahlendes Gesicht auf dem Foto, das Paps nach dem Bestehen des Reitabzeichens gemacht hatte. Dann sah ich mich selbst, wie ich ein Pferd am Strick führte. Ich schloss kurz die Augen, versuchte, das Bild aus meinem Kopf zu verbannen. Vor meinem inneren Auge wurde es schwarz, aber in meinen Ohren hallte ein Knall, dann ein Wiehern, ein Schrei und ein Knacken nach. Das Geräusch liess meinen Körper kurz erbeben und ich glaubte für einen Moment, vor Ludger in die Knie gehen zu müssen. Aber ich tat es nicht und ehe ich es mir versah, war es vorbei und meine Sicht klärte sich wieder.
„Das ist toll! Von wo kommst du denn?", wollte der Springreiter fachmännisch wissen. Seine Worte holten mich vollends wieder in die echte Welt zurück. Als ob. Er redete immer noch mit mir? Als ich meinen Mund öffnete, schien es, als hätte ich vergessen, wo ich wohnte. „Ähm, Birgte. Bei Hörstel", brachte ich schliesslich hervor. Als wüsste er nicht selbst, wo Birgte war. Immerhin wohnte er direkt daneben.
Ludger machte grosse Augen, wirkte ehrlich interessiert. „Was für ein Zufall! Warst du in diesem Fall schon einmal auf Riesenbeck International? Oder in den LB Stables?" Peinlich berührt schüttelte ich den Kopf. Ich wohnte seit ich fünf war in der Nachbarschaft des einst besten Springreiters der Welt, aber seine Ställe hatte ich bisher immer nur von aussen gesehen. Von Birgte aus war es nur ein Katzensprung bis nach Riesenbeck, doch ich hatte mich noch nie getraut, meine Mutter zu fragen, ob ich die Ludger Beerbaum Stables oder zumindest ein Late Entry auf Riesenbeck besuchen könnte. Weshalb wusste ich selbst nicht. Es hatte sich irgendwie immer sicherer angefühlt, dieses Paradis aus der Ferne zu bewundern.
Erneut kratzte der Mann sich am Kopf und wirkte recht überrascht. Vielleicht, um es nicht so wirken zu lassen, als hätte er mich nur aus geschäftlichen Gründen danach gefragt, fuhr er fort. „Nun, wenn du in Birgte wohnst und dich für den Springsport interessierst, hast du vielleicht von meinem neuen Projekt gehört. Linda Vermeulen unterstützt mich dabei, die könntest du sogar kennen." Linda Vermeulen. Der Name löste in mir erneut einen Schwall aus Erinnerungen aus. Ich spürte, wie meine Hände schwitzig wurden und mir wurde schwindlig. Die kalte Brise nahm ich nicht einmal wahr. Es war einfach zu viel. Vermeulen. Der Ort, an dem sich so vieles geändert hatte. Ich hatte den Namen aus meinem Gedächtnis verbannen wollen, hatte gedacht, so wäre es besser.
Ludger schien meinen erneuten Gefühlsumschwung nicht zu bemerken. In all den Jahren war ich gut im Verstecken geworden. „Seit diesem Winter habe ich den Plan ins Auge gefasst, eine kleine Juniorengruppe auf den LB Stables aufzubauen. Quasi als Förderung von Nachwuchstalenten. Es soll jungen Reitern, egal aus welchen Schichten, die gleichen Möglichkeiten geben, in den Springsport einzusteigen. Diesen April findet ein Vorreiten statt. Wenn du Lust hast..." Der Springreiter beendete den Satz mit einem Schulterzucken.
Oh mein Gott, war das gerade eine Einladung gewesen? Das gibt's doch nicht! All die negativen Gefühle verschwanden aus meiner Magengrube und wichen etwas, das ich seit zwei Jahren nicht mehr gespürt hatte. Es riss mich zurück in eine Zeit, in der ich es noch für selbstverständlich gehalten hatte, jede Woche in den Springsattel zu steigen. Eine Zeit, in der ich Feuer und Flamme dafür gewesen war, über Parcours jagen zu dürfen. In mir erwachte das alte Feuer wieder und frass sich durch die schier erloschene Glut.
Nachdem ich meine Therapien ein Jahr lang brav absolviert hatte und keinen Sinn mehr darin sah, weil ich mich immerhin wieder normal bewegen konnte, hatte ich lange nach einer Gelegenheit gesucht, wieder springen zu dürfen. Es hatte nie geklappt, immer war es entweder unbezahlbar gewesen, oder die Trainer hatten Angst davor gehabt, eine Behinderte über einen Oxer zu schicken. Als wäre ich ein Porzellanpüppchen. Aber ich war kein verdammtes Porzellanpüppchen.
„Ich...ich würde gerne kommen, aber...", stammelte ich zögerlich. Ludger unterbrach mich. „Falls du dir Sorgen um den Preis machst, kann ich dich beruhigen. Ich und Linda Vermeulen haben uns mit unserem Projekt der ehrlichen Weiterbildung junger Talente verschrieben. Geld soll kein Faktor sein, wenn es um den nächsten Grand-Slam-Gewinner oder Olympiasieger geht. Die Juniorengruppe wird gesponsert, deshalb sollten finanizelle Fragen dich nicht aufhalten." Seine Worte klangen ein bisschen so, als hätte er sie einstudiert, und sein Lächeln am Schluss sollte wohl gewinnend wirken. Aber in meinen Ohren klangen sie wie Musik. Die schönste verdammte Musik, die ich seit Monaten gehört hatte. Doch irgendwie hielt mich etwas zurück, mich der Freude hinzugeben. Ein leises Flüstern, das mich daran erinnerte, dass es einen Haken geben musste, denn das war alles zu surreal. Hatte es nicht genug junge Leute, die springen wollten? War es das? Suchte er einfach nur verzweifelt nach Schülern, die er in eine Gruppe stopfen konnte? Anders konnte ich mir dieses Gespräch nicht erklären.
„Haben Sie so einen dringenden Bedarf an Reitern?", lachte ich und versuchte, nicht spöttisch zu klingen. Einen so dringenden Bedarf, dass er mich fragte? In meiner Stimme schwang unverkennbar Hoffnung mit. In diesem Moment hörte ich Schritte hinter mir. Es war Emilie, Michael Jung im Schlepptau. „Ah, Ludger! Konntest es wohl nicht lassen, dir den Grossen Preis anzusehen?", begrüsste der Sieger des gestrigen Turniers den andern Springreiter, als wäre ich Luft. „Hallo, Michael! Ich wollte dir noch schnell persönlich gratulieren, bevor ich wieder zurück nach Riesenbeck fahre. Spitzenpferde trainieren sich nicht von selbst." Die beiden Männer schüttelten sich die Hände und ich stand leicht dümmlich daneben. Wohl hatte Emilie erwartet, dass ich komplett aus dem Häuschen wäre, aber nachdem ich für ganze fünf Minuten mit Ludger Beerbaum gesprochen hatte, gab es nichts mehr, was das toppen konnte. „Ähm, Michael, ich wollte dir nur kurz jemanden vorstellen. Das ist Joelle Engel, sie war gestern mit meiner Schwester unter den Zuschauern", versuchte sie schliesslich, ihren Chef dazu zu bewegen, seine Aufmerksamkeit, die ungeteilt Ludger Beerbaum gegolten hatte, mir zuzuwenden.
Ich wurde anschliessend mit einer Autogrammkarte, auf der sowohl Michael, als auch Ludger unterschrieben hatten, von Andrea dazu gedrängt, wieder mit ihr zurück zum Kleinbus zu gehen, damit wir danach den Heimweg antreten konnten. Über die A1 hätten wir ein wenig mehr als eine Stunde, wenn wir in keinen Stau kamen. Während dem wir nach Hause fuhren, steckte ich mir Kopfhörer in die Ohren, um den lauten Motor des Wagens zu übertönen, und googelte nach einem Flyer fürs Vorreiten in den LB Stables. Nach wenigen Minuten wurde ich fündig - das Thema war in allen Medien - und las mich rein.


Frustriert seufzend schloss ich den Tab wieder und lehnte meinen Kopf zurück

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Frustriert seufzend schloss ich den Tab wieder und lehnte meinen Kopf zurück. Das war doch einfach eine Nummer zu gross für mich, so genial es auch klang. Ich musste, wenn schon, wieder klein anfangen. Schliesslich war ich zwei Jahre lang überhaupt nicht mehr gesprungen. Ich würde mich nur blamieren. Mich zur Lachnummer machen. Ausgeschlossen. An diesem Vorreiten konnte ich nicht teilnehmen, es war ausserhalb meiner Liga.
Und dennoch öffnete ich den Tab erneut und kopierte mir die für die Anmeldungen eingerichtete Email-Adresse in die Notizen. Für alle Fälle. „Falls bis zum 20. März noch ein Wunder geschieht", dachte ich mir, über meine eigene Naivität spottend. Auf Wunder hatte ich schon viel zu lange gewartet, um noch richtig daran zu glauben.

Keep Dreaming - Ich werde reitenWhere stories live. Discover now